Die Gabe der Weisheit

Geliebte Gottes!

Der Gipfel des Berges der Vollkommenheit besteht in der vollendeten Vereinigung mit Gott in der Liebe. Das ist das für jeden Menschen von Gott gesetzte letzte Ziel dieses zeitlichen Lebens. Dazu muß sich die Seele aus dem Jammertal der Sünde erheben und, gestützt auf die übernatürliche Hilfe Gottes, mittels der Gnaden und Gaben, zum Gipfel emporsteigen. So heißt es schon im 83. Psalm: „Wohl dem Mann, der seine Hilfe auf Dich setzt; dessen Herzenssinn darauf zielt aus dem Tränental emporzusteigen, hin zu dem gesetzten Ziel. Gott, der den Befehl gegeben hat, gibt auch den Segen“ (6 f.). Er segnet die Bemühungen der Gehorsamen mit Seiner übernatürlichen Hilfe. Und weiter heißt es: „So steigen sie empor und es wächst ihre Kraft, bis sie auf Sion schauen den allerhöchsten Gott“ (7). Ja, je weiter die Seelen dem Gipfel entgegen streben, um so kräftiger werden sie; um so mehr verliert die Anziehungskraft der ungeordneten Eigenliebe, die sie wieder ins Tal der Sünde hinabzuziehen versucht, ihren Einfluß, bis ihre Gottesliebe so rein ist, daß von ihnen der Allerhöchste „auf Sion“ – auf dem Gipfel – geschaut werden kann.

Der Aufstieg zur Weisheit

Im Wesentlichen besteht der Weg zum Gipfel der Liebesvereinigung mit Gott darin, unsere ungeordnete Liebe mehr und mehr zu ordnen. Aufgrund der Erbsünde ist die Liebe des Menschenherzens von Geburt an pervertiert, d.h. nicht auf Gott ausgerichtet, sondern auf sich selbst. Sie ist selbstzentriert, egoistisch. Der Aufstieg zur Vollkommenheit ist nichts anderes, als der Liebe die ursprüngliche, von Gott beabsichtigte Ordnung zurückzugeben; jene Ordnung, die im Hauptgebot vorgegeben ist: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben, aus deinem ganzen Herzen, aus deiner ganzen Seele, aus allen deinen Kräften und aus deinem ganzen Gemüte – und deinen Nächsten wie dich selbst!“ (Lk. 10, 27). Nach und nach soll die Gottesliebe alle Bereiche des Innenlebens eines Menschen erfassen und beherrschen; sein ganzes Herz, seine ganze Seele, alle seine Kräfte und sein ganzes Gemüt. Gott und Gott allein soll er um seiner selbst willen und über alles lieben; den Nächsten, wie sich selbst, in Gott und um Gottes willen.

Um die Liebe des Menschen zur reinigen und sie bis zum Gipfel der Weisheit zu führen, hat Gott den Aufstieg mittels der Stufen der sieben Gaben des Heiligen Geistes gebahnt. – Am Beginn steht, wie uns der 110. Psalm lehrt, die „Gabe der Gottesfurcht“: „Denn der Anfang der Weisheit ist die Furcht des Herrn“ (10). Darauf folgen als weitere Stufen der Anfänger, die „Gabe der Frömmigkeit“ und die „Gabe der Wissenschaft“, bis sich in der Folge, nach durchlaufener „Nacht der Sinne“, der Weg der Fortschreitenden lichtvoll auftut. – Dort, auf dem Erleuchtungsweg, wird die Seele sodann von den beiden Gaben der Stärke und des Rates weiter empor getragen, bis sie in der „Nacht des Geistes“ gleichsam die den Berggipfel umgebende Wolkendecke durchschreitet. Die Seele durchläuft dabei ihre letzte große Reinigung, ehe sie aus dem Wolkendunkel heraustritt und über sich das klare, ungetrübte übernatürliche Sonnenlicht aufnehmen kann; und welches sie die Glaubensartikel und die göttlichen Geheimnisse, mittels der voll entfalteten „Gabe des Verstandes“, in noch nie dagewesener Klarheit, Deutlichkeit und Tiefe erkennen läßt.

Die „Gabe des Verstandes“ befreit dabei die übernatürliche Erkenntnis von allen verdunkelnden Phantasiebildern. Sie läßt erkennen, was Gott nicht ist. Doch hat die Seele damit den Gipfel der vollkommenen Vereinigung noch nicht erreicht; denn die Erkenntnis Gottes in den geoffenbarten Wahrheiten ist nicht das Höchste. „Unruhig ist unser Herz, o Herr, bis es ruht in Dir“, schreibt der hl. Augustinus in seinen „Bekenntnissen“. Nicht einmal die tiefere Einsicht in die göttlichen Geheimnisse kann den inneren Hunger des Menschenherzens stillen und ihm Ruhe verleihen, denn die Erkenntnis der Geheimnisse erfaßt nur den menschlichen Verstand mit der Wahrheit Gottes, aber sie erfüllt nicht die ganze Seele. – Nichts Geringeres als Gott und Gott allein, kann den Hunger des Menschenherzens vollends befriedigen. Der höchste Grad der Einigung mit Gott vollzieht sich deshalb nicht im Erkennen, sondern in der Liebe, wo Liebender und Geliebter geeint sind im Willen. Lieben heißt, dasselbe wollen wie der Geliebte und dasselbe nicht-wollen. Die vollkommene Vereinigung der Seele mit Gott in der Liebe wird bewirkt durch die „Gabe der Weisheit“. Sie vervollkommnet die Tugend der Liebe, indem sie den geschaffenen Willen des Menschen ganz in Deckungsgleichheit mit dem göttlichen Willen bringt und ihn dauerhaft darin befestigt. Durch sie wird die Tugend der Liebe vergöttlicht und mit Gott, der ja die Liebe ist, geeint. Was genau haben wir uns nun unter der „Gabe der Weisheit“ vorzustellen?

Der göttliche Geschmackssinn

Was die „Gabe der Weisheit“ wesenhaft ist, das drückt am besten das entsprechende lateinische Wort „Sapientia“ aus. Sapientia kommt von „sapor“, was soviel heißt wie „Wohlgeschmack“, bzw. im übertragenen Sinn auch soviel wie „Urteilskraft“. Beide Wortbedeutungen sind im Hinblick auf unsere Gabe relevant.

Die „Gabe der Weisheit“ ist zuerst der göttliche Geschmacksinn. Sie läßt die Seele Gott nicht nur erkennen, wie die „Gabe des Verstandes“, sondern Ihn gleichsam erleben. Weisheit ist das Erleben der Gottheit.

Ein Beispiel mag uns das klarer machen. Wenn jemand von irgendeiner unbekannten Frucht liest oder hört, so erwirbt er dadurch schon eine gewisse Kenntnis von der Frucht. Diese Kenntnis nimmt zu, wird anschaulicher und lebhafter, wenn man die besagte Frucht einmal wirklich in natura vor Augen sieht. Vollkommen wird die Erkenntnis aber erst durch den Genuß der Frucht. Nur der weiß, was sie ist, der sie gegessen, der sich im Genuß vollkommen mit ihr vereinigt und ihren Geschmack gekostet hat.

So ist es mit Gott. Wer von Gott und Gottes Wort gehört hat, der weiß etwas von Ihm. Dieses Wissen ist etwa so, wie unser Wissen von den Sternen. Wir kennen die funkelnden Nachtgestirne, können vielleicht sogar einige von ihnen oder ihre Bilder benennen. Mehr als wir wissen darüber die Astronomen, denn dem durch das Fernrohr Blickenden geht eine ganze Wunderwelt auf. Die Astronomen möchten vor dieser Wunderwelt niederknien und anbeten. Die Astronomen in der Welt des Religiösen, das sind diejenigen, die durch die „Gabe des Verstandes“ in die Tiefen der Gottheit eingedrungen sind. Aber nur der Mensch würde die Sterne vollkommen kennen, der jeden von ihnen besucht hätte; der jeden von ihnen nicht nur gesehen, sondern mit all seinen Sinnen erfahren hätte. In ähnlicher Weise kann mit Begeisterung von Gott nur derjenige reden, der aus Erfahrung spricht.

Durch die „Gabe der Weisheit“ läßt sich Gott von der hungernden Seele als gegenwärtiger Gott, als unendlich vollkommenes und liebenswürdiges Gut, gleichsam experimentell, also erfahrungsgemäß erleben, erfahren, verkosten, genießen. – Je vollkommener die rechte „Ordnung der Liebe“ im Menschenherzen errichtet ist, desto mehr teilt sich Gott einer Seele auf dem Gebiet der Erfahrung mit. Je umfassender die Gottesliebe nach und nach alle Bereiche des Seelenlebens für sich erobert und beherrscht – das ganze Herz, die ganze Seele, alle Kräfte und schließlich das ganze Gemüt – um so mehr läßt sich die Gottheit mittels der „Gabe der Weisheit“ verkosten, wozu das Wort des Psalmisten einlädt: „Kostet und seht, wie gut [eigentl.: wie süß] der Herr ist“ (Ps. 33, 9). Ist die „Gabe der Weisheit“ zur vollen Entfaltung gelangt, so ist für die Seele gleichsam der Himmel auf Erden angebrochen.

Alles schauen in Gott

Die „Gabe der Weisheit“ ist der Höhepunkt der christlichen Religion auf Erden. Der Himmel vor dem Himmel. Das letzte Stadium im Entwicklungsprozeß des ewigen Lebens und der höchste Grad der auf Erden erreichbaren Kenntnis der göttlichen Dinge. – Die Weisheit übersteigt die Kenntnis der Verstandesgabe, denn niemand weiß mehr von Gott als der, der ihn erfahren hat. Niemand weiß mehr als der, welcher etwas nicht durch die Vermittlung eines Geschöpfes, einer Vision, oder einer Verstandesidee, sondern der in und durch Gott erkennt. Der weiß am meisten, der die „Gabe der Weisheit“ vollkommen besitzt. Gott wird gleichsam zum Erkenntnismittel. Alles wird durch Ihn geschaut.

Die Vervollkommnung der Liebeserkenntnis kann eine solche Höhe erreichen, daß die Seele Gott geradezu in sich gegenwärtig fühlt, obwohl sie ihn nicht sieht. Was immer der Verstand aufgreift, wird von der „Gabe der Weisheit“ sogleich auf Gott bezogen, weil Gott im Seelengrund wohnt und die ganze Seele durchdringt. Dieses „Erkennen in Gott“ ist ganz einfach. Es ist kein rein menschliches Erkennen, keine gedankliche Eigenbewegung des Verstandes, kein schlußfolgerndes Denken. Die Seele schaut Gott dabei auch nicht unmittelbar, aber sie erlebt Gott und lernt Ihn durch das Erleben kennen. Wie der Bergsteiger von der allesüberragenden Höhe des Gipfels aus, das gesamte Umland mit einem einzigen Blick wahrnimmt, so die Seele, die den Gipfel der Weisheit, den „Standpunkt Gottes“ erlangt hat. Sie nimmt teil an der Erkenntnis Gottes. Aus jedem Kinderauge, aus jeder Blume des Feldes, aus den bescheidensten Erdendingen blickt der Seele stets Gott entgegen und spricht zu ihr von Seiner Größe, von Seiner Schönheit, von Seiner Güte und Liebe. In Seiner Offenbarung erzählt Er ihr noch mehr von Seiner Wesenheit, Seiner Heiligkeit, Seiner unbegrenzten Barmherzigkeit. Sie erkennt Gott als die höchste Ursache in Sich selbst. Sie erkennt in dem einen Blick, wie alles Geoffenbarte sich auf Gott zurückführen läßt und wie alles in Ihm eins ist. Dank dieser Gabe führte etwa der hl. Apostel Johannes die gesamte Gotteswissenschaft auf das Geheimnis des göttlichen Daseins zurück und drückte diese gewaltige Erkenntnis in jenem einfachen Wort aus, das für alle Zeit das Wesen Gottes unübertroffen beschreibt: „Gott ist die Liebe“ (1. Joh. 4, 16).

Mittels dieser Gabe faßte sodann der hl. Thomas von Aquin die Weite und Breite der in seiner „Summa theologiae“ dargestellten Systematik der göttlichen Glaubenslehre in dem einen Gedanken zusammen: „Gott ist gleichzeitig der erste Ursprung, aus dem alle Geschöpfe hervorgehen; das letzte Ziel, zu dem alle zurückkehren; und der Weg, dem sie folgen, um zu Ihm zurückzukehren“ (vgl. S. th. I, q. 2, intro.).

Einfache Seelen verkosten Gott mittels der „Gabe der Weisheit“ auf ihre Art. So tat es jene arme Kuhhirtin, von der berichtet wird, daß sie das „Vater unser“ nicht mehr zu Ende brachte. „Denn“, so sagte sie, „seit nahezu fünf Jahren, sobald ich das Wort ‚Vater‘ ausspreche und erwäge, daß Jener dort oben mein Vater ist, so weine ich und verbleibe so den ganzen Tag, während ich die Kühe hüte.“ So sehr war sie von der erfahrenen Bedeutungstiefe der Vaterschaft Gottes erfüllt, daß sich ihre Seele gar nicht mehr von diesem Einblick lösen konnte, um im Wortlaut des „Vater unser“ fortzufahren.

Sapientis est ordinare“ – Aufgabe des Weisen ist es, die Dinge zu ordnen. Wie wir gesagt haben, bedeutet das Wort „Sapientia“ auch soviel wie „Urteilskraft“. Die Seele blickt mittels der „Gabe der Weisheit“ nicht nur auf Gott, sondern auch auf die Geschöpfe. Sie tut das gleichsam durch die Augen Gottes. Die Gabe läßt sie die geschaffenen Dinge sehen, wie Gott sie sieht, und sie aus der Perspektive Gottes beurteilen und ordnen. Die Seele gewinnt einen übernatürlichen, fast göttlichen Weitblick über alles Seiende und Geschehende; ein Wissen, gegen das alle Gelehrtenweisheit Stückwerk ist. Sie fühlt instinktiv was Gott ist. D.h. sie erkennt das Wahre und Wirkliche mit einer Sicherheit des Urteils, die nur vom Schauen Gottes übertroffen wird; und zwar aus einem Instinkt heraus, der nicht nur alles Sinnliche, sondern alles Geschöpfliche übersteigt; nämlich aus dem unmittelbaren Instinkt des Heiligen Geistes. Der Geist Gottes ist in der Seele wirksam, wenn die Liebe ihre Erkenntnisquelle ist. Und in Gott erkennt sie auch alle Wirkungen die aus Ihm hervorgehen.

Die „Gabe der Wissenschaft“ geht unmittelbar von den geschaffenen Grundwahrheiten aus und steigt von ihnen auf zur unerschaffenen Wahrheit. Die „Gabe der Weisheit“ hingegen nimmt als Ausgangspunkt die einfache Liebeserkenntnis Gottes und ausgehend von dieser Erfahrung beurteilt sie das Göttliche, genauso wie alles Geschaffene, in seinen rechten Beziehungen zu Gott. Weisheit und Wissenschaft haben also denselben Erkenntnisgegenstand, aber das Verhältnis von Ausgangspunkt und Ziel ist bei ihnen gerade umgekehrt. Die Wissenschaft schaut vom Geschaffenen ausgehend zum Gipfel empor, während die Weisheit vom Gipfel herabblickt. Die Seele erkennt alle zum Seelenheil notwendigen Glaubenswahrheiten aus der Erkenntnis Gottes, ihrer ersten und höchsten Ursache; und zwar sowohl ihre theoretische Bedeutung, als auch ihren praktischen Wert. Und je vollkommener die Liebe und dabei die „Gabe der Weisheit“ ist; desto unmittelbarer werden alle Wahrheiten mit Gott in Verbindung gebracht und sowohl richtig erfaßt, als auch richtig eingeordnet.

Erst von diesem Standpunkt aus erschließt sich uns, die nach unserem Urteilsvermögen kaum nachvollziehbare Liebe der großen Heiligen zu Kreuz und Abtötung, zu Mühe und Verzicht, zu Demut, Sanftmut und Geduld. Nur wenn wir uns gedanklich auf den Gipfel versetzen und gleichsam aus der Perspektive Gottes auf Leiden, Opfer und Kreuz zu blicken versuchen, können wir das feurige, schier unersättliche Verlangen der Heiligen nach derlei Dingen verstehen, in dem sie scheinbar ihren einzigen Daseinszweck erblickt haben. Ausrufe wie jener der hl. Teresa: „Entweder Leiden oder sterben“, oder „Nicht sterben, sondern noch mehr leiden“ sind lediglich ein Echo, des Verlangens Christi nach Seiner erlösungsstiftenden Bluttaufe: „Mit einer Taufe aber muß Ich getauft werden, und wie drängt es Mich, bis sie vollzogen ist!“ (Lk. 12, 50). Wie Christus vom Gipfel Seiner Gottheit aus in dem Übel des Kreuzes die sühnende Quelle der Sündenvergebung und das Verdienst des ewigen Heiles aller erblickte, so erkannten die Heiligen mittels der „Gabe der Weisheit“ in ihren Abtötungen Werkzeuge, um ihrem Geliebten, dem gekreuzigten Christus, ähnlicher zu werden, und damit die Selbstlosigkeit ihrer hingegebenen Liebe zu beweisen, was sie in ihren Leiden aufjubeln ließ.

Die Vollendung der Gotteserkenntnis

Die volle Entfaltung der Weisheit führte bei manchen Heiligen dazu, daß sie in Schweigen verfielen oder gänzlich verstummten. Was sie in Gott erfahren haben, war zu gewaltig und zu heilig, als daß es in Worte gekleidet und ausgesprochen hätte werden können. Beispiele hierfür finden wir beim hl. Paulus und im hl. Thomas von Aquin. Der hl. Paulus berichtet von sich selbst folgendes: „Ich weiß von einem Menschen [er meint sich selbst] in Christus, der vor vierzehn Jahren – ob im Leib, ich weiß es nicht, ob außer dem Leib, ich weiß es nicht, Gott weiß es – entrückt wurde bis in den dritten Himmel. Und ich weiß, daß dieser Mensch – ob mit dem Leib oder außer dem Leib, ich weiß es nicht, Gott weiß es – in das Paradies entrückt wurde und unsagbare Worte hörte, die ein Mensch nicht aussprechen darf“ (2. Kor. 12, 2-4). Auch der hl. Thomas von Aquin, wurde wenige Wochen vor seinem Tod bei der Zelebration der hl. Messe derart ergriffen, daß der Jurist Bartholomäus von Capua in seiner Aussage im Kanonisationsprozeß des Aquinaten folgendes zu Protokoll gab: „Nach dieser Messe schrieb er nie mehr; auch diktierte er gar nichts mehr. Er entledigte sich sogar seines Schreibwerkzeugs. Er war bis zum dritten Teil der Summa, bis zur Abhandlung über die Buße gekommen.“ Auf die erstaunte Frage seines Sekretärs, Fr. Reginald von Piperno, der nicht verstehen konnte, weshalb der hl. Thomas sein Werk einfach abbrach und unvollendet stehen ließ, soll der Meister nur geantwortet haben: „Ich kann nicht mehr.“ Auf die erneute Frage Fr. Reginalds gab er dieselbe Antwort: „Ich kann nicht mehr. Alles, was ich geschrieben habe, kommt mir vor wie Stroh im Vergleich zu dem was ich gesehen habe“ (vgl. Torrell; S. 302).

Auch wenn vom Gipfel der „Gabe der Weisheit“ aus Gott in sich am vollkommensten erfahren und alles von Gott Geschaffene in Gott beurteilt werden kann, so bleibt die Erkenntnis Gottes in diesem Leben trotzdem noch unvollkommen; nur ein undeutliches Erkennen, „wie im Spiegel“ (1. Kor. 13,12), noch nicht „von Angesicht zu Angesicht“. Die Weisheit ist zwar in ihrem vollkommensten Grad eine Teilnahme an der Erkenntnistätigkeit Gottes – aber eben „nur“ eine Teilnahme. Selbst im Himmel ist ja das Schauen Gottes „von Angesicht zu Angesicht“ im beseligenden Licht der Glorie immer nur eine Teilnahme, weil allen Gott Sich selbst vollkommen erkennen kann; Er allein ist der unendlich vollkommene Geist, der über die unendliche Kapazität verfügt, die Gottheit vollumfänglich zu begreifen.

Zusammenfassend, läßt sich die „Gabe der Weisheit“ mit dem Kompendium des hl. Pius X. definieren als eine Gabe, „durch die wir unseren Geist von jenen irdischen und vergänglichen Dingen erheben und die ewigen betrachten, nämlich die ewige Weisheit, die Gott ist, indem wir uns freuen und den wir als unser höchstes Gut lieben“ (Nr. 919). Von den zwölf Früchten des Heiligen Geistes gehen besonders die vollkommensten Akte aus der „Gabe der Weisheit“ hervor, also diejenigen Früchte, die der hl. Paulus als erste im Galaterbrief aufzählt, nämlich: „Liebe, Friede, Freude“ (Gal. 5, 22).

Das Ruhen in der Ordnung

Eine Geistesfrucht unserer Gabe tritt dabei besonders deutlich hervor – der Friede. Der menschliche Wille ist so innig mit dem göttlichen geeint, daß die „Gabe der Weisheit“ in der Seele keine Gedanken, keine Wünsche, keine Worte, keine Handlungen mehr zuläßt, die nicht an der göttlichen Weisheit gemessen sind. Das Denken und das Handeln des Menschen werden völlig von der Erkenntnis Gottes, der höchsten Ursache und dem letzten Ziel, geleitet und geordnet. Die Seele ruht in Gott. Sie ruht gänzlich in der Ordnung Gottes und ist damit Christus, dem Urbild der Vollkommenheit, vollends gleichgestaltet. Deshalb genießt sie den vollkommensten Frieden, der auf Erden möglich ist, wie der hl. Augustinus erklärt: „Sobald das Ziel [einer Bewegung] erreicht ist, wird sogleich halt gemacht, wird ausgeruht, wird unter der Sicherheit des Friedens der Sieg gefeiert. Wer sonst aber wäre das Ziel, wenn nicht der Gott Christus? ‚Denn das Endziel des Gesetzes ist Christus, zur Gerechtigkeit für jeden, der glaubt.‘ (Röm. 10, 4). Und wer ist die Weisheit Gottes, wenn nicht Christus? Und wer ist der Sohn Gottes, wenn nicht Christus? In Ihm werden alle weise, in Ihm werden alle Söhne Gottes. Und darin besteht der vollkommene und fortwährende Friede“ (Sermo 347).

Der „Frieden“ ist die Ruhe in der Ordnung. Die Weisheit hat alles in der Seele nach dem Gesetz Christi geordnet und damit alles auf Gott hingelenkt; auf das letzte Ziel, welches der Seele gesetzt ist. Die Sünde vermag es nicht mehr, diese Ordnung zu stören. Derselbe hl. Kirchenvater führt dazu aus: „Dort ist die Vollkommenheit des Friedens, wo nichts Widerstand leistet. Und die Söhne Gottes sind Friedensstifter, weil nichts Gott widersteht, und Söhne doch ihrem Vater ähnlich sein sollen. Friedensstifter in sich selbst sind diejenigen, die alle Regungen ihrer Seele in Ordnung bringen und sie der Vernunft unterwerfen. … Sie werden zu einem Reich Gottes, in dem alles so geordnet ist. … Und dies ist der Friede, der den Menschen guten Willens auf Erden gegeben wird. Dies ist das Leben des vollentwickelten und vollkommenen Weisen“ (De Serm. Dom. in mont. I, 2). Darum entspricht der „Gabe der Weisheit“ jene Seligkeit, welche die „Friedfertigen“ preist und sie „Söhne Gottes“ nennt, wie abermals der hl. Augustinus erklärt: „Wenn deshalb bei Isaias (11, 2) für die Aufsteigenden an siebter Stelle die Weisheit steht, von woaus er als Lehrer zu uns herabgestiegen ist, so hat auch Christus, der uns emporführt, gleichfalls an siebter Stelle gesagt: ‚Selig die Friedfertigen, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden.‘ (Mt. 5, 8)“ (Sermo 347).

Dieser Friede, wie ihn allein Gott, nicht aber die Welt, geben kann, ist durch die „Gabe der Weisheit“ so in der Seele befestigt, so unumstößlich, daß selbst die größten Qualen und Torturen der Verfolger, ihn nicht mehr nennenswert berühren können. Im Gegenteil! Die Verfolgungen um der Gerechtigkeit willen fördern in der achten Seligkeit nur offen zutage, was sich ohne Verfolgung verborgen in der Seele des Weisen findet! Wieder führen wir hier den hl. Augustinus an: „Wenn dieser Friede innerlich hergestellt und gefestigt ist, so wird der Verworfene [der Satan], welche Verfolgungen er auch immer von außen anrichten mag, die Herrlichkeit, die Gott gebührt, nur noch mehr vermehren. Denn er kann nichts an diesem Bauwerk erschüttern, sondern macht durch das Scheitern seiner Machenschaften bekannt, mit welch großer Kraft es von innen nach außen errichtet worden ist. Daraus folgt: ‚Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich‘“ (De Serm. Dom. in mont. I, 2). „‚Wer will uns also scheiden von der Liebe Christi? Etwa Trübsal? oder Angst? oder Verfolgung? oder Hunger? oder Blöße? oder Gefahr? oder das Schwert?‘ (Röm. 8, 35). Sieben an der Zahl sind also die Dinge [die Seligkeiten der Geistesgaben], die zur Vollkommenheit führen; denn die achte [Seligkeit] bringt nur das Vollkommene ans Licht und zeigt es“ (De Serm. Dom. in mont. I, 3).

Damit ist die Bekehrung und Umgestaltung der Seele abgeschlossen. Der alte, sündhafte Mensch ist gänzlich abgelegt und der neue Mensch, „der nach Gott geschaffen ist, in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit“ (Eph. 4, 23), ist vollendet. Ursprünglich hatte ja Gott den ersten Menschen „nach Seinem Bild und Gleichnis“ (Gen. 1,26) erschaffen. Diese Ebenbildlichkeit des Menschen wurde durch die Sünde zerstört, jedoch durch die vollkommene Verähnlichung mit Christus, dem „eingeborenen Sohn Gottes“ und der „ewigen Weisheit“, wiederhergestellt. Der hl. Augustinus sagt: „Den Friedensstiftern wird das Ebenbild Gottes gegeben, da sie vollkommen weise sind und durch die Wiedergeburt des erneuerten Menschen nach dem Bilde Gottes geformt werden“ (De Serm. Dom. in mont. I, 4). Damit ist der Mensch vollends vergöttlicht. Nur eines bleibt ihm noch übrig: der Himmel im Himmel.

„Sende Deine Weisheit hernieder von Deinem heiligen Himmel“

Stellt sich für uns nur noch die Frage, wie man die Weisheit erlangt, wie man sich für den Einfluß der „Gabe der Weisheit“ empfänglich macht. – Antwort: Weil die „Gabe der Weisheit“ als die kostbarste Geistesgabe angesehen werden muß, die alle anderen Gaben überragt und in sich schließt, muß diese wie keine andere von Gott sehnlichst begehrt, durch ein heiliges Leben umworben und inständig durch das Gebet erfleht werden. D.h. die Weisheit kann nicht in Büchern oder durch natürliche Anstrengungen, sondern nur auf den Knien erlangt werden. – Das alttestamentliche Buch der Weisheit rät uns nachdrücklich, daß wir uns die göttliche Weisheit zur Braut, zur Gefährtin unseres ganzen Lebens wählen sollen. Mit gleicher Deutlichkeit finden wir in demselben Buch auch den Hinweis, daß man „ihrer nicht anders habhaft werde, als wenn Gott sie gibt. Auch das schon war Sache der Einsicht, zu wissen, wessen Gnade sie ist“ (Weis. 8, 21). Man kann sie nur durch demütiges Gebet erlangen, wie auch aus der heutigen Sonntagsepistel hervorgeht. Dort sagt der hl. Paulus: „Wir hören nicht auf, für euch zu beten und zu flehen, ihr möchtet erfüllt werden mit der Erkenntnis des Willens Gottes in aller Weisheit und geistigen Einsicht, auf daß ihr würdig und in allem Gott wohlgefällig wandelt, indem ihr an jeglichem guten Werke Frucht bringt und wachset in der Erkenntnis Gottes“ (Kol. 1, 9 f.) Um uns diese Gabe zu erflehen, wollen wir uns des schönen Gebetes König Salomons bedienen: „Gott meiner Väter, Herr der Barmherzigkeit. … Gib mir die Weisheit, Deines Thrones Beisitzerin, und verstoße mich nicht aus der Zahl Deiner Diener. Denn ich bin Dein Knecht und der Sohn Deiner Magd, ein schwacher Mensch, von kurzer Lebensdauer und von zu geringer Einsicht in Recht und Gesetz. … Sende Deine Weisheit hernieder von Deinem heiligen Himmel und von dem Throne Deiner Hoheit, daß sie mit mir sei und mit mir arbeite, damit ich wisse, was dir wohlgefällig ist. Denn sie weiß und versteht alles und wird mich in all meinem Tun verständig leiten und mich durch ihre Macht bewahren“ (Weis. 9, 1-12). Und wir fügen die Bitte hinzu: „Komm, o Geist der Weisheit, und laß nicht zu, daß irdische Weisheit unseren Geist blende und verwirre. Hauche uns vielmehr Deine Weisheit ein, die den Weisen dieser Welt verborgen ist, damit wir verkosten und sehen, wie gut der Herr ist, und in Deinem Lichte das ewige Licht schauen.“ Amen.

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