Aufstieg zur Weisheit V - Die Gabe des Verstandes

Geliebte Gottes!

Unser Herr Jesus Christus sprach beim letzten Abendmahl im „hohepriesterlichen Gebet“ zu Seinem himmlischen Vater: „Das aber ist das ewige Leben, daß sie Dich schauen, den allein wahren Gott, und den Du gesandt hast, Jesus Christus“ (Joh. 17, 3). Damit hat Christus das ewige Leben in seinem Wesen beschrieben, wie auch wir es bereits desöfteren getan haben. Das ewige Leben im Himmel besteht in der unmittelbaren Anschauung Gottes; so wie Er sich sieht.

Um auf die Anschauung Gottes, der im unzugänglichen Licht wohnt, vorbereitet zu werden, bedarf die Seele eines besonderen Lichtes. Um uns dieses Licht zu bringen, ist der Sohn Gottes Mensch geworden. Christus ist das „Licht der Welt“, das in die Finsternis der Weltzeit hineinstrahlt, um jeden Menschen, der in Finsternis und Todesschatten sitzt, zu erleuchten. Doch heißt es von dem Licht: „Das Licht leuchtet in der Finsternis, doch die Finsternis hat es nicht begriffen“ (Joh. 1, 5).

Damit, daß das göttliche Licht zwar in die Welt hineinleuchtet, aber nicht bei allen Aufnahme findet, ist nicht nur das ganze Drama der Menschheitsgeschichte ausgesagt, sondern auch ein fundamentaler Zusammenhang angedeutet: Jede klare Erkenntnis, und jede lichtvolle Einsicht ist von zwei Faktoren abhängig. Der eine Faktor ist die Sehkraft, der andere die entsprechende Beleuchtung. Das beste Licht nützt nichts – nicht einmal das „Licht der Welt“ – ohne eine Sehkraft, die imstande ist, es aufzufangen. Und auch umgekehrt gilt: Ohne Licht wird selbst das schärfste Auge nichts sehen.

Es gibt eine dreifache Sehkraft und dementsprechend eine dreifache Beleuchtung. 1. Die Sehkraft unseres körperlichen Auges. 2. Die Sehkraft unseres natürlichen Verstandes. Und 3. die Sehkraft des Heiligen Geistes, die man „Gabe des Verstandes“ nennt.

Licht und Auge der Sinnenwelt

Alles Sehen beginnt mit der Beleuchtung. Wenn man in der vollkommenen Finsternis einer wolkenverhangenen Nacht eine Landschaft betrachtet, so vermag man die Gegenstände, selbst die sehr großen, nicht voneinander zu unterscheiden. Man sieht gar nichts.

Wenn man in der Dämmerung oder an trüben Wintertagen, wo das Sonnenlicht durch dichten Nebel und schwarze Wolken geschwächt ist, die gleiche Landschaft betrachtet, so sieht man zwar die Umrisse der Gegenstände, aber vieles von den entfernt liegenden Dingen, von dem Kleinen und Einzelnen, bleibt dem Auge verborgen.

Ganz anders ist es, wenn man die Landschaft an einem klaren Sommertag im vollen Sonnenschein betrachtet. Man sieht auch das Kleinste und Allerkleinste. Es kommt alles auf die Beleuchtung an.

Aber die Beleuchtung alleine genügt nicht. Das Auge muß gesund, weit geöffnet und scharfsichtig sein. Man muß beobachten und betrachten. Man muß gleichsam mit durchdringendem Blick die Dinge „anpacken“; sie wahr-nehmen, so wie sie wirklich sind. Ohne jede Fälschung, also ohne jede Abschwächung, aber auch ohne jede Übertreibung. Mit absoluter Ehrlichkeit und rücksichtsloser Wahrhaftigkeit des Urteils. Man darf sich von niemandem etwas vormachen lassen; auch nicht vom eigenen Herzen. Denn tief in der menschlichen Natur liegt ein vielschichtiges Interesse, den Tatbestand zu eigenen Gunsten zu verfälschen. Die objektive Wahrheit ist fast immer irgendwie den subjektiven Wünschen unbequem und daher besteht die Gefahr, Tatbestände auszuschmücken oder zu unterschlagen.

Licht und Auge der Geisteswelt

Aber das Licht der Sonne und das Auge aus Fleisch und Blut genügen nicht. Die Sehkraft der Augen dringt nur an das Äußere einer Sache. Sie kann uns nur sagen, wie etwas aussieht, aber sie kann uns nicht sagen, was etwas ist. Das Auge nimmt die Gestalt wahr, aber nicht das unter dem Schleier verborgene Wesen der Dinge. Das Bild, aber nicht die im Bild eingehüllte Idee, nicht den Begriff. Das Auge sieht den knorrigen Wurzelstock, die Borke des Stammes, die verzweigten Äste, die Form der Blätter, nicht aber das was der Geist in dem einen Wort „Baum“ ausspricht. Das Auge schaut die Form, nicht das Wesen, die Tatsache, aber nicht die Ursache. Darum gab der Schöpfer dem Menschen neben dem materiellen Auge auch ein geistiges – nämlich den Verstand.

Der Verstand dringt in das Wesen einer Sache vor. Er schaut gleichsam tiefer hinein. Er begreift. Er erkennt. Mehr noch, er erkennt geistige Dinge, die das fleischliche Auge nicht schaut; etwa unsichtbare, abstrakte Dinge, wie „Wahrheit“, „Tugend“, „Schönheit“, „Güte“, „Harmonie“. Mit einem Wort: Der Verstand denkt.

Durch die denkende Sehkraft des Verstandes wird der Mensch erst zum Menschen, zu jenem Abglanz und Ebenbild des unendlich vollkommenen Geistes, des Gottes der Wahrheit, der nicht irrt und niemanden täuschen kann. Wie aber das Auge nichts sieht außer im Licht der Sonne, so erkennt auch der Verstand nichts ohne das geistige Licht. Das geistige Licht ist aber letztlich Gott selbst. Christus ist das Licht der Welt, die geistige Sonne des Universums, von dem der Feuerball am Himmel nur ein schwaches Abbild ist. Nur derjenige sieht in das wahre Wesen der Dinge, nur der hat wahrhaft Verstand, nur der ist ein Denker, der alles im ewigen Christuslicht betrachtet. Wer das nicht weiß; wer die „Weltweisheit“ des kleinen Menschenverstandes für die höchste Erleuchtung hält – also gleichsam das künstliche Licht der Straßenbeleuchtung für das gleißende Licht des Sonnenballes – wie es die Aufklärer und Rationalisten tun, der weiß nicht, was Verstand im Vollsinn ist, und was es heißt die ganze Wirklichkeit zu schauen. Dazu reicht die Sehkraft des natürlichen Verstandes nicht aus.

Seit dem Sündenfall ist die Sehkraft des natürlichen Verstandes geschwächt. Das menschliche Denken ist getrübt, unscharf und beschränkt. Es reicht zwar, um das Wesen der Dinge zu erkennen, vermag dieselben aber nicht in ihrer ganzen Tiefe zu durchdringen. Schon im natürlichen Bereich ist das Verstandeslicht unzähligen Irrlichtern ausgeliefert. Wie oft haben wir uns nicht schon geirrt? Wie oft lagen wir in unserem Urteil nicht schon daneben? Vor allem ist das Licht des Verstandes aber unfähig, die übernatürliche Wirklichkeit zu erfassen und zu verstehen. Wie der hl. Thomas von Aquin sagt, ist der geschaffene Verstand zu vergleichen mit dem Auge eines Nachtvogels. Das Auge etwa einer Eule kann die Sonne nicht sehen. Die Sonne ist zu hell und das Eulenauge gleichsam blind für die gleißende Überhelle des Taggestirns. Dementsprechend ist Gott und die übernatürliche Welt überhell für den geschaffenen Verstand. Deshalb bedarf es wiederum einer ganz eigenen Sehkraft, die das übernatürliche Licht aufnehmen kann. Und diese Sehkraft ist nichts anderes als der göttliche Glaube.

Der Glaube und das Fernrohr des Heiligen Geistes

Die eingegossene Tugend des Glaubens ist jene übernatürliche Fertigkeit, die uns befähigt alles das als wahr anzunehmen, was Gott geoffenbart hat, obwohl es unseren Verstand übersteigt. Wir sehen die geoffenbarten Wahrheiten und Geheimnisse zwar nicht ein, aber auf die Autorität Gottes hin, der Sich selbst nicht irren und andere nicht in die Irre führen kann, nehmen wir alles als gegebene Tatsachen an, was Er uns durch die katholische Kirche lehrt.

Dabei stößt jedoch selbst der vom Glauben erleuchtete Verstand schnell an seine Grenzen. Er dringt nicht tiefer in die ewigen Wahrheiten ein, als es seine Schwäche zuläßt. Nicht einmal den Wortsinn der Heiligen Schrift kann der gläubige Verstand zuverlässig richtig erfassen; umso weniger den tieferen, verborgenen Sinn. Irrtümer sind leicht möglich, wenn nicht gar unvermeidlich, würde nicht die Tugend des Glaubens weiter vervollkommnet werden. Um Gottes Gedanken richtig verstehen, folgen und nachdenken zu können, gibt Er der Seele zur Unterstützung des Glaubens eine besondere übernatürliche Fähigkeit, die es ihm leicht macht, unter dem Einfluß des Heiligen Geistes tiefer in den Sinn der Glaubenslehre einzudringen.

Er gibt ihr die „Gabe des Verstandes“. Verstand ist hier wörtlich gemeint im Sinne von Verstehen, und zwar nicht der geschaffenen Dinge, wie es durch die „Gabe der Wissenschaft“ geschieht, sondern des Göttlichen!

Dabei unterscheidet sich die „Gabe des Verstandes“ insofern von der „Gabe der Wissenschaft“, als ihr Gegenstand umfassender ist, weil er weit über das sinnlich Wahrnehmbare und rational Greifbare hinausgeht. Statt sich auf die geschaffenen Dinge zu beschränken, erstreckt sich ihr Blickfeld auch auf die geoffenbarten Wahrheiten. Dabei wird die menschliche Erkenntnis erst allumfassend, also katholisch.

Je mehr sich die „Gabe des Verstandes“ im Leben der Seele entfalten kann, blickt sie viel tiefer und läßt uns in den innersten Sinn der Glaubensgeheimnisse eindringen. Freilich ermöglicht sie uns nicht das Verständnis der Geheimnisse, etwa der Dreifaltigkeit, des Allerheiligsten Altarsakraments, oder des Zusammenspiels von göttlicher Gnade und menschlicher Freiheit. Aber sie läßt uns, trotz des dunklen Sinnes, die Glaubhaftigkeit der Geheimnisse einsehen, genauso wie deren widerspruchslosen Einklang untereinander. Die „Gabe des Verstandes“ ist die Erfüllung der Verheißung Christi: „Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, so wird Er euch in alle Wahrheit einführen“ (Joh. 16, 13). Man hat deswegen die „Gabe des Verstandes“ das Fernrohr des Heiligen Geistes genannt. Sie gibt dem Menschen, unabhängig von Alter, Stand und Bildung, einen Fernblick in jene Welt des Übernatürlichen, welcher für die natürliche Sehkraft der Augen und des Verstandes unerreichbar bleibt. Ein Umstand der Christus damals zu dem bekannten Jubel bewegte: „In derselben Stunde frohlockte Er im Heiligen Geiste und rief: ‚Ich preise Dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, daß Du dies vor den Weisen und Klugen verborgen, den Kleinen aber geoffenbart hast. Ja, Vater, denn also war es wohlgefällig vor Dir. Alles ist Mir von Meinem Vater übergeben. Niemand erkennt, wer der Sohn ist, als nur der Vater, und niemand, wer der Vater ist, als nur der Sohn, und wem der Sohn es offenbaren will‘“ (Lk. 10, 21).

An dieser Stelle sei ausdrücklich gesagt, daß diese Gabe nichts mit Visionen, bildhaften Schauungen oder sonstigen außerordentlichen Gnadenerweisen zu tun hat. Im Gegenteil! So wie der natürliche Verstand aus den Sinneswahrnehmungen der Augen – Wurzel, Stamm, Äste, Blätter – den geistigen Begriff „Baum“ herausschält, so schält die „Gabe des Verstandes“ etwa den vollen Sinn einer Glaubenslehre aus den sie umkleidenden Bildern, Gleichnissen und Redefiguren der Heiligen Schrift heraus. Also keine Vision (eben gerade kein Bild!), sondern eine einfache, klare, tiefere Erkenntnis, die scharf umrissene Idee des wahren Sinnes sieht die Seele ein. Hauptsächliche Wirkung der Gabe ist also die Losschälung vom Sinnlichen, unter dessen Schleier das Geistige verborgen liegt.

Vielleicht hat jemand schon einmal die Erfahrung gemacht, daß ihm beim Lesen der Heiligen Schrift plötzlich eine dunkle Stelle, über die er bisher unverständig einfach so hinweggelesen hat, auf einmal einsichtig wird und er dieselbe in ihrem tiefen Sinn erfaßt. Solche und ähnliche Erfahrungen können auf ein Aufflackern der „Gabe des Verstandes“ zurückzuführen sein. Dieses Aufflackern wird bei den Anfängern des Reinigungsweges seltener, bei den Fortschreitenden des Erleuchtungsweges dauerhafter vorkommen; bei den Vollkommenen des Einigungsweges ist es ein nahezu ununterbrochenes Licht. Alles in allem muß dringend festgehalten werden, daß selbst bei voller Entfaltung der „Gabe des Verstandes“ das Glaubensdunkel erhalten, und unser Erkennen in diesem Leben unvollkommen bleibt, wie aus den Worten des hl. Paulus hervorgeht: „Jetzt schauen wir im Spiegel ein unklares Bild, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkennen wir stückweise. Dann aber werde ich erkennen, so wie auch ich erkannt bin“ (1. Kor. 13, 12).

Die Wirkungen der „Gabe des Verstandes“

Der hl. Thomas beschreibt drei Wirkungsfelder dieser Gabe. Zum einen läßt uns die „Gabe des Verstandes“ in das Innere der geoffenbarten Wahrheiten eindringen. Das geschieht in sechsfacher Weise.

  1. Die Gabe zeigt der Seele etwa die unter den eucharistischen Gestalten verborgene Substanz des Leibes und Blutes Christi, und läßt sie diese Gegenwart – nicht visionär schauen! – sondern geistig tiefer erfassen. Das veranlaßte damals beispielsweise jenen schlichten Bauern, der vom hl. Pfarrer von Ars darauf angesprochen wurde, warum er so lange in der Kirche sitze und dabei einfach nur den Tabernakel anblicke, zu der bekannten Antwort: „Ich schaue Ihn an und Er mich.“
  2. Die Gabe erleuchtet den unter den Buchstaben der Heiligen Schrift verborgenen Sinn der Worte. So wie Jesus den Jüngern von Emmaus den Sinn der alttestamentlichen Prophezeiungen enthüllte.
  3. Sie offenbart die geheimnisvolle Bedeutung der äußeren Zeichen und der kirchlichen Zeremonien. So eröffnete uns etwa der hl. Paulus, von der „Gabe des Verstandes“ erleuchtet, den tieferen Sinn der Taufe durch Untertauchen. Das Untertauchen versinnbildet unser Absterben für die Sünde, unser Begrabensein mit dem gekreuzigten Christus. Während das Auftauchen aus dem Taufbrunnen, unsere geistige Auferstehung mit Christus zum ewigen Leben anzeigt.
  4. Die Gabe bewirkt, daß wir bei dem einfachen Gedanken an den einfachen Zimmermannsohn Jesus von Nazareth in seiner Werkstatt, die viel tiefere übernatürliche Wirklichkeit erfassen, daß dieser unscheinbare Handwerker der Baumeister der gesamten Schöpfung ist.
  5. Läßt die Gabe in einem einzigen Blick die in einer Ursache enthaltenen Wirkungen erkennen, wie z. B. in dem auf Kalvaria vergossenen Blut Jesu den unendlichen Lösepreis für unsere Sünden, die Abwaschung und Reinigung unserer Seele, sowie unsere Versöhnung mit Gott. Oder sie zeigt uns in dem Blut und Wasser, das aus der durchbohrten Seite des Erlösers hervorquoll, einmal die aus dem göttlichen Herzen aufsprudelnde Quelle aller Gnaden, sodann das sinnbildliche Hervorquellen der heiligen Sakramente, oder auch die Geburt der Kirche, die ja ähnlich wie Eva aus der Seite des schlafenden Adam gebildet wurde.
  6. Schließlich läßt uns die Gabe auch das Wirken der göttlichen Vorsehung in den äußeren Vorgängen auf Erden und in unserem Leben herauslesen.

Auf diese sechsfache Weise läßt uns der Heilige Geist in das tiefere Verständnis der Glaubenswahrheiten eindringen. Das ist das erste Wirkungsfeld der „Gabe des Verstandes“. Man könnte es das Feld der „positiven Glaubenserkenntnis“ nennen.

Eine andere Form der Veranschaulichung der Glaubensgeheimnisse besteht sodann in einer negativen Erkenntnis. Also nicht daß die Seele durch unmittelbare Einsicht irgendein Glaubensgeheimnis klarer erkennt. Das wäre ja eine positive Erkenntnis. Sondern daß sie, im Gegenteil, tiefer begreift, was Gott gerade nicht ist. So ist generell von Gott leichter zu sagen, was Gott nicht ist, als zu sagen was Er ist. Eine tiefere Einsicht in das, was Gott nicht ist, schärft jedoch durchaus unser Verständnis von Gott. Wie der hl. Thomas sagt, läßt die „Gabe des Verstandes“ so klar erkennen, was Gott nicht ist, daß die Seele fast glaubt, Gott zu schauen.

Drittens befähigt die „Gabe des Verstandes“ die vom Glauben erleuchtete Vernunft, auch aus den geoffenbarten Grundlagen Schlußfolgerungen zu ziehen, und aus einer Wahrheit, weitere Glaubenssätze abzuleiten. So wird beispielsweise aus dem einen Satz: „Und das Wort ist Fleisch geworden, und hat unter uns gewohnt“ (Joh. 1, 14) fast die gesamte Lehre über den Gottmenschen Jesus Christus abgeleitet. Genauso wie aus dem Satz: „Maria, von welcher geboren wurde Jesus, der genannt wird Christus“ (Mt. 1, 16) fast die gesamte Lehre von der wahren Gottesmutterschaft der allerseligsten Jungfrau Maria hergeleitet werden kann.

Die Hauptfrucht der Gabe ist schließlich die Glaubenssicherheit, die mit dem wachsenden Grad der übernatürlichen Liebe in der Seele zunimmt, wie aus dem Wort des hl. Paulus hervorgeht: „Die Liebe glaubt alles“ (1. Kor. 13, 7). Die Liebe erfaßt die Glaubenssätze tiefer als der schärfste Verstand. Dieselbe Lehre, die den Anfängern lediglich „Milch“ ist, wird den in der Liebe Erwachsenen „kräftiges Brot“, da sie den in den Geheimnissen für ihren Glauben enthaltenen „Nährgehalt“ vollkommener auszuschöpfen vermögen. Die Liebe ist sodann der erweiternde bzw. begrenzende Faktor für den Lichtkreis der „Gabe des Verstandes“. Je größer die Liebesflamme in der Seele, je höher sie aufflammt, umso mehr weitet sich das Sichtfeld durch das Fernrohr des Heiligen Geistes in die Weite der Glaubensgeheimnisse. Folglich ist der Irrtum nicht auf jeder Liebesstufe ausgeschlossen. Die Gabe selbst kennt selbstverständlich keinen Irrtum. Wie bei allen sieben Gaben ist der Heilige Geist der aktiv Handelnde. Wo Gott unmittelbar eingreift, kann kein Irrtum bestehen. Allein der Lichtkreis der Gabe erstreckt sich auf den unteren Stufen der Liebe nicht so weit, daß sie den Sinn aller Glaubenssätze völlig aufklären könnte. Die „Gabe des Verstandes“ kann deshalb zwar nie Ursache eines Irrtums sein, wohl aber mittelbare Ursache des Nichterfassens. Alles in allem gilt auch hier: „Die Perlen werden nicht den Säuen vorgeworfen“ (vgl. Mt. 7, 6) D.h. je mehr einer liebt, desto tiefer geht seine Erkenntnis, desto freier macht er sich von sinnlichen Vorstellungen und Irrtümern.

Mit dem Katechismus des hl. Pius X. wollen wir das Gesagte wieder auf eine kurze Formel bringen und die Gabe des Verstandes beschreiben, als „eine Gabe, durch die uns, soweit es für einen sterblichen Menschen möglich ist, das Verständnis der Glaubenswahrheiten und der göttlichen Geheimnisse, die wir mit dem natürlichen Licht unseres Verstandes nicht begreifen können, erleichtert wird“ (Nr. 920).

Wie jeder Erkenntnisgewinn der Seele eine gewisse Freude verleiht, so auch der klare Zuwachs an Einsicht in die Glaubensgeheimnisse mittels der „Gabe des Verstandes“. Deshalb wird von den zwölf Früchten des Heiligen Geistes jener Gabe besonders die Frucht der „Freude“ zugeschrieben.

„Selig die reinen Herzen“

Wobei wir wieder bei der Frage angelangt wären, wie man sich für den Einfluß des Heiligen Geistes in der „Gabe des Verstandes“ empfänglich machen könne. Am einfachsten wird diese Frage zu beantworten sein, wenn wir uns die Hindernisse bewußtmachen.

Viele Menschen – auch Gläubige – haben nur eine vage und verworrene Vorstellung von den großen Wirklichkeiten des Glaubens; nur ein trockenes und unfruchtbares „Glaubenswissen“. Sie haben Augen und sehen nicht, Ohren und hören nicht, einen Willen und wollen nicht. Und deshalb kommen die Gaben des Heiligen Geistes in ihnen nicht zur Entfaltung. Warum ist das so? Wie wir gesehen haben vergeistigt die „Gabe des Verstandes“ unser Erkennen. Sie schält die tiefere Bedeutung aus den sinnenhaften Dingen – aus den Worten, Bildern und Gleichnissen der Offenbarung heraus. D.h. sie ist dem materiellen, dem stofflichen, dem Verhaftetsein im Irdischen und der Liebe zu den zeitlichen Dingen entgegengesetzt – insbesondere der Liebe zu sich selbst. Deshalb kann sich die „Gabe des Verstandes“ bei jenen Seelen, die ihre Sinne und ihren Geist noch nicht hinreichend davon befreit haben, kaum entfalten und ihr geistiger Blick bleibt getrübt.

Um sich für die „Gabe des Verstandes“ empfänglich zu machen, muß man der Welt absterben, wie der hl. Augustinus sagt: „Hier erwirbt sie [die Seele] ihrem Auge sogar jene Klarheit, mit der man Gott schauen kann, soweit Gott überhaupt von solchen Menschen gesehen werden kann, die dieser Welt nach Kräften absterben. Man sieht nämlich Gott nur insoweit, als man dieser Welt abstirbt; soweit man aber dieser Welt lebt, sieht man Ihn nicht“ (De doctr. Christiana II, 7). Die Seele muß sich also immer vollkommener von ihrer starren Anhänglichkeit an die Welt reinigen. Denn solange ihre Liebe in der Welt verhaftet ist, bleibt das Herz träge und gespalten, weil es zwei einander entgegengesetzte Formen der Liebe in sich trägt. „Denn das ist ein reines Herz“, sagt der hl. Augustinus, „das ein einziges [!] Herz ist“ (De Serm. Dom. in mont. I, 2). Ein ganz einfaches und reines Herz, wird jedoch erst dann vorhanden sein, wenn in ihm die Liebe zur Welt erstorben ist und die Gottesliebe allein übrigbleibt; wenn also kein geschaffenes Ding und keine geschaffene Person mehr der Liebe zu Gott vorgezogen wird. Der hl. Augustinus sagt weiter: „Auf dieser Stufe reinigt der Mensch das Auge seines Herzens so, daß er der [göttlichen] Wahrheit nicht einmal seinen Nächsten vorzieht oder auch nur gleichstellt; auch sich selbst zieht er darum der Wahrheit nicht vor oder stellt sich ihr gleich, weil er es ja auch mit seinem Nächsten nicht tut, den er doch liebt wie sich selbst. Ein solcher Heiliger wird darum so einfachen und reinen Herzens sein, daß er sich weder vom Streben, den Menschen zu gefallen, von der Wahrheit abbringen läßt, noch auch davon abweicht aus Rücksicht auf irgendwelche Beschwerden, die sich diesem Leben hinderlich in den Weg stellen“ (De doctr. Christiana II, 7). Dann aber tut sich dem klaren Blick der Seele die unbeschreibliche Welt der göttlichen Geheimnisse auf, „weil das Auge gleichsam geläutert ist, wodurch das geschaut werden kann, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und was in keines Menschen Herz gedrungen ist. Von ihnen wird hier gesagt: ‚Selig, die reinen Herzens sind‘“ (De Serm. Dom. in mont. I, 4), „denn sie werden Gott schauen“ (Mt. 5 8).

Deshalb wollen wir den Heiligen Geist um ein einfaches, reines Herz bitten, in das Er Sein göttliches Licht eingießen kann: „Komm, o Geist des Verstandes, und nimm weg alle Trägheit und Starrheit unseres Geistes. Erleuchte uns mit Deinem Lichte und unterweise uns in Deinen Satzungen. Schließ uns die heiligen Schriften auf, führe uns ein in die Wahrheiten des Heiles, zeige uns Jesus Christus, unsern Herrn, und gib uns Freude an Seinem Wort.“ Amen.

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