Sonntag in der Oktav von Christi Himmelfahrt
Die Gnadenmittlerschaft Mariens
Geliebte Gottes!
Die heiligmachende Gnade ist die Wurzel des ewigen Lebens, der Keimling der himmlischen Glorie. Durch ihre Eingießung treten wir in den Liebesbund der drei göttlichen Personen, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes ein. Die heiligste Dreifaltigkeit nimmt durch die Gnade Wohnung in der Seele, macht sie gerecht und heilig. Diesen einzigartigen Anteil am göttlichen Leben empfangen wir einzig durch die Vermittlung des Gottmenschen Jesus Christus, welcher allein „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh. 14, 6) ist. „In Ihm allein ist Heil; denn es ist kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, in dem wir selig werden könnten“ (Apg. 4, 12). Christus ist der einzige Mittler des Heiles, wie Er mit Nachdruck sagt: „Niemand kommt zum Vater, außer durch Mich“ (Joh. 14, 6). Durch Seine Mittlerschaft tritt der Mensch in ein familiäres Verhältnis mit Gott, der ihn an Kindesstatt annimmt. Und als Kind Gottes darf der Mensch dann mit Fug und Recht sprechen: „Vater unser, der Du bist im Himmel.“ – Wenn nun jeder Mensch im Gnadenstand Gott zum Vater hat, muß dann nicht auch jedes Gotteskind eine Mutter haben? Ja, wir nennen Maria „unsere himmlische Mutter“, und in der Tat handelt es sich dabei nicht nur um einen fromm klingenden Titel, sondern um Realität. Denn Maria hat uns wirklich das übernatürliche Gnadenleben mitgeteilt, wie eine Mutter ihren Kindern das natürliche Leben schenkt. Deshalb wird die Gottesmutter von der Kirche in einem eigenen Fest, das an bestimmten Orten am 31. Mai gehalten wird, als „Mittlerin aller Gnaden“ gefeiert. Doch wie ist das mit dem vereinbar, was wir soeben von der einzigen Mittlerschaft Jesu Christi gesagt haben?
Es wäre irrig, wollte man zu unserem Herrn Jesus Christus gehen, ohne sich dabei an Maria zu wenden. Diesem Irrtum sind vor allem die Protestanten zum Opfer gefallen. Aber es gibt auch Katholiken, die nicht genug erkennen, wie notwendig es ist, sich an Maria zu wenden, um zur vertrauten Freundschaft mit Christus und zum Wachstum der übernatürlichen Gottesliebe zu gelangen. Es gibt auch Katholiken, die fürchten durch eine „zu große“ Verehrung Mariens Christus zurückzusetzen und Ihm Unrecht zu tun. Als wäre Maria statt ein notwendiges Mittel, eher ein Hindernis für die Vereinigung mit Gott. Der hl. Ludwig Grignion von Montfort sagt, es läge ein Mangel an Demut darin, die Mittel, die Gott uns aufgrund unserer Schwäche gegeben hat, außer acht zu lassen. Um nicht in derlei Fehler zu fallen, ist es für uns wichtig, daß wir uns eine richtige Vorstellung von der Mittlerschaft Mariens machen. Dazu müssen wir versuchen zwei Fragen zu klären: 1. Was versteht man unter der „allgemeinen Mittlerschaft“? 2. Wie genau ist die Mittlerschaft Mariens beschaffen?
Die allgemeine Mittlerschaft
Der hl. Thomas von Aquin sagt von der Mittlerschaft: „Zum Amt des Mittlers gehört es im eigentlichen Sinne, diejenigen einander nahe zu bringen und zu vereinigen, zwischen denen er Mittler ist. Denn die äußersten Enden werden vereinigt durch einen Mittler“ (S.th. III, 26, 1). Zur Veranschaulichung: Ein breiter Abgrund trennt die Menschen auf der einen Seite von denen auf der anderen. Um die beiden Seiten miteinander zu verbinden muß eine Brücke über den Abgrund hinweg gebaut werden. Die Brücke ist der Mittler. Sie ist mit beiden Seiten verbunden und kann deshalb die äußersten Enden zusammenführen. Der hl. Thomas fährt fort: „Nun kommt aber die Vereinigung der Menschen mit Gott vollkommen Christus zu, der sie mit Gott versöhnt hat, nach dem Wort des hl. Paulus: ‚Gott hat die Welt mit sich versöhnt in Christus.‘ (2. Kor. 5, 19). Also ist Christus vollkommener Mittler zwischen Gott und den Menschen, insofern Er durch Seinen Tod das Menschengeschlecht mit Gott versöhnt hat. Darum fügt auch der hl. Paulus, nachdem er betont hat: ‚Es ist ein einziger Mittler zwischen Gott und den Menschen, der Mensch Christus Jesus‘ (1. Tim. 2, 5) hinzu: ‚der sich selbst für alle als Lösepreis dahingegeben hat.‘“ Die Überbrückung des Abgrundes besteht also wesentlich in der Wiedergutmachung der Sünde, die den Menschen von Gott trennt. Der Mittler mußte dazu in der Lage sein, die unendliche Schuld zu sühnen. Das setzt aber voraus, daß er sowohl wahrer Gott als auch wahrer Mensch sein muß. Weiter der hl. Thomas: „Christus ist Mittler, insofern Er Mensch ist. Denn gerade als Mensch steht Er zwischen den beiden Gegensätzen; durch Seine (menschliche) Natur steht Er unter Gott, durch die Würde Seiner (göttlichen) Person, die Gnade und die die Glorie über den Menschen.“ Der Gottmensch ist von Ewigkeit mit der Gottheit vereinigt. Damit ist der erste Brückenkopf vorhanden. Kraft Seiner Menschheit, die Er aus Maria angenommen hat, ist Christus mit dem Menschengeschlecht vereinigt. Das ist der zweite Brückenkopf, der Ihn zur vereinigenden Brücke über den Abgrund der Sünde hinweg macht. Jesus hat am Kreuz in Seiner heiligen Menschheit für das Menschengeschlecht Genugtuung geleistet. Durch Seine göttliche Würde erlangt diese Sühne einen unendlichen Wert, ein unendliches Verdienst. Darin besteht das einzigartige Alleinstellungsmerkmal der Mittlerschaft Christi.
In der Mittlerschaft Christi findet sich nun eine doppelte Vermittlung – eine herabsteigende und eine aufsteigende. Die herabsteigende Mittlerschaft besteht darin, den Menschen das Licht der göttlichen Wahrheit und der göttlichen Gnade zu bringen. Das ist die von Gott absteigende Vermittlung Christi. Andererseits bringt Er Gott in Seinem Opfer am Kreuz stellvertretend für die Menschen die Verehrung und Wiedergutmachung dar, welche Gott gebührt. Das ist die von den Menschen zu Gott aufsteigende Mittlerschaft Christi. Diese Mittlertätigkeit ist einzigartig und kommt nur Christus, dem Gottmenschen zu.
Doch der Aquinate sagt ferner: „Es ist aber gar kein Hindernis, daß andere in bestimmter Hinsicht Mittler zwischen Gott und den Menschen genannt werden, insofern sie zur Vereinigung der Menschen mit Gott in vorbereitender Weise als Diener mitwirken“ (ebd.). In diesem Sinne können die Propheten und Priester des Alten Bundes „Mittler“ genannt werden, genauso wie die Priester des Neuen Bundes. Sie sind als untergeordnete Diener des einzig wahren Mittlers in Seiner Hand. Er bedient sich ihrer Funktion, wie der Arbeiter sich eines Werkzeugs bedient.
Doch wäre es zu kurz gegriffen, wollte man Maria an dieser Stelle einreihen und ihr lediglich eine zweitrangige und beliebig austauschbare Mittlerschaft zubilligen, so wie jeder Prophet in seinem werkzeuglichen Dienst durch einen beliebigen anderen Propheten, oder wie ein Priester durch einen anderen austauschbar wäre. Der hl. Albertus Magnus sagt deshalb: „Sie (Maria) ist vom Herrn nicht zur Dienstleistung hinzugenommen, sondern zur Wirkgemeinschaft und Hilfeleistung, nach dem Worte: ‚Laßt uns Ihm eine Gehilfin machen, die Ihm ähnlich ist‘“ (Mariale 42). Das sind die Worte, die Gott vor der Erschaffung Evas sprach. Maria ist von Gott nicht zu einer austauschbaren Dienerin erwählt worden, sondern auf eine ganz besondere und einzigartige Weise dem Werk der Erlösung als Gehilfin beigesellt. Maria ist als „neue Eva“ und damit als Gehilfin Christi, des „neuen Adam“, in das Erlösungswerk eingebunden. Auf welche Weise? Durch ihre Eigenschaft als Gottesmutter! Ihre Würde als Gottesmutter verleiht Maria Anteil an der allgemeinen Mittlerschaft ihres Sohnes. Weil sie Mutter Gottes ist, steht Maria tatsächlich in der Mitte zwischen Gott und den Menschen. Sie steht sicherlich unter Gott und auch unter ihrem Sohn Jesus Christus, weil Maria ein Geschöpf ist. Aber sie steht weit über allen Menschen durch die Gnade der Gottesmutterschaft, durch die sie, wie Kajetan sagt, „heranreicht an die Grenzen der Gottheit selbst“; sodann überragt sie selbst die höchsten Engel und Heiligen durch die Fülle der Gnade, die sie im Augenblick ihrer Unbefleckten Empfängnis eingegossen bekam; eine Gnadenfülle, die bis zur Vollendung ihres Lebens unaufhörlich gewachsen ist. – Wie Eva, die aus der Seite des ersten Menschen genommen wurde, und folglich dem Adam untergeordnet und in ihrer Wirktätigkeit als „Mutter aller Lebenden“ bei der der Mitteilung des menschlichen Lebens gänzlich von Adam abhängig war, so nimmt auch Maria durch ihre göttliche Mutterschaft an der allgemeinen Mittlerschaft Christi teil, wenn auch in einer untergeordneten und gänzlich von Christus abhängigen Form. Nichtsdestotrotz kommt Maria der Titel „Mittlerin aller Gnaden“ zu, und zwar vor allem aus zwei Gründen: 1. Weil Maria beim Kreuzesopfer mitgewirkt hat, sowohl durch Genugtuung als auch durch Verdienst. Darin bestand ihr Beitrag an der aufsteigenden Mittlerschaft Christi; an der Aussöhnung mit Gott. Und 2. Weil Maria nicht aufhört, für uns einzutreten, uns alle Gnaden, die wir empfangen, zu erlangen und an uns auszuteilen. Darin besteht ihre Mitwirkung an der absteigenden Mittlerschaft Christi; an der Austeilung aller übernatürlichen Gnaden und Gaben an die einzelnen Menschen. Betrachten wir diese beiden Formen der Mitwirkung Mariens etwas eingehender.
Mitwirkung beim Kreuzesopfer
Vom Augenblick der Menschwerdung bis zu dem Ruf Christi am Kreuz „Es ist vollbracht“ hatte die allerseligste Jungfrau beim Opfer ihres Sohnes mitgewirkt. – Vor allem war ihre freie Zustimmung notwendig, die sie am Tag der Verkündigung dem hl. Erzengel Gabriel gegeben hat. Nur so konnte der Brückenbau in Form des Geheimnisses der Menschwerdung Gottes überhaupt Wirklichkeit werden. Durch ihr freies „Fiat“ hatte Maria bereits zum Kreuzesopfer mitgewirkt, weil sie dadurch, sowohl den für dieses Opfer notwendigen Priester, als auch die benötigte Opfergabe beigesteuert hat. Maria hat auch ferner mitgewirkt, indem sie ihren Sohn am Lichtmeßtag im Tempel als ein ganz reines Opfer Gott darbrachte. Und zwar in jenem Augenblick, als der greise Simeon vom prophetischen Licht erleuchtet in dem Kind „das Heil sah, das Gott vor dem Angesicht aller Völker bereitet hatte“ (Lk. 2, 31). Maria, die noch erleuchteter war als Simeon, opferte ihren Sohn bei dieser Gelegenheit auf und begann von diesem Augenblick in einer ganz tiefen Verbindung mit dem Heiland zu leiden, indem sie den heiligen Greis weissagen hörte, daß ihr Kind „Zeichen des Widerspruchs sein werde“ (Lk. 2, 34) und daß „ein Schwert auch ihre Seele durchbohren würde“ (ebd.).
Besonders hat Maria aber am Fuß des Kreuzes am Opfer Christi mitgewirkt. Sie, die Schuldlose, die unbefleckt Reine, hat sich mit Christus in einer unaussprechlichen Weise vereinigt, um durch Ihn und mit Ihm und in Ihm Wiedergutmachung für die Sünden der Welt zu leisten, und die daraus erwachsenden Verdienste zu erwerben. Wir wissen von manchen Heiligen, insbesondere von den Stigmatisierten, daß sie von Gott in besonderer Weise mit dem Leiden und den Verdiensten Christi vereinigt wurden – wie etwa der hl. Franz von Assisi oder die hl. Katharina von Siena. Gleichwohl war dies etwas Geringeres im Vergleich mit der Vereinigung Mariens am Fuß des Kreuzes. Die erwähnten Heiligen waren vor allem in den Schmerzen mit Christus vereint. Maria aber bei der Darbringung selbst.
Wie hatte sich Christus dargebracht? Er sagte es selbst: „Niemand nimmt mir mein Leben, sondern ich gebe es freiwillig hin. Ich habe Macht, es hinzugeben, und ich habe Macht, es wieder zu nehmen“ (Joh. 10, 17). Unser Herr hätte sich mit Leichtigkeit aus der Hand Seiner Henker befreien können. Daran, daß Er es nicht getan hat, erkennen wir, daß er freiwillig auf Sein Recht zu leben verzichtet hat. Er brachte sich freiwillig zum Opfer dar. Der freiwillige Verzicht Christi auf Sein Leben, findet seine Entsprechung in Maria. Papst Benedikt XV. sagt: „Sie (Maria) entsagte ihren Mutterrechten auf den Sohn zum Heile aller Menschen“ (Lit. Ap. „Inter sodalicia“). Dabei ist zu beachten, daß Jesus und Maria gänzlich vom Fluch der Sünde und des Todes ausgenommen war. Der Tod hatte weder das Recht Jesus das Leben noch Maria den Sohn zu entreißen. Beide mußten freiwillig auf ihre Rechte verzichten. Und Maria gab ihre Zustimmung zu dem Martyrium ihres Sohnes. Sie brachte Ihn als Seine Mutter dar, indem sie in den Tod ihres Sohnes einwilligte. Wie Jesus leiden wollte, so wollte es auch Maria. Alle Qualen, die Er in Seinem Leib und in Seiner Seele litt, litt Maria mit, nach dem Maß ihrer Liebe. So hat sie beim Kreuzesopfer in einzigartiger Weise als Gehilfin mitgewirkt. Sie hat in der Form der Genugtuung, indem sie für uns, mit großem Schmerz und glühender Liebe, das Leben ihres geliebten und mit Recht angebeteten Sohnes, das ihr teurer war, als ihr eigenes Leben, Gott zum Opfer dargebracht. Auf diese Weise war die Liebe Mariens mit der Liebe Christi, des Erlösers, vereinigt. Die Liebe des Gekreuzigten aber gefiel Gott mehr, als Ihm alle Sünden der Welt mißfielen. Das ist der Wesenskern des Erlösungsgeheimnisses, an dessen Verwirklichung Maria tatsächlich mitgewirkt hat, indem sie in Vereinigung mit ihrem Sohn Sühne geleistet hat. Sie war gleichsam mit Christus zusammen gekreuzigt, durch die Liebe, welche sie zu Ihm trug. So ist Maria „Miterlöserin“ geworden. Papst Benedikt XV. sagt: „So hat sie mit dem leidenden und sterbenden Sohn gelitten und ist gleichsam mitgestorben, so hat sie den mütterlichen Rechten auf den Sohn für das Heil der Menschen entsagt und hat zur Versöhnung der göttlichen Gerechtigkeit, soweit es ihr oblag, den Sohn geopfert, so daß man mit Recht sagen kann, sie habe mit Christus das Menschengeschlecht erlöst“ (ebd.). Aus demselben Grund hat Maria alles, was Christus am Kreuz nach strenger Gerechtigkeit verdient hat, nach einem untergeordneten aber wirklichen Angemessenheitsverdienst mitverdient. So lehrt es der hl. Papst Pius X.: „Maria hat in ihrer Vereinigung mit Christus im Heilswerk uns nach einem Angemessenheitsverdienst (de congruo) das verdient, was Christus nach strenger Gerechtigkeit (de condigno) verdient hat“ (Enz. „Ad diem illud“).
Unter dem Kreuz ist Maria zur „neuen Eva“ geworden, wie schon die Väter des zweiten und dritten Jahrhunderts deutlich bezeugen, indem sie darauf hinweisen, daß wie Eva zum Fall des Menschengeschlechtes beigetragen hat, so Maria zu dessen Erlösung. So sagt etwa der hl. Irenäus: „Wie Eva, durch die Rede des (bösen) Engels verführt, sich von Gott abkehrte und Seinem Worte ungehorsam war, so hörte Maria vom Engel die Heilsbotschaft der Wahrheit. Sie trug Gott in ihrem Schoße, weil sie Seinem Wort gehorcht hatte. … Das Menschengeschlecht, das durch eine Jungfrau (Eva) gefesselt worden war, wurde durch eine Jungfrau (Maria) befreit. … Die Klugheit der Schlange weicht der Einfalt der Taube. Die Bande, die uns im Tode fesselten, sind gelöst“ (Adv. Heres. 5, 19, 1).
Die Lehre von Maria als „neuer Eva“ geht im übrigen auf das Evangelium selbst zurück. Die uns so vertraute Stelle lautet: „Als nun Jesus Seine Mutter sah und neben ihr stehend den Jünger, den Er liebhatte, da sprach Er zu Seiner Mutter: ‚Weib, siehe da, dein Sohn.‘ Und zu dem Jünger sprach Er: ‚Siehe da, deine Mutter!‘ Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich“ (Joh. 19, 26 f.). Durch diese Worte wurde der Bereich der Mutterschaft Mariens erweitert. Bisher war sie einzig Gottesmutter. Durch das allmächtige Wort des Gekreuzigten Gottessohnes wurde sie in Johannes geistigerweise Mutter aller durch das Kreuzesopfer erlösten Menschen. Die Worte die Gott und Christus sprechen bewirken stets das, was sie bezeichnen. Wenn Maria nun unter dem Kreuz vom Gottessohn zur geistigen Mutter aller Menschen erklärt wurde, dann ist sie auch tatsächlich zur „Mutter aller übernatürlich Lebendigen“ geworden, zur „neuen Eva“.
Mitwirkung an der Erlangung und Austeilung aller Gnaden
Weil Maria durch Christus allen Menschen das übernatürliche Leben und alle geistlichen Gaben in ihrer aufsteigenden Vermittlung mitverdient hat, so ist es nicht verwunderlich, daß Maria auch in herausragender Weise an der absteigenden Vermittlung Christi beteiligt ist, d.h. an der Austeilung der Gnadenschätze, welche der Heiland am Kreuz verdient hat. – Als neue Eva, als Mutter aller Lebendigen, ist Maria interessiert am ewigen Heil aller Menschen. Sie bittet für sie, und erlangt ihnen am Thron ihres göttlichen Sohnes unzählige Gnaden.
Papst Leo XIII. bringt die absteigende Vermittlung der Gottesmutter auf den Punkt, wenn er sagt: „Nach dem Willen Gottes wird uns alles nur durch Maria gewährt, und wie niemand zum Vater gelangen kann, außer durch den Sohn, so kann im allgemeinen niemand zu Christus gelangen, außer durch Maria“ (Enz. „Octobri mense“). Die Wahrheit dieser Aussage wird auch aus den Gebeten der Kirche ersichtlich. Während die anderen Heiligen nur in bestimmten Anliegen um ihre Fürbitte angegangen werden, – für gewöhnlich in solchen, welche ihren jeweiligen Tugenden, ihrer Berufung oder Wunderkraft entsprechen, die sie in ihrem irdischen Leben gezeigt hatten – wendet sich die hl. Kirche in allen erdenklichen Anliegen an Maria, um von der Gottesmutter Gnaden aller Art zu erlangen. Seien es zeitliche oder geistliche Gaben. Geht es darum, die erste „Gnade der Bekehrung“ für einen Sünder zu erflehen, oder die letzte große Gnade, die „Gnade der Beharrlichkeit bis ans Ende“, für einen Sterbenden. Maria vermittelt den Jungfrauen die notwendige Gnadenhilfe, damit sie ihre Jungfräulichkeit bewahren können; den Nachfolgern der Apostel die Fruchtbarkeit ihres apostolischen Wirkens; den Märtyrern, die Gnade, aller Qualen zum Trotz, im Glauben unerschütterlich auszuharren; den Bekennern, die Gnade der Treue in der Verkündigung; den Kranken Heilung; den Betrübten Trost. In diesem Sinne wird Maria in der Lauretanischen Litanei angerufen: „Heil der Kranken, Zuflucht der Sünder, Trösterin der Betrübten, Hilfe der Christen, Königen der Apostel, der Märtyrer, der Bekenner, der Jungfrauen.“ Auf diese Weise werden Gnaden aller Art durch ihre Hand ausgeteilt. In gewissem Sinne sogar auch die Gnaden der Sakramente. Denn sie hat uns diese in Vereinigung mit ihrem göttlichen Sohn auf dem Kalvarienberg verdient. Durch ihre Fürsprache macht sie uns bereit, daß wir uns den Sakramenten nahen, daß wir sie würdig, gut vorbereitet und gültig empfangen. Bisweilen schickt sie uns sogar den Priester, ohne den uns diese sakramentale Hilfe nicht gegeben würde.
Schließlich muß noch gesagt werden, daß uns durch Maria nicht nur jede erdenkliche Art von Gnade ausgeteilt wird, sondern sogar jede Gnade im Einzelnen. Im „Ave Maria“ beten wir so oft: „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder; jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.“ Mit diesem „jetzt“, das von unzähligen Menschen weltweit in jedem Augenblick gesprochen wird, erbitten sie sich die „Gnade des gegenwärtigen Augenblicks“. Nun handelt es sich dabei jedoch um die allerspeziellste Gnade. Sie ist für jeden Menschen verschieden und wechselt jede Minute. Und wenn auch wir beim Aussprechen dieser Worte oft zerstreut sind, so kennt Maria doch keine Zerstreuung. Sie ist eine aufmerksame Zuhörerin. Sie kennt die geistlichen Bedürfnisse eines jeden Augenblicks. Sie bittet für jeden Einzelnen, und erlangt uns alle Gnaden, die wir empfangen.
Auch diese Lehre findet sich schon in der Heiligen Schrift. Geschah es nicht durch die Vermittlung ihres Grußes, daß der hl. Johannes der Täufer im Schoß der Base Elisabeth durch Jesus geheiligt wurde? Wirkte Jesus nicht auf ihre Veranlassung hin Sein erstes Wunder auf der Hochzeit zu Kana, wodurch der Glaube der Jünger an Seine Gottheit geweckt wurde? Hatten sich die Apostel während der Pfingstnovene im Abendmahlsaal nicht um Maria zum Gebet versammelt, durch deren Vermittlung sie am Pfingsttag die Fülle des Heiligen Geistes in der Gestalt feuriger Zungen empfingen? – Wenn die Gottesmutter schon auf Erden so große und zahlreiche Gnaden vermittelt hat, um wieviel mehr wird Gott seit dem Tag ihrer leiblichen Aufnahme in den Himmel und ihrem Eintritt in die ewige Glorie, die mildtätige Mittlerschaft Mariens als Königin des Himmels und der Erde ausgedehnt haben? – Weil Maria die beste Mutter ist, welche die Bedürfnisse ihrer Kinder bestens kennt, betet sie schon von sich aus für jedes ihrer Kinder. Als Königin des Himmels ist Maria an die Spitze der Heilsordnung und damit zur Verwalterin der gesamten Gnadenschätze Christi eingesetzt. Selbst die Engel und Heiligen des Himmels, die wir verehren; unsere Schutzengel und Namenspatrone, die für uns eintreten; sie alle wenden sich an Maria. Es gibt keine Gnade, die wir empfangen hätten, welche nicht zuvor durch die Hände der Gottesmutter gegangen wäre. Sie ist, wie der hl. Bernhard sagt, das Aquädukt der Gnade, die das Wasser des ewigen Lebens, das aus der Seitenwunde Jesu hervorsprudelt, zu uns leitet. Sie ist im mystischen Leib der Kirche gleichsam der jungfräuliche Hals, der Christus, das Haupt, mit all Seinen Gliedern verbindet. Deshalb wird Maria vom hl. Ephräm, dem Syrer, vollkommen zurecht, nach Christus, die „Mittlerin der gesamten Welt“ genannt, durch die wir alle übernatürlichen Güter erlangen. In dieses Bekenntnis fällt der hl. Bernhard ein, wenn er sagt: „So ist es der Wille Gottes, daß wir alles durch Maria haben“ (de Nat. BMV, 7). Sie ist „voll der Gnade, übervoll für uns“ (de Assump. II; 2). Alle Gnaden vermag sie am Herzen ihres göttlichen Sohnes denen zu erlangen, die nicht im Bösen verhärtet sind. Deshalb bekennt der hl. Germanus von Konstantinopel an Maria gewandt: „Niemand wird gerettet außer durch dich, o Heiligste; niemand wird vom Bösen befreit als durch dich, o Unbefleckteste; niemand empfängt die Gaben Gottes als durch dich, o Reinste“ (or. 9; PG 98, 377) – Diesem freudigen Bekenntnis wollen auch wir uns anschließen und uns dem Willen Gottes und der Anordnung Christi gemäß in all unseren Anliegen demütig, vertrauensvoll und dankbar an unsere himmlische Mutter, die neue Eva und Mittlerin aller Gnaden wenden – „jetzt und in der Stunde unseres Todes“. Amen.