„Lasset alle Menschen eure Güte erfahren!“

Geliebte Gottes!

„Freut euch allezeit im Herrn!“, so befiehlt uns der Apostel. Daß uns Freude befohlen wird und daß man sie auch tatsächlich befehlen kann, mag uns auf den ersten Blick verwundern, ja sogar verdächtig vorkommen. Diktatoren befehlen die Freude. Wer nicht mitmacht, der ist verdächtig, daß er sich unter dem Regime nicht wohl fühlt. Das Ergebnis ist geheuchelte Freude. Ungläubige Weltmenschen empfehlen die Freude, um von ihrer geistigen Armut abzulenken. Die Parole lautet: „Freut euch des Lebens, denn morgen sind wir tot!“ Das Ergebnis ist Lärm, keine wahre Freude. Denn Freude ist immer etwas Zweites. Es gibt – sofern es mit rechten Dingen zugeht – keine unbegründete, bedingungslose Freude auf Knopfdruck. Richtig freuen kann sich der Mensch nur, wenn es einen Grund zur Freude gibt. Dieser Grund ist das erste, die Voraussetzung. Die Freude selbst ist das Zweite, die Reaktion auf den Anlaß. Weil es aber nicht immer Grund zur Freude gibt, wie wir aus eigener Erfahrung wissen, ist es höchst sonderbar, wie der hl. Paulus die Freude befehlen kann und dann auch noch, daß wir uns „allezeit“ freuen sollen. Wie ist das zu erklären?

Gewiß, Gründe sich zu freuen gibt es unzählige. Sie alle lassen sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Die Freude rührt stets daher, daß man hat, was man liebt. Die Freude ist die Frucht der Liebe. Die Empfindung der Freude ist die Reaktion auf die Anwesenheit einer geliebten Person oder Sache, bzw. die Hoffnung auf deren baldigen Besitz. So freuen sich die Kinder dieser Tage auf das Weihnachtsgeschenk; der Freund auf die gemeinsame Zeit mit dem Freunde; die Mutter auf den aus der Ferne heimkehrenden Sohn; die junge Dame an der Gegenwart ihres Verehrers. Die Freude ist stets die Frucht der Liebe.

Wurzel der christlichen Freude

Aus diesem Zusammenhang wird auch schnell ersichtlich, warum der hl. Paulus den Christen die Freude befehlen kann. Denn der Christ ist verpflichtet zur Liebe. Zuallererst zur Gottesliebe. Deshalb fügt der Apostel hinzu „Freut euch allezeit – im Herrn“! Darin besteht das erste Hauptgebot: „Du sollst den Herrn deinen Gott lieben“. Der Christ ist verpflichtet Gott zu lieben; mit Ihm vereinigt zu sein durch das Liebesband der heiligmachenden Gnade. Wenn dasselbe durch die läßliche Sünde beschädigt oder gar durch eine Todsünde zerrissen sein sollte, dann ist es in dieser dritten Adventswoche höchste Zeit zu bereuen und sich mit Gott im Bußsakrament auszusöhnen. Die Quatembertage rufen uns dazu auf, unsere Freundschaft mit Gott zu festigen, indem wir uns dem Gebrauch materieller Dinge, der Speise und anderer sinnlicher Genüsse, enthalten, um unseren Geist leichter zu Gott aufschwingen zu können, in dem wir uns freuen.

Der hl. Augustinus sagt: „Der Herr ist nahe! Zur Freude ruft der Apostel auf, zur Freude an Gott, nicht an der Welt. Wie niemand zwei Herren dienen kann, so kann auch niemand seine Freude zugleich an der Welt und in Gott suchen. In dem Maße, wie die eine wächst, wird die andere abnehmen.“ Der Befehl zur Freude heißt uns also unsere Liebe zu ordnen, unsere Seele von toten Werken zu reinigen und unser Herz, durch die Loslösung vom Sinnlichen und Irdischen, auf die baldige Ankunft des Herrn am Weihnachtstag vorzubereiten. „Freut euch im Herrn – allezeit“, d.h. fortwährend und beständig soll unsere Freude in Gott sein. Ja, der Christ, der in der übernatürlichen Liebe des Gnadenstandes mit Gott vereinigt ist, hat beständig Grund sich zu freuen, weil der Geliebte dauernd in seinem Herzen wohnt. Mag es auch von außen her, noch so viele und schwerwiegende Gründe zur Traurigkeit geben, der mit Gott ausgesöhnte Mensch hat doch immer wenigstens einen Grund zur Freude. Einen Grund, der ihm nicht durch die Härten des Lebens genommen werden kann; einen Grund, an dem er sich allezeit freuen kann und freuen muß.

Äußerung der christlichen Freude

Die Freude braucht also einen Grund. Doch noch etwas muß zur wahren Freude hinzukommen. Sie muß sich auch nach außen kundtun. Sie muß sich äußern. Das ist das Dritte. Die Wirkung der Freude. Sie kann nicht allein für sich bleiben, sondern will sich anderen mitteilen. Daß damit nicht ein ständig aufgesetztes Freudestrahlen, eine fortwährende „Happyness“ oder ein stets vordergründiges „Gute-Laune-machen“ gemeint ist, geht aus einem weiteren Befehl des hl. Paulus hervor: „Laßt alle Menschen eure Güte erfahren, denn der Herr ist nahe.“ Das Liebesglück, das die Seele aus der übernatürlichen Vereinigung mit Gott in sich trägt, soll sich verströmen, soll sich ausdehnen auf den Nächsten. Und in der Tat sind gerade die Werke der Nächstenliebe ein Indikator dafür, ob unsere Gottesliebe echt ist, oder eine Täuschung. Eine Frömmigkeit nämlich, die keine Werke der Nächstenliebe hervorbringt, ist steril und damit auch keine Quelle der wahren Freude.

Daß es sich auch bei den Werken der Nächstenliebe um eine Pflicht handelt, geht ganz offensichtlich aus dem Urteilsspruch Christi hervor, wenn Er zum Weltgericht kommt und dabei die einen auf die rechte und die anderen auf die linke Seite stellen wird. Zu denen auf der rechten Seite wird Er sagen: „Kommt ihr Gesegneten meines Vaters, nehmt das Reich in Besitz, das euch bereitet ist seit Grundlegung der Welt. Denn Ich war hungrig, und ihr habt Mich gespeist; Ich war durstig, und ihr habt Mich getränkt; Ich war fremd und ihr habt Mich beherbergt; Ich war nackt, und ihr habt Mich bekleidet; Ich war krank und ihr habt Mich besucht; Ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen“ (vgl. Mt. 25, 31-40). Da werden die auf der rechten Seite Befindlichen erstaunt fragen: „Wann haben wir dich hungrig gesehen, oder durstig, oder fremd, oder nackt, oder krank oder im Gefängnis und haben deiner Not abgeholfen?“ Da wird der Herr antworten: „Wahrlich, Ich sage euch, was immer ihr einem dieser Meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr Mir getan.“ – Umgekehrt wird Er zu denen auf der linken Seite sprechen: „Weichet von Mir ihr Verfluchten in das ewige Feuer, das dem Teufel und seinem Anhang bereitet ist!“ Das sind schreckliche Worte! Aber warum werden die zur Linken Stehenden verdammt? Achten wir auf die Urteilsbegründung: „Denn Ich war hungrig, und ihr habt Mir nichts zu essen gegeben; Ich war durstig, und ihr habt mich nicht getränkt; ich war fremd und ihr habt mich nicht beherbergt; Ich war nackt, und ihr habt Mich nicht bekleidet; Ich war krank und im Gefängnis, und ihr habt mich nicht besucht.“ Auch diese werden erstaunt fragen: „Herr, wann haben wir Dich hungrig oder durstig oder fremd oder nackt oder krank oder im Gefängnis gesehen?“ Und Christus wird ihnen antworten: „Wahrlich, ich sage euch, was immer ihr einem dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr Mir nicht getan.“ Aus diesen ernsten Worten unseres Heilandes ergibt sich, daß das Gericht nach den Werken ergeht, und daß es zuerst die Werke der Barmherzigkeit sind, die in diesem Gericht zählen.

Die Werke der leiblichen Barmherzigkeit

Es wird uns bei der Ankunft des Herrn zum Gericht also nicht genügen, wenn wir sagen können: „Ich habe meinem Nächsten nichts Böses getan.“ Wir müssen dem Nächsten in seiner Not auch Gutes tun. Der Mensch kann nun auf zweierlei Weise in Not geraten. Einmal im Hinblick auf sein körperliches Wohl, ein anderes Mal hinsichtlich des Heiles seiner Geistseele. Deshalb unterscheidet man die Werke der leiblichen Barmherzigkeit von den Werken der geistlichen Barmherzigkeit.

Der Werke der leiblichen Barmherzigkeit sind sieben an der Zahl. Sechs hat der Herr bereits genannt: 1. Hungrige speisen, 2. Durstige tränken, 3. Nackte bekleiden, 4. Fremde beherbergen, 5. Gefangene erlösen und 6. Kranke besuchen. Als 7. Werk kommt noch hinzu – Tote begraben – wie es der ältere Tobias im Alten Testament getan hat. Diese Werke der leiblichen Barmherzigkeit sollen wir üben.

Freilich leben wir noch (!) in einem Land, in dem der Staat durch sein Sozialsystem viele dieser Werke übernimmt, so daß wir scheinbar kaum Gelegenheit haben, die Werke der leiblichen Barmherzigkeit zu tun. Doch das ist kein Grund, der uns von der Übung dieser Werke gänzlich dispensiert. Es gibt Bedürftige, die entweder aus Scham oder aus sonst einem Grund, die Hilfe des Staates nicht in Anspruch nehmen können oder wollen. Andere werden von den Ämtern abgewiesen, fallen durchs Raster. Wenn sich solche Menschen an uns wenden, müssen wir helfen. – Außerdem brauchen caritative Einrichtungen, gerade im Lebensschutz, die nicht vom Staat unterstützt, sondern sogar eher unterdrückt werden, Unterstützung von mildtätigen Spendern. Wenn wir auch selbst die Werke der leiblichen Barmherzigkeit oft nicht unmittelbar üben können, so können wir doch unseren Beitrag dazu leisten. Jeder kann das, ob er nun arm oder reich ist. Vom Wohlhabenden, dem viele materielle Güter gegeben sind, wird auch erwartet, daß er mehr gibt. Der Arme, der wenig besitzt, kann auch mit dem Wenigen, Gutes tun. Nicht umsonst hat Christus seine Jünger damals im Tempel auf das Scherflein hingewiesen, welches eine Witwe in den Opferstock gegeben hatte. Es war eine kleine Gabe. Aber der Herr sagt: „Wahrlich, Ich sage euch, diese arme Witwe hat mehr eingelegt als alle, die in den Opferkasten einwarfen. Denn alle anderen warfen von ihrem Überfluß ein; diese aber hat von ihrer Dürftigkeit alles, was sie hatte, eingelegt, ihren ganzen Lebensunterhalt“ (Mk. 12, 43 f.). Dieses Beispiel soll uns lehren, daß man auch von dem Wenigen das man hat, etwas abzweigen kann; etwa Kleider für die Kleidersammlung, oder etwas Geld für eine caritative Einrichtung, die moralisch einwandfreie Werke der Nächstenliebe ausübt. – Die Furcht, daß unsere Mildtätigkeit mißbraucht werden könnte, darf uns nicht davor zurückschrecken lassen freigebig zu sein. Der hier aus Stuttgart stammende Jesuitenpater Rupert Mayer, der zwischen den beiden Weltkriegen als ein Apostel der Nächstenliebe in der bayerischen Landeshauptstadt München wirkte und dabei natürlich bisweilen auch übers Ohr gehauen wurde, hatte gesagt, es bräche ihm das Herz, wenn ein tatsächlich Bedürftiger, aufgrund seiner Furcht ausgenutzt zu werden, keine Hilfe erführe. Und außerdem habe jemand, der noch nie betrogen worden sei, auch noch nie etwas Gutes getan. – Gewiß sollen wir uns über die Werke jener Einrichtungen informieren, bevor wir sie mit einer Spende unterstützen, und nur solche auswählen, deren Leistungen sich nicht über die christliche Sittenlehre hinwegsetzen. Dann aber sollen wir gerne geben – um Gottes Willen. Denn nicht umsonst hat der Heiland das Gleichnis vom reichen Prasser vorgetragen, der in der Hölle begraben wurde, weil er kein Auge und kein Ohr und keine Hand für seine armen Mitbrüder gehabt hat.

Die Werke der geistlichen Barmherzigkeit

Neben den Werken der leiblichen Barmherzigkeit gibt es aber auch solche der geistlichen Barmherzigkeit. Darunter versteht man Werke, die es nicht mit materiellen Dingen, sondern mit geistigen Dingen zu tun haben. Hier eröffnet sich wirklich ausnahmslos jedem von uns ein weites Betätigungsfeld, auf dem wir unserer vorweihnachtlichen Freude über die bevorstehende Ankunft des Herrn, in Werken der Nächstenliebe Ausdruck verleihen können. Weil die geistlichen Barmherzigkeitswerke weniger bekannt sind wie ihre sieben „leiblichen“ Schwestern, wollen wir auf diese Werke etwas ausführlicher eingehen. Es sind ebenfalls sieben: 1. Unwissende belehren; 2. Zweifelnden recht raten; 3. Sünder zurechtweisen; 4. die Betrübten trösten; 5. erfahrenes Unrecht geduldig ertragen; 6. denen, die uns beleidigen, gerne verzeihen und 7. für die Lebenden und die Toten beten.

Das sind die sieben Werke der geistlichen Barmherzigkeit, also Taten, die aus der Liebe zum gefallenen, schutz- und hilfebedürftigen Geschöpf hervorgehen. Denn Barmherzigkeit ist ja die Liebe zum hinfälligen, zum erbarmungswürdigen Geschöpf. Und wenn auch die meisten Menschen in unserem Land keine materielle Not leiden müssen; in geistiger Hinsicht sind wir alle hinfällig und bedürftig und deshalb tagtäglich dazu aufgerufen, sowohl Barmherzigkeit am Nächsten zu üben, wie auch dieselbe in aller Demut von ihm entgegenzunehmen.

1. Unwissende belehren

Das erste Werk der geistlichen Barmherzigkeit heißt: „Unwissende belehren“. Diese Belehrung bezieht sich auf göttliche und irdische, auf ewige und zeitliche Dinge. Wer immer anderen in ihrer Unwissenheit beisteht und sie über die Wahrheit aufklärt, der übt ein Werk der geistlichen Barmherzigkeit. Natürlich gilt das in erster Linie für diejenigen, welche der Unwissenheit in religiösen Dingen abhelfen, also für die Prediger des Glaubens, der Klerus, aber auch die Eltern und Lehrer, die andere in den göttlichen Dingen unterweisen. Wie groß ist doch die Unwissenheit in religiösen Dingen! Wahrscheinlich war seit Menschengedenken die Unwissenheit in den Fragen der Religion noch nie so groß wie heute.

Das hängt mit verschiedenen Dingen zusammen: Hauptursache ist natürlich der Umsturz durch das sog. 2. Vatikanum mit seinen Folgeerscheinungen, wodurch der katholische Glaube in den eigens zur Glaubensweitergabe geschaffenen Einrichtungen, wie etwa im schulischen Religionsunterricht, nahezu vollständig zum Verschwinden gebracht worden ist. Außerdem sind die Menschen heute so vielbeschäftigt und so vielen elektronischen Einflüssen ausgesetzt, daß sie kaum Zeit für die religiöse Unterweisung und Weiterbildung zu finden glauben. Dadurch entsteht bei vielen der falsche Eindruck, daß die religiösen Kenntnisse etwas Nebensächliches seien, und daß sie folglich keiner eingehenderen Unterweisung mehr bedürften. – Wir haben jedenfalls die heilige Aufgabe, soweit es an uns liegt und unsere Kräfte es gestatten, Unwissende zu belehren, indem wir sie mündlich oder durch Bücher und Schriften auf die Wahrheit aufmerksam machen.

2. Zweifelnden recht raten

Es wird kaum Menschen geben, die in allen Stationen ihres Lebens, an allen Kreuzwegen, ganz klar wissen, in welche Richtung sie gehen sollen. Es werden uns Zweifel kommen über den Weg, den Gott uns führen will. – Bei Entscheidungen ist es immer empfehlenswert, den Rat anderer einzuholen, insbesondere bei Lebensentscheidungen – wie etwa bei der Berufswahl, der Standeswahl, der Gattenwahl. Und diejenigen, die um Rat angegangen werden, haben die Möglichkeit, dieses Werk der geistlichen Barmherzigkeit zu üben. – Freilich muß das mit großer Umsicht geschehen. Man muß sich erst einmal fragen, ob man überhaupt in der Lage ist, einen Rat zu erteilen; ob man über die fachliche Zuständigkeit verfügt, um einem anderen zu raten. Man darf auch den Rat nicht aufdrängen. – In der Heiligen Schrift wird uns mehrfach von Personen berichtet, die anderen geraten haben. Als der „reiche Jüngling“ zu Jesus kam und ihn fragte, was er tun solle, um das Himmelreich zu erlangen, da gab ihm der Herr den Rat: „Verkaufe alles, was du hast, und verteile es unter die Armen, dann wirst du einen Schatz im Himmel haben; dann komm und folge Mir nach!“ (Lk. 18, 22). Er riet ihm zur engeren Nachfolge Christi, gleichsam zum Ordensstand. Und so ist aus diesem Rat, den der Herr gegeben hat, der erste der drei evangelischen Räte geworden, nämlich der Rat zur freiwilligen Armut. – Als dann später der Hohe Rat in Jerusalem beriet, wie der jungen Kirche beizukommen sei, da erhob sich ein greiser Schriftgelehrter namens Gamaliel und gab einen weisen Rat, indem er sprach: „Laßt sie, denn wenn dieses Vorhaben oder dieses Werk von Menschen ist, so wird es zunichte werden, wenn es aber von Gott ist, so werdet ihr es nicht zunichte machen können.“ (Apg. 5, 34). Er hat ihnen gut geraten. So sollen auch wir den Ratlosen Rat geben, wann immer wir es vermögen und soweit wir unseren Rat auch vor Gott verantworten können.

3. Sünder zurechtweisen

Das ist das dritte Werk der geistlichen Barmherzigkeit und zugleich das schwerste von allen, weshalb wir uns diesem Thema bei anderer Gelegenheit eingehender zuwenden werden. Nur soviel sei gesagt: Wenn jemand einen Blinden an einem Abgrund stehen sieht, dann wäre es ein Verbrechen, ihn nicht zurück zu reißen. Ähnlich ist es beim Sünder. Wer einen Sünder im Begriffe sieht, die Sünde zu tun, der hat die heilige Pflicht, ihn davon abzuhalten, wann immer es ihm möglich ist, damit er sich nicht ins Verderben der Sünde stürzt. Die Barmherzigkeit der Zurechtweisung sind wir dem Sünder schuldig, um Christi willen, der gekommen ist, Sein kostbares Blut als Lösegeld für die Sünder zu vergießen.

4. Betrübte trösten

Der Mensch, der leidet, ist schon getröstet, wenn er jemand hat, der ihm ein offenes Ohr schenkt; wenn er jemanden hat, dem er sein Leid mitteilen kann und der auf diese Weise mit ihm leidet. Das Mitleid ist tatsächlich eine große Hilfe. Und deswegen fordert der hl. Paulus dazu auf: „Weinet mit den Weinenden“ (Röm. 12, 15). Wir sollen also jene Menschen, die leiden müssen, in unser Herz schließen. Das Mitleid ist eine große Tat der Liebe. Wenn sich jemand an das Bett eines Kranken, eines Schwerkranken, eines unheilbar Kranken setzt, und dem man dabei eine ehrliche Anteilnahme anmerkt, dann ist der Kranke allein schon dadurch getröstet, ohne daß der Tröster auch nur ein Wort sagen muß.

Es gibt aber auch Trostgründe, die wir dem Betrübten vermitteln können. Dem Armen, dem Betrübten, dem Geschlagenen können wir den Hinweis auf die göttliche Vorsehung geben. Gott weiß, warum er diesen Schmerz, diesen Verlust, diese Krankheit, diese Belastung, dieses Kreuz geschickt hat. Gott macht keine Fehler! Die Erinnerung daran, daß das Leiden einen Sinn hat – auch wenn uns derselbe vorerst verborgen bleibt – kann tröstend wirken. – Man kann den Betrübten auch trösten in der Hoffnung auf den jenseitigen Lohn. Auf Erden gibt es ja oft keine vollkommene Gerechtigkeit, aber die ewige Gerechtigkeit Gottes hat ihre Stunde. Sie wird einmal schlagen und den großen Ausgleich herbeiführen. Betrübte tröstet man natürlich am wirksamsten durch Hilfe. Soweit es uns möglich ist, sollen wir also werktätige Hilfe mit der geistlichen verbinden und dadurch dem Betrübten Trost verschaffen.

5. Unrecht ertragen

Das fünfte Werk lautet: „Unrecht geduldig tragen“. Auch das ist schwer. Denn das Unrecht, das uns widerfährt, reizt unser Gerechtigkeitsgefühl. Wir möchten uns wehren. Wir möchten es dem anderen heimzahlen. Der natürlich gesinnte Mensch schreit auf, wenn ihm Unrecht geschieht. Aber der übernatürlich gesinnte Mensch trägt Unrecht geduldig, in Nachahmung des Gekreuzigten, „der Seinen Mund nicht auftat“ (Is. 53, 7), als Er litt. Wenn nämlich derjenige, dem Unrecht widerfährt, Geduld hat mit dem, der ihm Unrecht zufügt, dann verhütet er, daß der andere weiteres Unrecht tut, und er erleichtert ihm den Weg der Umkehr. Denn das ist immer so: Wenn jemand einen anderen schlägt – sei es nun verbal oder physisch – und der Betroffene schreit auf, wehrt sich und geht gegen den „Schläger“ vor, dann erneuert, ja dann verstärkt der erste „Schläger“ seine Gewalt. Der Streit schaukelt sich hoch, eskaliert und führt zu den unabsehbar schlimmsten Folgen. – Nein, „Unrecht geduldig ertragen“ ist ein Werk der Barmherzigkeit gegenüber demjenigen, der uns Unrecht tut. Wir erweisen ihm damit Liebe, daß wir sein Unrecht ertragen und dabei verhindern, daß sich sein Unrecht steigert. Ohne dieses Werk der Barmherzigkeit ist kein dauerhaftes menschliches Zusammenleben möglich. Ohne geduldiges Ertragen geht es in keiner Ehe, geht es in keiner Familie, geht es in keiner Gemeinschaft lange gut. Deshalb mahnt der hl. Paulus: „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi [das Gesetz der Liebe] erfüllen“ (Gal. 6, 2). Wer sich immer und überall wehren will; wer niemals Unrecht ertragen will, der kann nicht auf Dauer in Frieden mit seinen Mitmenschen leben. Einer unserer Lehrer im Priesterseminar sagte zu uns Seminaristen: „Sie müssen lernen echtes oder vermeintliches Unrecht zu ertragen, sonst werden Sie untergehen.“ Ja, das muß man lernen! Es ist ein Werk der geistlichen Barmherzigkeit.

6. Gerne verzeihen

„Beleidigern gern verzeihen“, das ist das vorletzte Werk der geistlichen Barmherzigkeit. Hier geht es nicht nur ums ertragen, sondern ums verzeihen. Die Beleidigung ist ein Pfeil, der uns trifft, und dieser Pfeil tut weh. Er schmerzt. Aber das Werk der Barmherzigkeit, das hier aufgerufen ist, verzichtet auf Rache, bleibt freundlich gegenüber dem Beleidiger, ja sucht ihm Gutes zu tun.

Wir müssen dabei Verständnis aufbringen für die Menschen, die uns beleidigen. Oft haben sie nicht überlegt oder aus blinder Leidenschaft, aus dem Affekt heraus gesprochen. Sie denken sich manchmal gar nichts dabei, wie sie uns beleidigen. Ein Wort, das einen anderen tief zu treffen vermag, ist schnell gesagt. Also sind wir auch an dieser Stelle dazu aufgerufen die barmherzige Liebe gegenüber dem Beleidiger zu üben; erst recht, wenn er nach seinen Fehltritt um Verzeihung gebeten hat.

Gerade wenn uns das Verzeihen einmal schwer fallen sollte, dann denken wir an die Bitte des „Vater-unsers“: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern!“ Wer nicht verzeiht, der kann eigentlich kein „Vater-unser“ mehr beten, weil er sich damit selbst das Urteil spricht. Er bittet ja Gott, ihm in genau derselben Weise zu vergeben, wie der Beter es zuvor seinem Beleidiger gegenüber getan hat. Der Beleidiger ist ja ein Schuldner. Den „Beleidigern gern verzeihen“ ist also in unserem eigenen Interesse. Darüber hinaus sichert es den Frieden in der Ehe und in der Familie, am Arbeitsplatz und in jeder Gemeinschaft von Menschen. Beleidigern gern verzeihen! Nichts nachtragen, nicht auf Rache sinnen, nicht Gleiches mit Gleichem vergelten, sondern „feurige Kohlen auf das Haupt des anderen sammeln“ (Röm. 12, 20) dadurch, daß man gut ist zu dem, der böse zu uns war.

7. Beten für Lebende und Verstorbene

Das letzte Werk der geistlichen Barmherzigkeit ist „Beten für Lebende und Verstorbene“. Es gibt vermutlich keinen Menschen, der sich dagegen wehrt, wenn man zu ihm sagt: „Ich werde für Sie beten.“ Da hat nach allgemeiner Erfahrung niemand etwas dagegen. Natürlich muß man es auch tun. Man muß erfüllen, was man versprochen hat. Aber das ist wahrhaft ein Werk der geistlichen Barmherzigkeit, das jeder Christ tagtäglich sehr einfach üben kann und dem sich selbst ungläubige Menschen nicht verschließen. Durch das Gebet flehen wir den Segen Gottes auf den Nächsten herab. Das ist die größte geistliche Wohltat, die wir schenken können.

Für Lebende und Verstorbene beten. Natürlich zuerst für unsere Angehörigen, dann für die Obrigkeit in Staat und Kirche. Diese Ordnung wird uns im ersten Timotheusbrief (vgl. 1. Tim. 2, 2) vorgegeben. Es darf kein Tag vergehen, an dem wir nicht unsere Hände falten und für diejenigen beten, die Gott uns an die Seite gestellt hat. Und darüber hinaus dürfen wir auch diejenigen nicht vergessen, die durch den Tod unseren Augen entschwunden sind. Sie dürfen nicht auch unserem Sinn entschwinden. „Es ist daher ein heiliger und heilsamer Gedanke, für die Verstorbenen zu beten, daß sie von ihren Sünden erlöst werden“, heißt es schon im Alten Testament (2. Makk. 12, 46). Freilich hört man da bisweilen die Klage: „Mein Gebet wird nicht erhört. Ich sehe nichts, daß mein Gebet irgendetwas bezweckt.“ Dabei handelt es sich jedoch um zwei verschiedene Paar Stiefel. „Mein Gebet wird nicht erhört“, ist das eine. Etwas anderes ist: „Ich sehe nichts von der Erhörung.“ – Die hl. Gertrud von Helfta hat sich einmal beim Heiland beklagt, daß sie die Frucht ihrer Gebete nicht sehe; und sie – diese große Mystikerin – hörte Christus zu ihr sprechen: „Kein treues Gebet bleibt ohne Frucht!“ Auch wenn der Mensch diese Frucht, d.h. die Art und Weise wie diese Frucht erwächst, nicht sieht, so bleibt doch kein Gebet vergeblich. So wollen wir beten, weiterbeten, zuversichtlich, beharrlich, hoffnungsvoll beten und auf diese Weise Almosen über diejenigen streuen, die davon gar nichts wissen, ja vielleicht auch gar nichts davon wissen wollen.

„Der Herr ist nahe!“

Das ist das Programm für die zweite Hälfte des Advents: „Freuet euch allezeit im Herrn.“ Unsere Freude muß wurzeln in der gnadenhaften Gottesliebe. Wir finden sie in einem reinen Gewissen, das wir durch eine gutvorbereitete hl. Beichte erlangen und durch Werke der Buße festigen. Diese Freude muß sich sodann kundtun. „Lasset alle Menschen eure Güte erfahren!“ Sie muß sich kundtun in den Werken der Liebe, die wir dem Nächsten in Form der sieben Werke der leiblichen Barmherzigkeit oder in Form der sieben Werke der geistlichen Barmherzigkeit erweisen. Sie wollen wir uns in dieser Adventszeit lebendig vor Augen halten.

Bitten wir dazu besonders die allerseligste Jungfrau und Gottesmutter Maria, die sich zu ihrer Base Elisabeth aufgemacht hat, um ihr durch Werke der Barmherzigkeit beizustehen. Bitten wir die Unbefleckte, sie wolle uns zum Erkennen der Gelegenheiten und zum gottgefälligen Erfüllen unserer Liebespflicht die dazu notwendige übernatürliche Gnadenhilfe Gottes vermitteln.

Voll Freude wollen wir dann dem Heiland die Geschenke unserer Gottes- und Nächstenliebe an Seine Krippe bringen, damit wir nicht mit leeren Händen vor dem Wunder der heiligen Weihnacht stehen. Wenn wir Ihm sodann unsere Gaben der Barmherzigkeit schenken, dann wird sich das Jesuskind freudig bei uns bedanken und zu uns sagen: „Was auch immer Ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr Mir getan.“ Und das sollte unsere Freude vollkommen machen. Amen.

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