7. Sonntag nach Pfingsten
Gute Bäume – Gute Früchte
Geliebte Gottes!
Gerade haben wir den Herrn sagen hören: „So bringt jeder gute Baum, gute Früchte hervor, der schlechte Baum aber bringt schlechte Früchte. Ein guter Baum kann nicht schlechte Früchte bringen, und ein schlechter Baum kann nicht gute Früchte bringen.“ (Mt. 7,16 f.). Wie der Baum anhand dessen, was er hervorbringt, zeigt, was in ihm steckt so auch die Seele des Menschen, durch ihre Werke. Ist die Seele im Stande der heiligmachenden Gnade und festgewurzelt in der Tugend, so bringt sie gute Früchte hervor. Wurzelt sie hingegen im Laster der Sünde, so wird sie schlechte Früchte hervorbringen. Dem Zustand der Seele folgen notwendigerweise entsprechende Werke. Die Werke sind die Früchte der Seele.
Der Glaube allein genügt dabei nicht! Der Heiland sagt: „Nicht jeder, der zu mir sagt: ‚Herr, Herr!‘ wird in das Himmelreich eingehen.“ – „Herr, Herr!“, so rufen Ihn nur die Gläubigen – „sondern, wer den Willen meines Vaters tut, der im Himmel ist, der wird in das Himmelreich eingehen.“ (Mt. 7,21). Der Glaube ist zwar zum Heil notwendig. Er allein ist jedoch nicht hinreichend. Deshalb müssen zum Glauben gute, tugendhafte Werke hinzukommen. Wo die Werke fehlen, ist der Glaube unfruchtbar; ja gleichsam tot, wie der hl. Apostel Jakobus sagt: „Denn wie der Leib ohne Geist tot ist, so ist auch der Glaube ohne Werke tot.“ (Jak. 2,26). Jeder tote Baum ist gleichsam ein schlechter Baum, weil er keine guten Früchte bringt. Deshalb heißt es: „Jeder Baum, der keine guten Früchte bringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen.“ (Mt. 7,19).
Um diesem Schicksal zu entgehen, müssen wir uns um die Tugend bemühen. Denn aus der Tugend gehen die guten Werke hervor. Die Tugend ist jener gute Baum, der nur gute Früchte und keine schlechten hervorbringen kann. Doch wie sollen wir uns um die Tugend bemühen, wenn wir vielleicht gar nicht so genau wissen, was das überhaupt ist? Deshalb müssen wir heute drei Fragen klären:
- Was ist die Tugend?
- Wie wird die Tugend eingeteilt?
- Welches sind Haupttugenden?
Das Wesen der Tugend
Die Definition der Tugend, welche uns der Katechismus gibt, lautet: „Die Tugend ist eine durch fortwährende Übung erworbene Fertigkeit, das Gute zu tun.“ Die Tugend ist also in ihrem Wesenskern eine „Fertigkeit“, ein „Habitus“. Eine Fertigkeit ist eine Anlage, die bis zu einer gewissen Perfektion entwickelt worden ist.
Was ist eine Anlage? Das Auge ist angelegt, um zu sehen; das Ohr zum Hören; die Zunge zum Sprechen; der Verstand zum Denken; das Gedächtnis, sich Dinge zu merken. etc. Jeder Mensch besitzt diese Anlagen. Aber die Anlage des Verstandes heißt noch lange nicht, daß jeder schon deshalb ein großer Denker wäre. Die Gedächtnisanlage bedeutet noch lange nicht, daß jeder die Perfektion besitzt, sich alles merken zu können. Die Anlagen müssen ausgebildet werden, damit sie eine gewisse Vollendung erreichen können. Ein Beispiel: In jedem Menschen, der zehn Finger hat, ist die Anlage zum Klavierspielen gegeben. Die Tatsache, daß nicht alle Menschen, die zehn Finger haben, Klavier spielen können, beweist, daß nicht alle Menschen diese Anlage ausgebildet haben. – Und wenn von denjenigen, die zwar das ein oder andere Klavierstück beherrschen, aber bei weitem nicht alle Meisterwerke, etwa von Bach, Mozart oder Chopin, einfach vom Blatt spielen können, so wird dadurch angezeigt, daß es nicht alle zu der Perfektion bringen, die dafür notwendig wäre. Viele können zwar gewisse Stücke spielen, aber sie haben noch nicht die Fertigkeit, den Habitus des Klavierspiels. – Wie gelangt man zur Perfektion? Einzig durch Übung, Übung und nochmals Übung. Nicht umsonst sagt der Volksmund: „Übung macht den Meister.“ Und: „Kein Meister ist vom Himmel gefallen.“
Als der französische Kaiser Napoleon III. während des Deutsch-Französischen Krieges von 1870 als Kriegsgefangener auf Schloß Wilhelmshöhe bei Kassel festgehalten wurde, da befand sich in seinem Gefolge ein französischer Marquis. Dieser Edelmann beauftragte einen Maler, er solle ihm das Schloß Wilhelmshöhe samt Umgebung naturgetreu und so schnell wie möglich in einem schönen Gemälde darstellen. Schon am dritten Tag war das Bild fertig und recht gelungen ausgeführt. Der Marquis war zufrieden, bis er den Preis hörte – umgerechnet etwa 7.800 Euro. Der Franzose erwiderte: „Wie können Sie soviel verlangen, da Sie doch nur höchstens 18 Stunden daran gearbeitet haben?“ Der Maler entgegnete: „Bedenken Sie, daß ich 20 Jahre habe arbeiten müssen, um die Fertigkeit zu erlangen, in 18 Stunden dieses Gemälde fertig zu bekommen.“ Das sah der Marquis ein und zahlte.
Also: Übung macht den Meister. Beharrliche Übung! Fortwährende Übung! Denn wer aufhört zu üben, der verliert die erworbene Fertigkeit wieder. Wenn sich der Konzertpianist die Hand bricht, der Profifußballer das Kreuzband reißt, der Dolmetscher für lange Zeit eine seiner Sprachen nicht spricht und liest, dann verliert er die Perfektion. Deshalb das fortwährende Üben, Trainieren, Wiederholen.
Woran erkennt man nun, ob jemand eine Tugend besitzt? Der hl. Thomas von Aquin sagt, man erkennt es daran, daß jemand etwas Schwieriges leicht, beständig, schnell und gerne tut (vgl. Quaest. disp. De virt. in com. a.1). – 1. Leicht: Die häufige Übung bewirkt, daß es leicht wird, die erworbene Fertigkeit auszuüben. Die Gewohnheit wird gleichsam zur zweiten Natur. Es ist für den Pianisten so selbstverständlich, die schwierigsten Läufe auf dem Konzertflügel zu spielen, daß er dabei gar nicht mehr großartig nachzudenken braucht, in welcher Reihenfolge er die Finger bewegen muß. – 2. Beständig: Die Gewohnheit ist derart verinnerlicht, daß es nicht nur einmal gelingt, ein schwieriges Stück zu spielen, sondern immer, wenn er sich an den Flügel setzt. Wer nur dann und wann ein schwieriges Stück fehlerfrei spielen kann, besitzt noch nicht die Perfektion. – 3. Schnell: D.h., wenn man dem Pianisten ein unbekanntes Stück vorlegt, so kann er es sofort vom Blatt richtig spielen, ohne lange Übungszeit. – Und schließlich zeigt sich die Fertigkeit 4. darin, daß man Schwieriges gerne tut. Was man kann, das tut man mit Freude. Wie das Wasser geneigt ist, abwärts zu fließen; wie jeder Körper geneigt ist, zu Boden zu fallen, so ist der Geübte geneigt, freudig und gern das Anspruchsvolle zu tun.
Die Tugend ist jedoch nicht nur eine durch Übung erworbene Fertigkeit. Sie wird wesentlich bestimmt durch ihren Zweck. Die Tugend ist eine Fertigkeit, das Gute zu tun. – „Gut“ ist dabei all das, was dem Willen Gottes entspricht, oder was Gott wohlgefällig ist. „Wer den Willen meines Vaters, der im Himmel ist, tut“, sagt der Herr, der bringt gute Früchte hervor. Gut ist unser Tun, wenn es in Übereinstimmung mit dem göttlichen Willen steht.
Jede Tugend ist also eine durch Übung erworbene Anlage, leicht, beständig, schnell und gerne dem Gebot Gottes zu gehorchen und das Gute zu tun. Den Tugenden – den guten Bäumen – stehen nun aber auch zahlreiche Gegenspielerinnen – die schlechten Bäume – gegenüber; also durch Wiederholung erworbene Gewohnheiten zu sündigen. Diese Anti-Tugenden heißen Laster. Auch ein Laster ist eine Fertigkeit; eine gewisse Perfektion, leicht, beständig, schnell und gerne zu sündigen. Der Seele, die sich in ein Laster verstrickt hat, ist die Sünde gleichsam zur zweiten Natur geworden, so daß der lasterhafte Mensch sündigt, ohne groß darüber nachzudenken. Dem lasterhaften Menschen ist die Sünde durch fortwährende Wiederholung derart in Fleisch und Blut übergegangen, daß er sie außerdem auch gar nicht so einfach wieder lassen kann. – Welches Heilmittel hilft gegen ein Laster? Einzig und allein die jeweils entgegengesetzte Tugend. „Gewohnheit wird nur durch Gewohnheit überwunden“, sagt die Nachfolge Christi (I, 21). Die sündhafte Gewohnheit kann nur gebrochen werden, durch die entgegengesetzte Tugend: Der Stolz durch die Demut. Die Unkeuschheit durch Schamhaftigkeit. Die Empfindlichkeit durch Geduld. Der Jähzorn durch Sanftmut. Der Geiz durch Freigebigkeit. Die Trägheit durch Liebe zur Pflicht. Der Neid durch Wohlwollen. etc.
Ein Mensch, dem es gelingt, ein Laster abzulegen und durch die entgegengesetzte Tugend zu ersetzen, muß sich ferner noch viel mehr bewachen, als einer, der dem Laster nie verfallen war. Denn wie ein Pianist nach einer Handgelenksverletzung vergleichsweise wenig Übungsstunden benötigt, um die verlorengegangene Perfektion zurückzuerlangen, so bedarf auch der vormals in der Sünde Geübte, nicht vieler Rückfälle, um wieder ganz seinem vormaligen Laster verfallen zu sein.
Umgekehrt gilt natürlich, daß die einmal erlangte Tugend, als Vollkommenheit das Gute zu tun, ein mächtiger Schutz, ein starkes Bollwerk darstellt, sowohl gegen die Sünde als auch gegen das Laster. – Welche Tugenden gibt es nun?
Wie werden die Tugenden eingeteilt?
Man unterscheidet zwei Klassen: göttliche Tugenden und sittliche Tugenden. Die drei göttlichen Tugenden sind die Quellen, aus denen die guten Handlungen des Menschen gegen Gott hervorgehen. Sie heißen: Glaube, Hoffnung und Liebe. Die sittlichen Tugenden befähigen den Menschen, gegen sich selbst, gegenüber dem Nächsten und gegenüber dem Gemeinwohl in rechter Weise zu agieren. Sie heißen sittliche Tugenden, weil sie zunächst darauf ausgerichtet sind, unser menschliches Verhalten, unser Benehmen, also unsere Sitten zu ordnen; und zwar so zu ordnen, daß unser sittliches Tun Gott wohlgefällig ist.
Die sittlichen Tugenden unterscheiden sich von den göttlichen vor allem darin, daß sie sich nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar auf Gott richten. Sie richten sich nicht direkt auf Gott, sondern unmittelbar auf das menschliche Tun, welches sie ordnen und auf diese Weise gottwohlgefällig machen. Ein zweiter Unterschied besteht darin, daß die sittlichen Tugenden ein Maß kennen, während die göttlichen Tugenden nie weit genug gehen können. Der Glaube kann nicht zu tief sein, die Hoffnung nie zu fest, die Liebe nie zu groß.
Die sittlichen Tugenden hingegen befinden sich in der Mitte zwischen zwei Lastern. – Ein Beispiel: Die Tugend der Sparsamkeit besteht darin, nur so viel Geld auszugeben, wie es die Notwendigkeit gebietet und es die Verhältnisse erlauben. Dieser Tugend stehen zwei Laster gegenüber. Einmal die Übertreibung der Sparsamkeit. Das ist der Geiz. Und einmal der Mangel an Sparsamkeit. Das ist die Verschwendungssucht. Die Verschwendungssucht gibt nämlich mehr Geld aus als es notwendig ist bzw. mehr als es die Verhältnisse erlauben. Es mangelt ihr am rechten Haushalten. Der Geiz hingegen ist die Übertreibung der Sparsamkeit. Der Knausrige geht soweit, daß er sich selbst das Notwendige versagt oder bei anderen schmarotzt, nur um selber möglichst kein Geld ausgeben zu müssen. So verhält es sich mit jeder sittlichen Tugend. Jede von ihnen steht auf einem schmalen Höhengrad über zwei Abgründen von Lastern; zwischen dem Extrem der Übertreibung, also des Übermaßes, und dem Extrem des Zuwenig, des Mangels an Tugendhaftigkeit. Daher das Sprichwort: „In medio stat virtus“. Die sittlichen Tugenden stehen in der Mitte; über den beiden Extremen des Mangels und der Übertreibung.
Die vier Kardinaltugenden
Wieviele sittliche Tugenden gibt es? Der sittlichen Tugenden sind viele – genauso auch der Laster – und wir würden kein Ende finden, wenn wir sie alle im Einzelnen erklären wollten. Ja, es wäre schon schwer, sie überhaupt alle vollständig aufzuzählen. Aber schon die Stoiker, also die Vertreter einer heidnischen Philosophenschule des Altertums, haben es verstanden, alle Tugenden auf vier Haupttugenden zurückzuführen, die sogenannten vier Kardinaltugenden. – Alle sittlichen Tugenden lassen sich also gleichsam in vier Familien einteilen, an deren Spitze jeweils, gleich dem Familienoberhaupt, eine der vier Kardinaltugenden steht, umrahmt von ihren jeweiligen Töchtern. Wir wollen uns bei der Erklärung der sittlichen Tugenden deshalb darauf beschränken, die vier Kardinaltugenden kurz darzulegen. Welches sind also die vier Kardinaltugenden? Es sind:
- Die Tugend der Klugheit.
- Die Tugend der Gerechtigkeit.
- Die Tugend der Mäßigkeit.
- Die Tugend des Starkmutes.
Um die ersten beiden Kardinaltugenden, die Klugheit und die Gerechtigkeit, zu verstehen, müssen wir uns kurz daran erinnern, daß unsere Seele zwei geistige Kräfte besitzt. Wie der Leib zwei Hände und zwei Arme hat, mit denen er alle seine Werke verrichtet, so hat auch die Seele zwei Hauptkräfte, nämlich den Verstand und den freien Willen. Mit ihnen verrichtet die Seele alle ihre Werke. – Welche Werke sind das? Erkennen und Wollen! Mit dem Verstand erkennt unsere Seele. Und mit dem freien Willen fällt sie Entscheidungen. Nun können wir sagen, daß die Klugheit die Tugend des Verstandes ist und die Gerechtigkeit die Tugend des Willens. Die Klugheit ordnet den Verstand auf das Gute hin, daß der Verstand den wirklichen Gegebenheiten entsprechend urteilt. Die Gerechtigkeit ordnet den Willen auf das Gute, daß er jedem das erweist, was er ihm schuldig ist. Doch betrachten wir die Tugenden im Einzelnen.
Die Tugend der Klugheit
Wann sagt man von einem Menschen, er sei klug? Um es kurz zu machen: Klug ist derjenige, der zum richtigen Ziel und Zweck auch die richtigen Wege weiß und die richtigen Mittel kennt, welche zur Anwendung gebracht werden müssen, um das Ziel in der rechten Weise zu erreichen.
Denken wir uns eine Gruppe Menschen, die entschlossen sind, in ein fremdes Land auszuwandern, um sich dort eine neue Existenz aufzubauen und dort glücklich zu werden. Was fordert die Klugheit von ihnen? Zunächst, daß sie die Frage gut überdenken, in welches Land sie ziehen wollen. Diejenigen sind die Klügsten, welche als Ziel ihrer Auswanderung ein Land wählen, wo sie mit ihren körperlichen Kräften und Geldmitteln; mit ihren Kenntnissen und beruflichen Fertigkeiten am leichtesten und sichersten ein besseres Auskommen finden werden; aber auch wo sie ihre kulturellen Bräuche und insbesondere ihre Religion ungehindert ausüben können. – Es wäre also dumm und töricht, wenn sie in ein Land zögen, dessen Klima sie nicht ertragen können; in ein Land, wo Krieg, Hungersnot oder ansteckende Krankheiten herrschen; in ein Land, wo es weder fruchtbaren Boden noch eine blühende Wirtschaft gibt; weder Straßen noch Verkehr; in ein Land, wo die katholische Religion verboten ist oder gar verfolgt wird. – Doch nehmen wir an, die Auswanderungslustigen hätten gut gewählt. Dann fordert die Klugheit ferner, daß sie sich genau nach den Mitteln und Wegen erkundigen, wie ihr Vorhaben legal, sicher, schnell und möglichst billig zu realisieren sei. Sie müssen Erkundigungen bei den Behörden einholen; Anträge stellen; Verträge kündigen; neue Verträge abschließen; den Umzug planen; die Reise organisieren und die Kosten vorausberechnen.
Ganz ähnlich fragt die übernatürliche Klugheit. Sie ist jene übernatürliche Fertigkeit des Verstandes, die überall und in allen Lebenslagen die Handlungen des Menschen auf sein letztes Ziel ausrichtet und deshalb die geeigneten Mittel sucht, um es zu erreichen, um dadurch Gott angenehm zu sein.
Was ist das letzte Ziel des Menschenlebens? Das ewige Heil der Seele! – Die Klugheit also ist die Tugend, die uns lehrt, das ewige Ziel zu erkennen und alles auf dieses Ziel auszurichten. Die Klugheit lehrt uns, die geeigneten Mittel zu finden, die nötig sind, um das ewige Ziel zu erreichen. Beständig fragt sie: Was muß ich tun, um in den Himmel zu kommen? Was darf ich nicht tun, um den Himmel nicht zu verfehlen? Wenn sie vor eine Wahl gestellt ist, fragt sie: Was nützt mir das für die Ewigkeit? Wird mir dieser Besitz, dieser Beruf, diese Stellung, diese Beschäftigung, diese Erholung, diese Freude, dieser Umgang, diese Freundschaft, diese Ehe zum Heil eher nützlich oder eher schädlich sein? Das meint der Heiland mit Seiner Frage: „Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber an seiner Seele Schaden leidet?“ (Mt. 16,26). – Klugheit ist also nicht Bildung. Klugheit ist nicht Fachwissen. Klugheit ist nicht Taktik, nicht List, nicht schlaues Sichdurchschlängeln. Sondern Klugheit ist die Fähigkeit durch praktisches Urteil, die geeigneten Mittel auszuwählen und auf die Erlangung des ewigen Zieles hinzuordnen, um es zu erreichen. Deshalb fragt und überlegt die Tugend der Klugheit in allen Lebenslagen, welche Wege zu beschreiten sind und welche Wege zu meiden sind, um das ewige Vaterland des Himmels zu erreichen. Danach wird sie ihre Wahl treffen. Dieselbe Frage wiederholt sie im Glück und im Unglück, in gesunden und kranken Tagen; in der Jugend und im Alter: Wie kann ich dieses oder jenes gebrauchen, um an mein wahres und letztes Ziel zu gelangen?
Wenn die Klugheit auch nicht die höchste sittliche Tugend ist, so ist sie doch die Wichtigste. Sie ist die „auriga virtutum“, die Wagenlenkerin aller anderen Tugenden. All unsere Handlungen und Werke sind nämlich nur dann tugendhaft und gut, wenn sie ihren Ursprung in der vernunftgemäßen Überlegung der Klugheit haben. Wer nur zufällig, gleichsam aus Versehen, das Gute tut, dessen Verhalten ist nicht schon gut und tugendhaft. Nur wer aus vernünftiger Überlegung das Gute tut, der handelt recht.
Mit einem Wort: Die Tugend der Klugheit ist für das christliche Leben dasselbe, was für ein Schiff auf Hoher See der Kompaß ist. Der Kompaß zeigt den richtigen Weg auf der weiten Meeresfläche.
Die Tugend der Gerechtigkeit
Doch zur Klugheit muß sich notwendigerweise die Tugend der Gerechtigkeit gesellen, denn das Ziel, den Weg und die geeigneten Mittel zu kennen, ist erst der Anfang. Die Hauptsache besteht nun darin, daß man auch den entschiedenen Willen hat, die geeigneten Mittel wirklich zur Anwendung zu bringen, und den richtigen Weg auch tatsächlich zu gehen. Darin besteht nun wesentlich die Tugend der Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit gibt dem Menschen den beharrlichen Willen, den Weg, der zur ewigen Herrlichkeit des Himmels führt, tatsächlich zu beschreiten, ohne davon nach links oder rechts abzuweichen. Wie tut sie das? Indem sie jedem das Seinige gibt. Indem sie jedem das gibt, was ihm gebührt: „Gott, was Gottes ist. Dem Kaiser, was des Kaisers ist.“ (Mt. 22,21). Dem Mitmenschen, was diesem von Rechts wegen zukommt. Und sich selbst das, was recht ist.
Die Gerechtigkeit ist die Tugend, die uns geneigt macht, jedem das Geschuldete zu geben. Wir schulden dem Staat Gehorsam in allem, wo er das Recht hat, zu gebieten. Wir schulden dem Nächsten den gerechten Ausgleich für das, was er uns gibt oder was er für uns tut. Leistung und Gegenleistung müssen in einem ausgeglichenen Verhältnis stehen, weshalb die Tugend der Gerechtigkeit bildlich meist mit einer ausgeglichenen Waage dargestellt wird.
Die Staatslenker haben eine Pflicht der Gerechtigkeit gegenüber ihren Untertanen. Sie müssen nämlich die Güter und die Lasten des Staates gerecht verteilen, je nach Maßgabe der Kräfte und Leistungen der Untertanen. Die Gerechtigkeit ist aber auch die Tugend der Bürger, wenn sie im Austausch miteinander bezahlen, was sie schuldig sind. Die Gerechtigkeit ist die Tugend der Richter, wenn sie die Schuldigen strafen nach ihrer jeweiligen Schuld. Sie ist die Tugend der Menschen untereinander; des Mannes gegen die Frau, der Frau gegen den Mann, der Eltern gegen die Kinder, der Kinder gegen die Eltern usw., insofern jeder dem anderen das gibt, was ihm gebührt. Die Gebote Gottes und der Kirche sagen uns, was und wie viel wir den Andern schuldig sind. – Die Gerechtigkeit ist sodann das Fundament des Friedens. Denn es kann nur Frieden geben, wenn die rechte Ordnung gewahrt wird, wenn das Gleichgewicht zwischen Anspruch und Leistung erzielt ist.
Der moderne Mensch achtet zu sehr darauf, seine Rechte geltend zu machen, seine Rechte einzufordern – wenn möglich sogar mehr als recht ist. Der gerechte Mensch fragt hingegen nicht: „Worauf habe ich Anspruch? Was steht mir zu?“ Sondern zuerst: „Was bin ich schuldig?“ Die Gerechtigkeit ist nicht zuerst darauf ausgerichtet, einzufordern, sondern das Schuldige zu leisten! Nicht mehr, aber vor allem nicht weniger.
Kurz: Die Gerechtigkeit besteht darin, daß man bestrebt ist, einem jeden dasjenige und so viel zu geben, was man ihm schuldig ist. Die Gerechtigkeit umfaßt alle Lebensbereiche des Menschen. Deshalb ist sie die höchste sittliche Tugend, die das ganze sittliche Leben des Menschen – sein ganzes Denken, Reden und Tun – beherrschen muß. Deshalb ist sie strenggenommen erst dann erreicht, wenn der Mensch alle anderen Tugenden erworben hat. Erst dann ist er schlechthin ein Gerechter, so wie er in Gestalt eines hl. Joseph oder eines hl. Zacharias oder einer hl. Elisabeth, der Eltern des hl. Johannes des Täufers, von der Heiligen Schrift gepriesen wird.
Die Garde gegen die ungeordneten Leidenschaften
Wenn aber nun ein Mensch, ein Christ, ein Katholik, die Tugend der Klugheit besitzt, die ihm das Ziel des ewigen Lebens und auch den Weg zeigt, der dahin führt. Wenn er ferner die Tugend der Gerechtigkeit besitzt, d.h. die beständige Entschlossenheit des Willens, Gott, den Menschen und sich selber das zu geben, was er schuldig ist; um darin zu verharren bis ans Ende seines Lebens, so werden ihm doch mit Gewißheit Hindernisse in den Weg treten, und zwar Hindernisse von zweierlei Art: Nämlich Hindernisse angenehmer Art und Hindernisse unangenehmer Art. Um das übermäßige Verlangen unserer Leidenschaften nach angenehmen Dingen im Zaum zu halten, bedarf die Gerechtigkeit einer Leibwache, nämlich der Tugend der Mäßigkeit. Damit die Gerechtigkeit hingegen nicht durch den Ansturm jener Leidenschaften vom rechten Weg abgebracht wird, die vor unangenehmen Dingen Reißaus nehmen, bedarf sie auch der Flankendeckung durch die Tugend des Starkmutes.
Die Tugend der Mäßigkeit
Die Tugend der Mäßigkeit begegnet den Hindernissen angenehmer Art, welche die Seele gleich dem süßen Gesang der Sirenen auf Abwege zu locken suchen. Hindernisse, die den Sinnen schmeicheln; die sich mit dem geistigen Begehren der Geltungssucht, der Ehrsucht und des Stolzes, aber auch mit dem sinnlichen Begehren, mit der angeborenen Bequemlichkeit und Trägheit gut vertragen; welche die sinnlichen Lüste des Geschmacksinns und die sexuellen Gelüste des Fleisches befriedigen. Hindernisse, welche die Lust, das Vergnügen, den Genuß, den Komfort oder das Ansehen in der Welt versprechen. Um dem heftigen Ansturm all dieser Versuchungen entgegenzutreten, springt der angefochtenen Gerechtigkeit die Tugend der Mäßigkeit zur Seite, welche die anstürmenden Lockungen in die Flucht schlägt.
Die Mäßigkeit ist jene Tugend, welche den Menschen in allem, was angenehm ist, Maß zu halten lehrt; jenes Maß, das von der Sünde fernhält, das dem Geist die Herrschaft über den Körper sichert; jenes Maß, das den Fortschritt auf dem Weg zum Himmel nicht hemmt, sondern fördert. Die Dinge haben ein Maß und dieses Maß ist für uns maßgebend. Die Mäßigkeit lehrt uns vor allem, das Triebleben zu beherrschen. Es sind vornehmlich zwei Triebe, die den Menschen immer wieder gefährden, nämlich die Gaumenlust und die Geschlechtslust. Der eine richtet sich auf die Erhaltung des Einzelnen, der andere auf die Erhaltung der Art. Es sind die Triebe, die wir mit den Tieren gemeinsam haben. Beide sind an sich gut. Deshalb ist es umso wichtiger, gerade diese Triebe durch die Tugend der Mäßigung zu beherrschen. Der hl. Franz von Sales sagt: „Ich liebe nur weniges auf Erden. Und dieses Wenige nur wenig.“ Das ist die richtige Einstellung.
Neben den beiden genannten Gefahren, die durch die Mäßigkeit kontrolliert werden sollen, gibt es noch solche, geistiger Natur; etwa den Ehrgeiz und die Geltungssucht. Dieses geistige Begehren muß ebenfalls durch die Mäßigung gezügelt werden. Die Zügel sind die Bescheidenheit und die Demut.
Der hl. Paulus sagt: „Ich züchtige meinen Leib und bringe ihn in Dienstbarkeit, damit ich nicht selber verworfen werde, nachdem ich anderen gepredigt habe.“ (1. Kor 9,27). Er züchtigte seinen Leib, d.h. er beherrschte das ungeordnete Begehren des Fleisches und des Geistes durch die Tugend der Mäßigkeit.
Die Tugend des Starkmutes
Aber es treten der Gerechtigkeit auch unangenehme, widrige, abschreckende Hindernisse entgegen. Wer auf dem geraden, (ge-)rechten Weg gehen will, der zum Himmel führt, der mag sich darauf gefaßt machen, daß er den Spott der Welt, das Hohnlächeln seiner Nachbarn, Kollegen, Bekannten, Verwandten und vielleicht sogar seiner Familienangehörigen zu spüren bekommt; die Zurücksetzung, die Ausgrenzung; die Verachtung, zuweilen die Benachteiligung bis hin zur Verfolgung durch die Mitmenschen. Das muß der Christ tapfer ertragen, ohne dabei die Gerechtigkeit zu verletzen. Das, und außerdem noch all die Beschwerden, welche in der Übung der Gerechtigkeit selbst schon liegen und oft auch noch durch Leiden und Prüfungen, die Gott zur Reinigung der Seele verhängt, verschärft werden. Diesen Hindernissen gegenüber braucht der tugendhafte Christ dringend die vierte Kardinaltugend – gleich einer zweiten Leibwache – an der Seite der Gerechtigkeit. Und das ist die Tugend des Starkmutes.
Der Starkmut ist jene Tugend, die vor keinem Hindernis furchtsam zurückschreckt, die um Gottes Willen alle Nachteile in Kauf nimmt und alle Widrigkeiten geduldig erträgt; die alle Gefahren und Hindernisse, selbst den Tod, verachtet und so über alles triumphiert.
Man erzählt vom römischen Kaiser Constantius Chlorus, dem Vater Konstantins des Großen, der ein Heide war, daß er viele Christen in seinem Umfeld hatte. Er beschloß, sie auf die Probe zu stellen, indem er zu ihnen sagte: „Ihr habt die Wahl, entweder euren Glauben abzulegen und in meinen Diensten zu bleiben, oder bei eurem Glauben zu verharren, dafür aber aus meinem Dienst entfernt und streng bestraft zu werden.“ Viele Christen gaben den Dienst auf und erwarteten die angedrohte Strafe. Andere schworen dem Glauben ab und meinten so, ihre Existenz gesichert zu haben. Aber dann trat etwas ein, was keiner erwartet hatte. Kaiser Constantius lobte die standhaften Christen und sagte: „Wenn ihr eurem Glauben treu bleibt, so werdet ihr auch mir treu bleiben. Und wer seinen Gott verleugnet, der wird auch einem irdischen Herrn kaum die Treue halten.“
Alle Heiligen sind tapfer gewesen. Es gibt keine feigen Heiligen. Am hellsten und deutlichsten leuchtet die Tugend des Starkmutes jedoch aus dem Leben und insbesondere aus dem Sterben der hl. Märtyrer. Um den Siegeskranz des ewigen Lebens zu erlangen, gaben sie das höchste Gut, das sie besaßen – das leibliche Leben – oft ohne mit der Wimper zu zucken hin, und überwanden die größten Qualen, mit denen man sie zum Glaubensabfall bewegen wollte, in heldenhafter Standhaftigkeit.
Die Schönheit der Tugend
Der Herr sagt: „Jeder gute Baum bringt gute Früchte. Es kann ein guter Baum keine schlechten Früchte tragen.“ Damit wir einer dieser guten Bäume sein können, müssen wir zwei Dinge festhalten: 1. Wir müssen unbedingt das Leben der heiligmachenden Gnade bewahren. Der Todsünder ist ein toter Baum, dem mit dem ewigen Leben der Gnade auch die eingegossenen Tugenden verlorengehen, ohne die wir keine verdienstlichen Werke vollbringen können. Tote Bäume sind Bäume, die keine guten Früchte bringen. Und: „Jeder Baum, der keine gute Frucht bringt, wird ausgehauen und ins Feuer geworfen.“ 2. Wir müssen uns in den Tugenden üben. In den Tugenden, die wir bereits erlangt haben, damit wir sie nicht wieder verlieren. Insbesondere aber in jenen Tugenden, die unseren Lastern entgegenstehen, jenen schlechten Gewohnheiten, die wir immer und immer wieder beichten müssen. Sie können nur durch die entsprechende Tugend überwunden werden. Das bringt freilich jeden Tag Schwierigkeiten mit sich und fordert Selbstverleugnung und Selbstüberwindung. Durch die beharrliche Übung werden wir jedoch herrliche Tugenden erlangen. Harren wir also treu im Tun des Guten aus und arbeiten wir beständig an uns.
Die Tugend der Klugheit zeigt uns dabei den Weg. Die Tugend der Gerechtigkeit will ihn gehen. Die Mäßigkeit überwindet die angenehmen Lockungen, die zwar Süßigkeit versprechen, aber in den Abgrund reißen. Und der Starkmut triumphiert über alle vom Guten abschreckenden Hindernisse.
Klugheit und Gerechtigkeit, Mäßigkeit und Starkmut sind der Reichtum des gottwohlgefälligen Menschen. Er wird von der Heiligen Schrift seliggepriesen: „Glückselig der Mann, der ohne Fehler befunden wird, der dem Gold nicht nachjagt und nicht auf Geld und Schätze seine Hoffnung setzt. Wer ist der, auf daß wir ihn preisen? Denn Wunderbares hat er in seinem Leben vollbracht.“ (Sir. 31,8 f.). Amen.