Königin der Barmherzigkeit

Geliebte Gottes!

Mitten in Paris befindet sich die Kirche Notre Dame des Victoires. Anfang des 19. Jahrhunderts, also in der Zeit nach der französischen Revolution, war das Stadtviertel um jene Kirche ein Mittelpunkt des Handels und des Gewerbes, mit vielen Schauspielhäusern und Vergnügungsorten, wo die Menschen eher dem Gewinn, dem Genuß und der Wollust nachjagten, statt ihren religiösen Pflichten zu entsprechen. Die Kirche war selbst an den höchsten Festtagen des Jahres verödet. Die jahrelangen Bemühungen des eifrigen Pfarrers Charles Desgenettes blieben fruchtlos. Jeder religiöse Sinn schien erstorben. In seiner Niedergeschlagenheit und Sorge um den beklagenswerten Zustand der ihm anvertrauten Seelen, brachte Abbé Desgenettes am 3. Dezember des Jahres 1836 am Muttergottesalter seiner Kirche das hl. Meßopfer dar. Während der Meßfeier erhielt er die Eingebung: „Weihe deine Pfarrei dem heiligen und unbefleckten Herzen Mariens, der Zuflucht der Sünder.“ Der inneren Stimme folgend entwarf der Pfarrer die Satzung für eine Gebetsvereinigung, welche sich die Andacht zum Unbefleckten Herzen Mariens und das Gebet für die Bekehrung der Sünder zum Ziel setzte. Er beschloß die Weihe seiner Pfarrei am Abend des 11. Dezember, des 3. Adventsonntags, vorzunehmen.

Der seeleneifrige Hirte berichtete von jenem Tag folgendes: „Während des ganzen Tages schwankte ich zwischen Furcht und Unruhe und einigen Strahlen von Hoffnung. Ich rechnete nach der Zahl der Gläubigen beim Hochamt, daß kaum mehr als 60 bis 70 am Abend erscheinen würden. Und siehe da! Um 19.00 Uhr fand ich in der Kirche eine Versammlung von 400 bis 500 Personen. Niemals, außer an den hohen Festtagen von Weihnachten und Ostern, hatte ich in dieser Kirche so viele Leute gesehen, und namentlich nie so viele Männer. Wer hatte sie hereingeführt? Die Mehrzahl wußte nicht einmal, was vorging, sondern nur der Umstand, daß sie die Kirche zu einer so ungewöhnlich späten Stunde beleuchtet und noch offen sahen, hatte sie veranlaßt, hereinzukommen. Der Vesper wurde zwar mit Ruhe aber mit Gleichgültigkeit beigewohnt: man wußte nicht, warum man da war. Es folgte dann eine Erklärung der Absicht und des Zwecks der Zusammenkunft, welche mit der größten Aufmerksamkeit angehört wurde. Der Eindruck, den dieselbe gemacht hatte, gab sich sogleich kund; denn diese Menge von Gläubigen, welche an der Vesper kaum Anteil zu nehmen schien, sprach mit Gefühl und herzlicher Andacht die Gebete vor dem Segen; die Inbrunst verdoppelte sich während der Litanei bei der Anrufung: ‚Du Zuflucht der Sünder, bitte für uns!‘ welche aus freien Stücken dreimal wiederholt wurde, sowie bei dem ‚Verschone uns, o Herr!‘ Ich kniete vor dem Allerheiligsten Sakrament. Bei diesem Ausruf der Reue und der Liebe bebte mein Herz vor Freude, ich erhob mein Auge voll Tränen zu dem Bildnisse Mariens und wagte, ihr zu sagen: ‚Meine liebe Mutter, du hörst den Ruf der Liebe und des Vertrauens, du wirst sie retten, diese armen Sünder, die dich ihre Zuflucht nennen! O Maria, nimm diesen frommen Bund an.‘“

Abbé Desgenettes erbat sich sodann von der Gottesmutter als Zeichen ihres Waltens die Bekehrung eines hartnäckigen Sünders seiner Pfarrei; eines inzwischen erblindeten, ehemaligen Staatsbeamten, der ganz der gottlosen Philosophie der Aufklärung hingegeben war. Seit seiner Jugend hatte er sich nicht mehr um Religion gekümmert und hatte bereits mehrmals Ausreden erfunden, um einem Besuch des Abbé Desgenettes‘ auszuweichen. – Die Gottesmutter sandte das erbetene Zeichen: Es gelang dem Pfarrer zu dem kranken Herrn vorzudringen. Dieser bat ihn nach einem höflichen Gespräch um den priesterlichen Segen. Aber der Pfarrer war nicht eher bereit zu gehen, bis er die Beichte des Kranken entgegengenommen hatte. All das geschah auf wundersame Weise völlig problemlos.

Wenige Wochen später, am 12. Januar, gab der Erzbischof von Paris seine Gutheißung für die Statuten der Bruderschaft und erlaubte den Gläubigen sich in dieselbe einschreiben zu lassen. Kaum hatte diese sich gebildet und ihre Gebetsübungen zur Bekehrung der Sünder begonnen, zeigte sich schon bald eine Veränderung im religiös-sittlichen Zustand der Pfarrei. Die hl. Messen und die anderen gottesdienstlichen Handlungen wurden zahlreich besucht. Die Zahl der Beichten und Kommunionen verdreifachte sich, wobei die Beichtväter nicht selten bis Mitternacht in Anspruch genommen wurden. Auch die wundersamen Bekehrungen häuften sich.

Ein Jahr später bestätigte Papst Gregor XVI. die Statuten durch ein Breve vom 24. April 1838 und errichtete das Werk als „Erzbruderschaft des heiligsten und unbefleckten Herzens Mariä zur Bekehrung der Sünder“. Der Papst erlaubte die Einschreibung weltweit und bedachte die fromme Vereinigung mit mehreren Ablässen. Neun Monate später zählte man bereits 58.962 Mitglieder. Abbé Desgenettes berichtete: „Von allen Seiten strömt man herbei, um das Gebet unserer Mitglieder für Sünder zu verlangen.“ Bald sind es trostlose Eltern, bald betrübte Ehegatten, fromme Seelen, und selbst Sünder, die zum Unbefleckten Herzen Mariens Zuflucht nehmen, um Bekehrung von den Sünden zu erlangen.

Ja, nicht erst seit den Erscheinungen der Gottesmutter in Fatima wird die Andacht zum Unbefleckten Herzen Mariens zur Bekehrung der Sünder gepflegt, wenngleich sie dadurch eine noch größere Aufmerksamkeit erfahren hat als das bisher der Fall gewesen war. Ferner wird Maria schon seit Jahrhunderten in der Litanei mit den Titeln „Mutter der Barmherzigkeit“ und „Zuflucht der Sünder“ angerufen. Da unsere Kapelle unter dem Patronat des Unbefleckten Herzens Mariä steht, wollen wir versuchen, bei der heutigen Festfeier ein klein wenig tiefer zu verstehen, warum die Sorge um die Bekehrung der Sünder der unbefleckten Gottesmutter ein solches Herzensanliegen ist. Dabei wollen wir versuchen folgenden Fragen nachzugehen:

  1. Was bewegt Maria dazu, sich um die Sünder zu sorgen? Warum sorgt sie sich?
  2. Was gibt Maria die Macht, den Sündern Barmherzigkeit zu erwirken? Wie kann sie es?
  3. Was können wir tun, um Maria in ihrer Sorge um die Sünder zu helfen? Was verlangt sie von uns?

Das mütterliche Mitleid Mariens mit den Sündern

Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir uns kurz ins Gedächtnis rufen, was „Sünde“ eigentlich bedeutet? – Die Sünde bedeutet Trennung von Gott und Entfernung von der Liebe. Die Sünde war Maria gänzlich fremd. Ja, Maria haßt die Sünde sogar abgrundtief, weil sie aufgrund ihrer makellosen Reinheit am klarsten und ungetrübtesten das schreiende Unrecht erkennt, das Gott durch eine Sünde zugefügt wird. – Trotzdem begegnet Maria dem Sünder nicht mit dem Flammenschwert eines Cherub, sondern mit der größten Barmherzigkeit und Milde. Wie ist das zu erklären? – Wie gesagt: Maria ist die Sünde, aufgrund ihrer unbefleckten Empfängnis, vollkommen fremd; nicht aber das Elend, das aus ihr erwächst.

Auch Maria hatte Gott verloren. Sie verlor Ihn nicht durch einen moralischen Fehltritt wie der Sünder, sondern physisch in jenen unendlich scheinenden drei Tagen, als ihr göttlicher Sohn erst zwölf Jahre alt war. Maria erfuhr hier etwas von dem Elend und von der Verzweiflung derer, die Christus noch nicht gefunden oder Ihn wieder verloren hatten. Während sie verzweifelt suchend und fragend, bittend und flehend an einer Türe nach der anderen anklopfte, spürte sie etwas von dem Schmerz, den die Gottferne der Seele bereitet, die doch für Gott geschaffen ist. Dieses unschuldig erfahrene Leid machte das Herz Mariens voll des Mitleids für die Sünder, die sich freiwillig und selbstverschuldet in das Unglück der Gottferne gestürzt haben. In diesen Tagen erfuhr Maria das Leid der Sünde in ihrem eigenen Herzen, den schmerzlichen Verlust Gottes und die Einsamkeit der Seele; und zwar verspürte es ihr unbeflecktes Herz um ein vielfaches, als es die abgestumpften Sünder tun. Sie wußte es also nicht nur in Form einer theoretischen, geistigen Erkenntnis, sondern aus einer unmittelbaren persönlichen Erfahrung. So bereitete Gott das Herz der allerseligsten Jungfrau Maria auf ihr großes Amt vor, „Mutter der Barmherzigkeit“ und „Zuflucht der Sünder“ zu werden.

Weil Maria aus Erfahrung weiß, was es heißt Gott zu verlieren, deshalb wird sie um jede Seele kämpfen; sie wird mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln Einfluß nehmen, sowohl am Gnadenthron Gottes, als auch auf den Sünder selbst. Nichts läßt sie unversucht, um das Unglück abzuwenden, welches einen elenden Sünder seinen Gott nicht nur für drei Tage, sondern in alle Ewigkeit entbehren ließe. So wird Maria tätig, wie jene unermüdliche Frau aus dem Gleichnis ihres göttlichen Sohnes. Von ihren zehn Drachmen verlor diese nur eine einzige. Sie „zündet ein Licht an und kehrt das Haus aus und sucht sorgfältig, bis sie dieselbe findet. Hat sie dann dieselbe gefunden, so ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen zusammen und spricht: Freut euch mit mir, denn ich habe die Drachme gefunden, die ich verloren hatte“ (Lk. 15 ,8 f.). Und Maria wird zu jedem bekehrten Sünder in aufrichtiger, schmerzgeprüfter Liebe sprechen: „Mein Sohn, warum hast du uns so getan. Siehe, mit Schmerzen haben wir dich gesucht“ (vgl. Lk. 2, 48).

All jene, die tatsächlich ewig verlorengehen, haben gemeinsam, daß sie sich nicht haben von Maria finden lassen wollen. Auch wenn die Heilige Schrift darüber schweigt, so nehmen doch einige fromme Schriftausleger an, daß Judas Iskarioth, sowohl auf seinem Weg zum Verrat, als auch wenige Stunden später auf dem Weg zum „Blutacker“ (vgl. Apg. 1, 18), bereits den Strick über dem Arm tragend, absichtlich einen Umweg machte, um der Mutter Jesu nicht zu begegnen. Obwohl Judas ihren göttlichen Sohn ans Kreuz geliefert hatte, hätte Maria wohl keinem bereitwilliger verziehen als dem Judas. Weil Judas Iskarioth aber der Gottesmutter absichtlich den Rücken kehrte, war sein ewiges Schicksal besiegelt. Er „ging hin und erhängte sich“ (Mt. 27, 5).

Umgekehrt fand der in Tränen aufgelöste Simon Petrus den Weg zurück. Gewiß flüchtete er sich in seinem Elend zur Mutter dessen, den er dreimal so schmählich verleugnet hatte. Und Maria beruhigte ihn und riet ihm, wie er sich mit ihrem göttlichen Sohn wieder aussöhnen könne. Von den Aposteln lesen wir in der Apostelgeschichte, daß sie sich nach der Himmelfahrt des Herrn, einsam und verlassen, im Abendmahlsaal versammelten, um „+Maria, die Mutter Jesu“* (Apg. 1, 14). Ist da nicht anzunehmen, daß sie schon zuvor, nachdem sie den Herrn im Ölgarten verlassen hatten und jetzt ihre feige Flucht bereuten, die Nähe zu Maria suchten, um bei ihr Zuflucht zu suchen?

Das zarte Mitgefühl der Gottesmutter mit dem Elend der Sünder bewog den hl. Anselm zu dem Ausspruch, daß Maria „mehr für die Sünder als für die Gerechten“ Muttergottes geworden sei. Das kann kaum bezweifelt werden, da ja unser Herr Jesus Christus selbst von sich sagte: „Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu berufen, sondern Sünder“ (Lk. 5, 29. 32). Deshalb kümmert sich Maria also so aufopferungsvoll um die Sünder, weil sie aus Erfahrung weiß, was es heißt Gott zu verlieren und weil sie es nicht ertragen kann, eine Seele des höchsten Gutes ewiglich beraubt zu sehen.

Königin der Barmherzigkeit

Unsere zweite Frage lautet, woher Maria die Macht hat, den Sündern Barmherzigkeit zu erweisen. Antwort: Weil sie das Recht und die Macht dazu erhalten hat, dies zu tun. Zweimal in der Heilsgeschichte versprachen mächtige Könige einer Frau ihr halbes Königreich: Einmal, als eine Frau durch ihre Lasterhaftigkeit einen König betörte. Das andere Mal, als eine Frau einen König durch ihre Tugend beeindruckte. – Herodes Antipas sagte, als er seine Stieftochter Salome tanzen sah, und weniger durch den Wein als durch ihren wollüstigen Tanz berauscht war: „Verlange von mir, was immer du willst, und ich werde es dir geben, und wäre es auch mein halbes Königreich“ (Mk. 6, 23). Salome beriet sich mit ihrer ehebrecherischen Mutter Herodias. Diese riet ihr: „Verlange das Haupt Johannes des Täufers“ (Mk. 6, 24), damit dessen Anprangerung von Ehescheidung und Wiederverheiratung, ein für alle Mal verstumme. So verlor der hl. Johannes durch den Einfluß einer Frau den Kopf. Doch besser ist es den Kopf wie Johannes zu verlieren, als wie Herodes.

Der andere König war der Perserkönig Xerxes, oder Assuerus, wie er von der Heiligen Schrift genannt wird. Er hatte, von einer hinterhältigen Intrige getäuscht, beschlossen die Juden aus seinem gesamten Reich durch das Schwert auszurotten. Die schöne Jungfrau Esther, eine Jüdin, fastete, bevor sie zu König Xerxes ging, um Gnade für ihr Volk zu erflehen. Durch ihr Fasten wurde sie noch schöner. Als der Großkönig die Schönheit der Frau sah, wurde er besänftigt und sprach: „Erbitte von mir alles, was du begehrst, und ich will es dir geben, und wenn es die Hälfte meines Königreiches wäre“ (Est. 5, 6). Im Gegensatz zu Salome erbat Esther nicht den Tod, sondern das Leben, und ihr Volk wurde gerettet. So wurde der Einfluß den Esther auf den König nahm, zum Vorbild für die Fürsprache Mariens.

Es kommt der Frau von Natur aus zu, auf den Mann Einfluß zu nehmen. Sie ist dem Mann von Gott als Gefährtin zur Seite gegeben worden. Entweder ist sie Verführerin zum Bösen, wie Salome, oder sie nimmt Einfluß zum Guten, wie Esther. Einige Kirchenväter haben gelehrt, daß Christus die Hälfte Seines Reiches, als „Königreich der Gerechtigkeit“ für Sich behält, daß Er aber die andere Hälfte, das „Königreich der Barmherzigkeit“, Seiner unbefleckten Mutter überlassen hat.

Bei der Hochzeit zu Kana sagte unser göttlicher Erlöser, daß „Seine Stunde“, nämlich die Stunde der Gerechtigkeit, in der durch Sein Leiden und Sterben am Kreuz die Erlösung vollzogen werde, noch nicht gekommen sei. Aber Seine makellose Mutter bat Ihn, von Mitleid gerührt, nicht zu warten, sondern barmherzig zu sein und dem notleidenden Brautpaar zu helfen. Maria nahm Einfluß auf ihren Sohn und es verwandelte sich das Wasser in Wein. – Drei Jahre später, als nicht Wasser in Wein, sondern Wein in Blut verwandelt worden war, da war die Stunde der Gerechtigkeit gekommen. „Als nun Jesus die Mutter und den Jünger, den Er liebhatte, stehen sah, da sprach Er zu Seiner Mutter: ‚Frau, siehe, dein Sohn!‘ Dann sprach Er zu dem Jünger: ‚Siehe, deine Mutter!‘ Und von jener Stunde (!) an nahm sie der Jünger zu sich“ (Joh. 19,2 6 f.). In Kana war die Stunde der Gerechtigkeit noch nicht gekommen, doch wurde Christus von Maria sanft dazu bewegt, schon auf der Hochzeit den Wein der Barmherzigkeit auszugießen, indem sie, erfüllt von vertrauensvoller Ergebenheit in Seinen göttlichen Willen, den Dienern die Weisung gab: „Was Er euch sagt, das tut!“ (Joh. 2, 5). – Als dann am Kreuz die Stunde der Gerechtigkeit erfüllt war, da verzichtete der Gottessohn auf Sein halbes Königreich, indem Er uns durch eine Anweisung Seinerseits Maria zur Mutter gab: „Siehe, da deine Mutter!“ Wenn Maria nun fortan unsere Mutter und wir ihre Kinder sind, was sagte Er also anderes als: „Was sie euch sagt, das tut!“? Wenn wir aber der Befehlsgewalt Mariens unterworfen sind, dann ist sie unter dem Kreuz wahrhaft Königin im Reiche Gottes geworden. Es hat dem Gottessohn gefallen die Wandlungskraft über die Herzen an Maria abzutreten, damit fortan auf ihre Fürbitte hin das laue Wasser unserer Sündhaftigkeit, das vom König und Richter der Gerechtigkeit nur ausgespien werden kann (vgl. Offb. 3, 16), in den besten Wein der Reue und Barmherzigkeit verwandelt werde.

Weil Maria unter dem Kreuz unsere Mutter und die Königin der Barmherzigkeit geworden ist, so ragt die Macht ihrer Fürsprache weit über die aller anderen Heiligen zusammengenommen hinaus. Zu Recht spricht sie der hl. Augustinus mit den Worten an: „Was alle anderen Heiligen mit deiner Hilfe erreichen können, das vermagst du alleine, ohne sie zu tun.“

Die Bekehrung der Sünder verdienen

Doch gehört es nicht nur zum königlichen Amt Mariens, die Bekehrungsgnade für die Sünder am Throne Gottes zu erflehen und auszuteilen. Sie mußte sie zuvor als Frau, Mutter und Königin auch mitverdienen. Das Leben bringt manche Trübsale, die ganz besonders von der Frau, und weniger vom Mann, empfunden werden. Das ist der Grund, warum beim Erlösungsopfer für die Sünden auf dem Kalvarienberg zusammen mit dem neuen Adam auch eine neue Eva mitwirken sollte. Daher wurde Maria als Frau berufen, am Fuß des Kreuzes zu stehen, als der Sohn Gottes litt. Er litt auch für Maria. Aber die Qualen und den Schmerz, den nur Frauen fühlen können, opferte Maria in Verbindung mit Ihm.

Einer jener Schmerzen ist die Schande der unverheirateten Mütter. Das war Maria zwar nicht, denn sie war mit dem hl. Joseph verheiratet. Aber bis der Engel dem hl. Joseph den göttlichen Ursprung des Jesuskindes mitteilte, daß sie eben vom Heiligen Geiste und nicht von einem fremden Mann empfangen hatte, mußte Maria das große Leid aller Mütter teilen, die ein uneheliches Kind unter dem Herzen tragen.

Angstgequälte Mütter, deren Söhne in den Krieg ziehen, rufen Maria an, die auch einen Sohn hatte, der in den Kampf ziehen mußte – nämlich gegen das Reich und die Macht der Hölle. Sie ging sogar mit Ihm auf das Schlachtfeld von Golgotha; und ihre Seele wurde schwer verwundet. Als nämlich der Stahl der Lanze das leblose Herz Jesu durchbohrte, da hatte Er längst ausgelitten; doch traf die Klinge mit beißender Schärfe das Herz der Mutter: „Auch deine Seele [dein Herz] wird von einem Schwert durchbohrt“ (vgl. Lk. 2, 35).

Maria wird angerufen von Müttern, deren Kinder mit einem Leiden auf die Welt kommen; mit einer Behinderung körperlicher oder geistiger Art; ohne Verstand oder Sprache; oder von Müttern, die bereits den Schatten des drohenden Todes über ihren Kindern fühlen. Sie können ihre Sorge zum mitfühlenden Herzen Mariens tragen, über das gleichfalls ein Meer von Leiden hereingebrochen war. Maria weiß, was es bedeutet, ein Kind zu haben, das ein tägliches Kreuz sein wird. – Die drei Weisen brachten ihr anläßlich der Geburt des Jesuskindes Myrrhe für Sein Begräbnis, um anzudeuten, daß Er für den Tod bestimmt sei. Und als Jesus vierzig Tage alt war, sagte ihr der greise Simeon mit klaren Worten voraus, was sich fortan täglich im Leben ihres Kindes bewahrheiten sollte; nämlich daß ihr Sohn „ein Zeichen sei, dem widersprochen“ würde. Es ist ein beständiges Kreuz für Mütter, wenn sie ihre Kinder Anfeindungen, Haß und Verfolgungen durch ihre Umwelt ausgesetzt sehen.

„Und von jener Stunde an, nahm sie der Jünger zu sich.“

Maria hat als Frau, Mutter und Königin zusammen mit Christus gelitten, um uns ein Vorbild zu geben, wie auch wir die in der Vergebung der Sünden erwiesene Barmherzigkeit teuer verdienen müssen. Von dem „Jünger, den Jesus lieb hatte“, heißt es, daß er Maria „zu sich“ nahm. Daß er ihr und in seinem Leben den Platz einräumte, der ihr als Königin der Barmherzigkeit zukommt, und ihr die Unterstützung leistet, derer sie für ihre Aufgabe bedarf. Mit anderen Worten: Wer Maria „zu sich nimmt“, der läßt sich von ihr in Dienst nehmen.

Die Frage, die Maria am 13. Mai 1917 bei ihrer ersten Erscheinung in Fatima den drei Hirtenkindern vorlegte, richtet sich an alle Verehrer ihres Unbefleckten Herzens: „Wollt ihr euch Gott schenken, bereit, jedes Opfer zu bringen und jedes Leiden anzunehmen, die Er euch schicken wird, als Sühne für die vielen Sünden, durch die Seine göttliche Majestät beleidigt wird, und um die Bekehrung der Sünder zu erlangen?“ Die Kinder willigten mutig ein. Und unverblümt fuhr die Gottesmutter fort: „Ihr werdet bald viel zu leiden haben, aber die Gnade Gottes wird euch helfen und euch die Kraft geben, die ihr braucht.“ Später milderte sie die Schärfe mit der tröstlichen Verheißung: „Wer die Andacht zu meinem Unbefleckten Herzen übt, dem verspreche ich das Heil“ (13. Juni 1917). Sodann erklärte sie genauer, wie wir ihr dienen sollen: „Opfert euch auf für die Sünder und sagt oft, besonders wenn ihr ein Opfer bringt: ‚O Jesus, das tue ich aus Liebe zu Dir, für die Bekehrung der Sünder und zur Sühne für die Sünden gegen das Unbefleckte Herz Mariens‘“ (13. Juli 1917).

Wenn wir Maria „zu uns nehmen“ und als Verehrer ihres Unbefleckten Herzens in den von ihr erbetenen Dienst zur Bekehrung der Sünder eintreten wollen, dann müssen wir besonders zwei Dinge beherzigen:

  1. Wir müssen uns wie Maria um das Mitgefühl mit den Sündern bemühen und dabei die Worte des hl. Augustinus beachten: „Wenn du urteilst, liebe den Menschen, hasse den Fehler. Liebe nicht den Fehler wegen des Menschen, hasse nicht den Menschen wegen des Fehlers. Der Mensch ist dein Nächster. Der Fehler ist der Feind deines Nächsten“ (Serm. 49, 5 PL 38). Sollten wir, die wir Christus zwar kennen, innerlich verhärtet sein, bigott, kalt und vielleicht sogar haßerfüllt im Urteil gegen den Nächsten, dann sollte uns bewußt sein, daß uns die mütterliche Liebe Mariens fehlt, und ihr unsere Gebete und Opfer aufgrund einer gewissen pharisäischen Herzenshärte nicht viel helfen können, Sünder zu bekehren.
  2. Einem Sünder Hoffnung zu machen, er dürfe sich reelle Chancen ausrechnen gerettet zu werden, wenn er nur die Gottesmutter verehre und zu ihr Zuflucht nehme, ohne aber sein Leben durch eine echte Bekehrung und Buße zu bessern, hieße den Nächsten um sein ewiges Heil zu betrügen. Zuflucht zu Maria nehmen heißt nichts anderes, als mit der Sünde brechen wollen! Maria ist nicht schlechthin die Mutter der Sünder, sondern die Mutter derjenigen Sünder, die den Willen haben, sich zu bekehren. So hat es die Gottesmutter selbst der hl. Birgitta gesagt: „Ich bin nicht allein die Mutter der Gerechten und Schuldlosen, sondern auch der Sünder, wenn diese nur den Willen haben, sich zu bessern“ (Rev. 1. 4; c. 128). „Wie schuldbeladen auch ein Sünder ist, so bin ich doch alsbald bereit ihn, wenn er umkehrt, aufzunehmen. Ich sehe nicht auf die Größe seiner Schuld, sondern auf die Gesinnung, in der er umkehrt, denn ich verschmähe es nicht, seine Wunden zu salben und zu heilen, da ich die Mutter der Barmherzigkeit heiße und in Wahrheit bin“ (Rev. 1. 2; c. 23; Rev. 1. 6; c.117). Deshalb schrieb der hl. Papst Gregor VII. in einem Brief: „Mache dem Willen zu sündigen ein Ende, und du wirst, ich verspreche es dir unbedenklich, Maria bereitwilliger finden dich zu lieben, als jede leibliche Mutter“ (Lib. 1; ep. 47). „Solange darum der Sünder verstockt ist, kann ihn Maria nicht lieben“, sagt der hl. Alfons.

Da sich die Dinge eben so verhalten, wollen wir abschließend zusammen mit demselben hl. Kirchenlehrer zu Maria, der Königin der Barmherzigkeit, beten: „Ich liebe dich meine Mutter, und ich möchte ein Herz haben, das dich zu lieben vermöchte für alle jene Unglücklichen, die dich nicht lieben. … Ich liebe dich also, meine Mutter aber zu gleicher Zeit fürchte ich, dich nicht wirklich zu lieben. Denn ich hörte sagen, daß die Liebe den Liebenden der geliebten Person ähnlich macht. – ‚Die Liebe findet entweder Gleiche, oder macht Gleiche.‘ – Da ich mich also dir so unähnlich sehe, so ist das ein Zeichen, daß ich dich nicht wirklich liebe. Du bist so rein, ich so unrein! Du bist so demütig, ich so stolz! Du bist so heilig, ich so unheilig! Aber eben dies mußt du bewirken, o Maria; da du mich liebst, mache du mich dir ähnlich! Du hast ja vollkommene Macht, die Herzen umzuwandeln; nimm also das Meine und wandele es um. Laß die Welt erkennen, was du für jene, die du liebst, zu tun vermagst. Mache mich heilig; mache mich zu deinem würdigen Kind. Also hoffe ich; also sei es.“ Amen.

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