5. Sonntag nach Pfingsten
Versöhne dich mit deinem Bruder!
Geliebte Gottes!
Die Pharisäer hatten durchaus ihre Tugenden. Wir müssen uns davor hüten, aus den knappen Berichten des Neuen Testamentes ein falsches Bild von ihnen zu bekommen. Der Herr ist mit ihnen häufig zusammengestoßen, weil Er sie ernster nahm als die Sadduzäer oder die Zeloten.
Die Sadduzäer bestanden aus der ungläubig gewordenen Oberschicht der damaligen Zeit. Sie stellten zwar die Priesterschaft und einen großen Teil des Synedriums, des Hohen Rates, waren aber überwiegend ungläubig. Sie glaubten nicht an das ewige Leben und die Auferstehung des Fleisches. Sie waren reine Naturalisten, welche Religion allein als Mittel zu einem politischen oder gesellschaftlichen Zweck verstanden; um das Volk zu einen und an sich zu binden.
Die Zeloten waren die blinden Eiferer, die umstürzlerischen Aktivisten im damals von den Römern besetzten Palästina. Sie wollten mit Gewalt das Reich Gottes unter dem sie das wiedererstandene Königreich Davids verstanden, heraufführen. Religion diente ihnen nur zur Legitimierung ihrer politischen Ansprüche.
Die Pharisäer aber waren strenggläubige Leute. Wenn das Judentum den Untergang Jerusalems, die Zerstörung des Tempels und die seit dem Jahr 70 n. Chr. über Jahrhunderte andauernde völkische Zerstreuung bis heute überdauert hat, dann ist das den Pharisäern zuzuschreiben.
Das Pharisäertum
Was ihnen unser göttlicher Erlöser vorwarf, war neben ihrem Unglauben vor allem die selbstgerechte Mechanisierung der Religion. – Religion muß im Kern Ehrfurcht vor Gott sein, die aus aufrichtigem Herzen versucht, Gottes Willen zu erkennen und aus Liebe und Ehrerbietung gegen Ihn diesen Willen zu erfüllen. Eine solche Herzensgesinnung erfüllt die Gebote, nicht nur nach dem Sinn des Buchstabens, sondern so wie sie gemeint sind und findet so ihren wahren Sinn. Eine solche Herzensgesinnung findet das Richtige auch in den Dingen, die nicht ausdrücklich geschrieben sind; ja selbst in neuen und unvorhergesehenen Verhältnissen. Vor allem aber: Die aus innerer Herzensgesinnung entspringende Religiosität erkennt bald, daß der gefallene Mensch seine Pflichten gegen Gott aus sich selbst heraus gar nicht restlos erfüllen kann! Gott ist der Unendliche, der Vollkommene. Der Mensch ist der Endliche, der Beschränkte. Gott verdient unendliche Verherrlichung. Der Mensch aber kann sie Ihm nur innerhalb seiner geschöpflichen Grenzen darbieten. Und selbst daran wird er von der ihm innewohnenden Schwachheit und Bosheit gehindert. Aus dieser Erkenntnis ist der Mensch mit einer wirklich religiösen Herzensgesinnung, bescheiden und demütig.
Ganz anders verhielt es sich bei den meisten Pharisäern. Sie verlagerten das Wesen der Religion auf die buchstabengetreue Ausführung der Gesetzesvorschriften. Auf die Gesinnung dabei kam es nicht an. Allein die Tat zählte. Die peinlich genaue Erfüllung der vielen Gebote und zusätzlichen Satzungen des Gewohnheitsrechtes vertrug sich sehr wohl mit einem unaufrichtigen und selbstsüchtigen Herzen.
Das konnte so weit gehen, daß sie den Sinn des göttlichen Gesetzes durch Wortklauberei in sein Gegenteil verkehrten. Ihr Tun war nicht mehr von der Liebe zu Gott angetrieben. Ein nazistisches Wohlgefallen an sich selbst war der innere Antrieb, der die Pharisäer zur äußerlich tadellosen Befolgung der Gesetzesvorschriften bewegte. Sie wollten untadelige Ehrenmänner sein, denen niemand ein Unrecht nachweisen kann. Der Mitmensch nicht; und auch Gott nicht! Darum der exzessive Buchstabendienst bis zum Unsinn. „Es steht ja geschrieben …!“ „Und seht, ich tue genauso und habe mir selber nichts vorzuwerfen und brauche mir auch von sonst jemandem nichts vorwerfen zu lassen“, so lautete ihre Devise. Dabei ist jedoch Gott aus der Mitte ihrer Frömmigkeit gerückt. Der (selbst-)„gerechte“ Mensch ist alles. Eine solche Selbstgefälligkeit wird mehr und mehr zur berauschenden Droge des Stolzes und des Hochmutes. Dieser Rausch des Wohlgefallens an der eigenen Gerechtigkeit engt das Blickfeld ein. Der Hochmut macht blind. Irgendwo ist die Weiche falsch gestellt.
Der Mensch entwickelt sich dem äußeren Anschein nach zum Guten; ja, sogar zur Perfektion! In Wirklichkeit aber entwickelt er sich zu einem Zerrbild ohne es sich einzugestehen; vielleicht sogar, ohne es selbst zu bemerken. Wie gesagt: Der Rausch der Selbstgefälligkeit engt das Blickfeld ein.
Auf unseren Herrn Jesus Christus mit Seiner göttlich-lauteren Liebe zum Vater mußten diese Menschen wie schreckliche Karikaturen wirken. Darum Sein energischer Kampf gegen die Selbstgerechtigkeit der Pharisäer. Im heutigen Evangelium tritt der Heiland vor allem einer Erscheinungsform des Pharisäertums entgegen: dem vermeintlich „gerechten Zorn“ gegen den Nächsten. Dieser sei nach der in den Synagogen verbreiteten pharisäischer Lesart solange moralisch bedenkenlos, solange keine Mordtat verübt würde. Denn der Buchstabe lautete ja: „Du sollst nicht töten.“ (Ex. 20,13). Ansonsten gelt: „Aug um Aug und Zahn um Zahn.“
Die Notwendigkeit des Verzeihens
Dem selbstgerechten Zorn hält Christus das Verzeihen entgegen. Verzeihung bezeichnet den Entschluß bzw. die Handlung, erlittenes Unrecht dem Täter nicht anzulasten, nicht nachzutragen. Wer das Menschenherz kennt, weiß, wie schwer es dem Menschen wird, von Herzen zu verzeihen. Gerade an dieser Forderung stößt das natürliche Empfinden des menschlichen Herzens mit dem Gesetz Gottes und damit mit dem Gesetz der wahren Frömmigkeit zusammen. Tausenderlei Ausreden und Entschuldigungsgründe erfinden die Menschen, erfinden wir Menschen, um nicht verzeihen zu müssen, um das Gebot in pharisäischer Manier zu umgehen.
Vergeben erscheint manchen als Schwäche; sie wollen nicht als schwache Menschen dastehen. – Andere sagen: „Ja, man möchte schon gern verzeihen, aber schuld ist doch der andere, und deshalb muß er den ersten Schritt tun.“ – Wieder ein anderer sagt: „Ach, der Streit ist schon so lange her, da ist alles so tief eingefressen, da kann man doch nichts mehr machen.“ – Wieder ein anderer rechtfertigt sich mit der Feststellung: „Es fruchtet ja ohnehin nichts. Wir werden über kurz oder lang wieder in Streit miteinander geraten. Auch wenn wir uns heute vertragen, werden wir morgen wieder eine Auseinandersetzung haben.“
Der Heiland läßt alle diese Gründe nicht gelten. Wir haben eben gehört, wie streng Er das Zürnen geahndet wissen will; mit menschlichem, ja mit dem göttlichen Gericht! Die drei genannten Gerichte, von denen der Herr hier spricht, dienen lediglich der Veranschaulichung der verschieden großen Schuld, der drei angeführten Arten des Zornes. Der hl. Augustinus bemerkt dazu: „Es gibt also verschiedene Stufen bei diesen Sünden. Zunächst, wenn jemand zürnt und den Unwillen, den er im Herzen trägt, für sich behält. Sodann, wenn die Aufregung sich Luft macht durch unwillige Laute, die zwar keinen Inhalt haben, aber doch schon dadurch, daß sie laut werden, die seelische Erregung kundtun, durch die der getroffen wird, dem man zürnt. Das ist sicher mehr, als wenn man den aufsteigenden Zorn still unterdrückt. Wenn man aber nicht nur einen unwilligen Laut vernimmt, sondern auch ein Wort, das schon einen unverkennbaren Vorwurf gegen den enthält, gegen den es ausgestoßen wird, wer zweifelt dann, daß das viel mehr ist, als wenn man nur einen unwilligen Laut ausstößt.“ Christus nennt zu jeder Stufe jeweils eine Einrichtung der Justiz, um Seinem rein religiösen Gedanken Ausdruck zu verschaffen. Der hl. Augustinus erklärt dazu: „Nun schau, wie es auch drei Arten der Strafe gibt: dem ‚Gericht‘, dem ‚Hohen Rat‘ und dem ‚höllischen Feuer‘ verfallen. Beim Gericht gibt es noch die Möglichkeit, sich zu verteidigen. Im Hohen Rat finden wohl auch Gerichtsverhandlungen statt, doch zwingt uns schon die Unterscheidung, hier etwas anderes anzunehmen. Sache des Hohen Rates ist es, wie mir scheint, das Urteil zu bestimmen. Hier wird also nicht mehr über den Angeklagten eine Untersuchung angestellt …, sondern hier beraten die Richter unter sich, welche Strafe über den Schuldigen verhängt werden soll. Beim höllischen Feuer aber besteht kein Zweifel mehr, weder über das Urteil, noch über das Strafmaß des Verurteilten. … Beim höllischen Feuer steht das Urteil und das Strafmaß des Verurteilten fest.“ – Das alttestamentliche Gesetz verbot und strafte nur die äußere Tat, den vollendeten Mord. Der Heiland stellt als neuer Gesetzgeber Sein vergeistigtes und verinnerlichtes Gebot dagegen: „Schon wer dem Bruder zürnt“, verdient die Strafe, die nach dem bisherigen Gesetz auf Mord steht. Darin liegt die gewaltige Steigerung und Verschärfung, die das neue Gesetz des Evangeliums gegenüber dem alttestamentlichen Gebot bedeutet. Die Strafe, die das Alte Testament auf die vollendete Mordtat setzt, wird auf die Gesinnung des Zornes gesetzt.
Das Prinzip, das der Herr uns lehrt, ist dieses: Für die sittliche Beurteilung einer Tat ist die Gesinnung maßgebend, und deswegen wiegt der Zorn, der schließlich zur bösen Tat, u. U. auch zum vollendeten Mord führt, schon so schwer wie der Mord selbst. Der Zorn ist nämlich ein vorweggenommenes Morden im Herzen.
Von ganzem Herzen verzeihen
Dagegen gibt es nur ein Mittel. Von ganzem Herzen müssen wir dem Beleidiger verzeihen. – Jedoch: In keiner Sache betrügt und belügt sich der Mensch mehr als in dieser. Dabei hat uns der Herr eindeutige Weisungen hinterlassen. In der Bergpredigt heißt es: „Wenn ihr den Menschen ihre Sünden verzeiht, dann wird auch euer himmlischer Vater euch eure Sünden vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht verzeiht, dann wird auch euer himmlischer Vater euch eure Sünden nicht vergeben.“ Was heißt das? Göttliches Vergeben und menschliches Verzeihen sind miteinander verbunden. „Mit dem Maß, mit dem ihr meßt, wird euch gemessen werden.“ Darum beten wir sogar im Vaterunser: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ So hat uns der Heiland zu beten gelehrt. Man kann nicht von Gott Vergebung erwarten, wenn man selbst nicht bereit ist zu verzeihen.
Wir vertrösten uns gern mit der göttlichen Barmherzigkeit, und sie ist ja auch unsere einzige Hoffnung im persönlichen Gericht; denn wir wissen um unsere unzähligen Sünden, Fehler und Nachlässigkeiten. Aber! Dieses Vertrauen auf die göttliche Barmherzigkeit darf nicht die Schranke übersehen. Jene Schranke, die Gott Seiner Barmherzigkeit gesetzt hat. Und diese Schranke heißt: „Wenn ihr den Menschen ihre Schulden nicht verzeiht, wird auch euer himmlischer Vater euch eure Sünden nicht vergeben.“ „Mit dem Maß, mit dem ihr meßt, wird euch gemessen werden.“ Das Wort ist klar und bestimmt, und man kann nicht daran rütteln.
Die Reue der Maria Magdalena, das Flehen des Schächers, der Reueschmerz des Petrus und der Eifer des Paulus würde ihnen nichts genutzt haben, wenn sie auch nur gegen einen einzigen ihrer Brüder Zorn und Unversöhnlichkeit bewiesen hätten. Erst muß man sich versöhnen, dann kann man zu Gott kommen, um zu opfern. All unser Kirchgehen, all unser Beten, all unser Beichten, all unser Kommunizieren ist nichts vor Gott, wenn wir nicht den Geist wahrer christlicher Güte, den Geist des Erbarmens und des Verzeihens gegen unsere Mitmenschen in uns tragen. Im Verzeihen liegt keine Schwäche, im Gegenteil! Es ist der Beweis einer unglaublichen Stärke, weil man sich dabei selbst überwindet. Wenn mehr Verzeihung, wenn mehr Einräumung der eigenen Mitschuld in unseren Ehen und Familien wäre, dann sähe es dort oft anders aus.
Kein Opfer ohne vorherige Versöhnung
Wir haben eben im Evangelium gehört: „Wenn du daher deine Gabe zum Altare bringst und dich daselbst erinnerst, daß dein Bruder etwas gegen dich hat, so laß deine Gabe dort vor dem Altar, geh zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und dann komm und opfere deine Gabe.“ Diese Forderung mag dem ein oder anderen etwas übertrieben scheinen. Versuchen wir den Sinn zu ergründen.
Freilich, der Grundgedanke dieser Worte ist natürlich nicht der, daß die Pflicht der Versöhnung des Bruders wichtiger sei als der Gottesdienst, sondern der, daß Gott ohne vorausgegangene Versöhnung kein Opfer annimmt. Noch einmal: Daß Gott ohne vorausgegangene Versöhnung kein Opfer annimmt! Gott nimmt von dem Menschen kein Opfer an, wenn dieser mit dem Mitmenschen im Unfrieden lebt. Was bedeutet diese Forderung konkret? – Hier ist von zwei Personen die Rede. Die eine hat sich schuldig gemacht gegen die andere, und die schuldige Person will jetzt ein Opfer darbringen. Aber zuvor muß sie die Versöhnung setzen. Der Zürnende, das ist die Person, welche ein Unrecht erfahren hat. Sie ist nicht der Opfernde, sondern der Opfernde ist vielmehr schuld daran, daß sein Bruder „etwas gegen ihn hat“. Der Opfernde hat sich gegen seinen Bruder verfehlt, deswegen muß diese Verfehlung eingestanden und aus der Welt geschafft werden.
Konstruktive Selbstkritik zur Anbahnung der Versöhnung
Freilich, dieses Eine sei zugestanden. Wenn das Problem beim anderen liegt, weil er sich aus irgendeinem Grund eben nicht versöhnen will, weil er die von uns zur Versöhnung ausgestreckte Hand nicht annehmen will, so sind wir nicht gehindert, unsere Gabe zu opfern. Wenn andere ohne gerechten Grund „etwas gegen uns haben“, so wird unser Opfer deshalb nicht unglaubwürdig vor Gott. Aber selbst dann! Der religiöse Mensch, der den Sinn des Gebotes zu erfüllen sucht, erinnert sich, wenn er vor den unbestechlichen Gott hintritt, daß sein Bruder etwas gegen ihn hat. Deshalb zürnt er seinem Bruder nicht, aber er spricht sich auch nicht gleich selbst von jeder Schuld frei. Die Tatsache, daß sein Bruder etwas gegen ihn hat, macht ihn vielmehr nachdenklich. Er erwägt sofort die Möglichkeit, daß vielleicht auf seiner Seite auch ein Quentchen Schuld sein könnte. Er hält das sogar für sehr wahrscheinlich, daß es sich genau so verhält, weil er seinem Bruder nicht zutraut, daß er ganz ohne Grund etwas gegen ihn haben könnte.
Das Wissen um seine eigene Schwäche und Fehlerhaftigkeit befestigt ihn in der Bescheidenheit und in der Demut, die ihn kritisch machen gegen sich selbst. Darum kann er nicht weiter sein Opfer vor Gottes unbestechlichen Augen einfach so darbringen. Er muß erst seinen Bruder fragen, was denn zwischen ihnen ist, was er selbst wohl verkehrt gemacht hat.
So eine Frage ist der beste Weg zur Anbahnung einer Versöhnung. Dann kann er guten Gewissens und frohen Herzens zu Gott zurück, weil er nicht nur versöhnt ist mit seinem Bruder, sondern auch sich selbst gebessert hat, weil er vielleicht auch etwas über sich selbst gelernt hat und jetzt um einen Fehler weiß, für den er vorher blind war und den er jetzt bessern kann. – Hier liegt der Ansatzpunkt, sich von der selbstgenügsamen Gerechtigkeit der Pharisäer, welche sich nach äußerlicher Gesetzeserfüllung umgehend von jeder Schuld freispricht, zu unterscheiden und besser zu werden als diese. Man muß sich selbst gegenüber kritisch bleiben und stets die Möglichkeit einräumen, daß man selbst mindestens auch mitschuldig an zwischenmenschlichen Spannungen ist.
Wenn der Mitmensch also von dir boshaft beleidigt worden ist, dann mußt du zuerst die Hand zur Versöhnung reichen. Oder jener hat dir Unrecht getan; dann darfst du seine zur Versöhnung gereichte Hand nicht ausschlagen. Solches Tun hat Christus seliggepriesen: „Selig die Friedfertigen, sie werden Söhne Gottes genannt werden!“ Die Friedfertigkeit zeigt sich eben in der Versöhnungsbereitschaft. Und die Versöhnlichkeit macht das Opfer vor Gott wohlgefällig, weil das Verzeihen selbst ein gottwohlgefälliges Opfer ist. Daher: „Wenn du deine Gabe hinbringst zum Opferaltar und dich erinnerst, daß dein Bruder etwas gegen dich hat, dann laß die Gabe zunächst einmal liegen und geh zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder.“
Regeln des Verzeihens
Es gibt nun bestimmte Regeln für das Verzeihen. Grundvoraussetzung zum Verzeihen ist eine ganz heilige Vorstellung von Gott. Angetrieben von der Heiligkeit Gottes muß man seine aufrichtige Gesinnung überprüfen, bevor man diesem Gott seine Gaben anbietet. Der Mensch, welcher vom Geist des Evangeliums beseelt ist, wird durch den Gottesdienst feinfühliger und umgänglicher, rücksichtsvoller und vorsichtiger; ist er doch der eigenen Schwäche und der Schwäche des anderen stets eingedenk.
Hingegen wird der Pharisäer durch seine frommen Übungen immer eingebildeter, überheblicher und ungenießbarer.
Jeder prüfe sich selbst! Man wehre bei der Erwägung dieser Dinge der Gefahr, nach dem Splitter im Auge des Nächsten Ausschau zu halten, sondern nach dem Balken im eigenen Auge zu suchen! Jeder prüfe sich selbst! Doch was muß nun konkret beachtet werden, damit wir auch „richtig“ verzeihen?
a) Selbstbeherrschung und Selbstüberwindung
Am allerbesten wäre es natürlich, man macht sich gar nicht erst schuldig; man überwindet den Zorn, der in einem aufkommen möchte. – Es lohnt sich nicht, sich wegen geringfügiger Dinge aufzuregen, wild gegen den anderen zu werden, loszugehen, ihn mit Vorwürfen zu überhäufen, ihn durch Schimpfworte zu erbittern. Nein, die Neigung zum Zorn muß man überwinden! Ruhig, bleiben! Die Aufwallung des Herzens unterdrücken. – Der Zorn schafft nichts Gutes. Wir haben es noch jedesmal bereut, wenn wir zornig gewesen sind. Warum also zornig werden? Warum das tun, was wir doch hinterher bereuen müssen?
b) Schnell die Versöhnung suchen
Leider kommt es trotz guter Vorsätze immer wieder zum Zorn. Dann gilt das Wort des heiligen Paulus: „Zürnt ihr, so laßt es nicht zur Sünde kommen! Die Sonne gehe nicht unter über eurem Zorne!“ Das heißt: Bevor der Tag zu Ende geht, soll man Frieden machen; nicht mit Groll und mit Bitterkeit in die Nacht hineingehen; nicht den Streit in sich einwirken lassen zur Bitterkeit, zur Ablehnung, zur Entfremdung, zur Abneigung. Das Verzeihen wird nicht leichter, wenn man es aufschiebt.
Ende des 6. Jahrhunderts lebte der hl. Bischof Johannes, genannt „der Almosengeber“. Er war Patriarch von Alexandrien. Von ihm wird berichtet, daß er mit dem Statthalter von Alexandrien in Streit geraten war. Anlaß der Auseinandersetzung war die Mildtätigkeit des Heiligen. Es wurde Abend, und da kamen, vom Bischof gesandt, zwei Geistliche zum Statthalter und richteten ihm aus: „Herr, die Sonne will untergehen.“ Der Statthalter verstand die Anspielung, überwand sich und versöhnte sich noch zur Stunde mit dem Bischof.
c) Immer wieder verzeihen
Besonders schwer fällt uns das Verzeihen, wenn es immer wieder notwendig wird. Da möchte mancher sagen: „Jetzt reicht es endgültig!“ Das hat auch der hl. Petrus gedacht. Er trat einmal zum Herrn und sprach: „Herr, wie oft muß ich meinem Bruder vergeben, wenn er wider mich sündigt, etwa sieben Mal?“ Jesus antwortete ihm: „Ich sage dir: Nicht etwa sieben Mal, sondern siebzig Mal sieben Mal.“ Das heißt immer!
Wer nicht verzeiht, in dem wächst eine bittere Wurzel, man nennt sie „Groll“. Groll ist die nicht überwundene Rachsucht. Wer einem anderen grollt, trägt ihm etwas nach, wartet auf die Stunde der Vergeltung. Entweder will er es ihm heimzahlen, oder er erwartet den Augenblick, bis den anderen ein Unglück oder Mißgeschick trifft, um in der Schadenfreude seinen Rachedurst zu kühlen. „Jetzt hat er seine gerechte Strafe bekommen!“ Dadurch wird jedoch die Kette des Bösen nicht abgerissen sondern nur fortgesetzt. Wenn der andere genauso denkt, will er wiederum Rache für das haben, was ihm angetan worden ist. Und so kommt das Böse nie zum erliegen, sondern schwelt stets fort, bis es wieder und wieder aufflammt.
Es kommt nur dann zu einem Ende, wo einer mit der Epistel des hl. Petrus sagt: „Ich vergelte nicht Böses mit Bösem.“ Wenn einer wieder und immer wieder zu den hartnäckig in seinem Herzen aufsteigenden Rachegedanken sagt: „Ich vergebe von Herzen.“ Da wird die Kette des Bösen zerrissen. Das mag mühsam sein und einer großen Ausdauer bedürfen. Aber nur das unermüdliche Verzeihen kann den Groll besiegen.
c) Bedingungslos verzeihen
Die Vergebung muß ferner bedingungslos sein. Man darf sie nicht von einer Vorleistung des anderen abhängig machen. Womöglich sieht der andere gar nicht ein, daß er schuldig geworden ist und daß er eine Vorleistung erbringen soll, und wenn er sie nicht erbringt, unterbleibt die Verzeihung. Nein, Verzeihen ohne Bedingungen zu stellen. Verzeihen, ohne eine Vorleistung zu fordern, das müssen wir uns zur Angewohnheit machen. – Wer nicht verzeiht, der legt sein Herz in Ketten. Wieso? Wer nicht verzeiht, wird unfrei. Sein Herz wird in die eisernen Bande der Lieblosigkeit geschlagen, die ihn hindern dem Nächsten Gutes zu wollen und Gutes zu tun. Er ist ein Gefangener seines Grolls, er ist ein Gefangener seiner Unversöhnlichkeit. Er kann nicht unbefangen mit dem anderen verkehren.
Wer nicht verzeiht, wird auch freudlos, denn die Unversöhnlichkeit frißt und nagt in ihm, raubt ihm die innere Ruhe und den Herzensfrieden. Das kann so weit gehen, daß man von der Unversöhnlichkeit seelisch, ja sogar körperlich krank werden kann. Man sagt – vermutlich zu Recht – daß manche Krankheiten, die etwa mit der Galle oder mit der Leber zu tun haben – vielleicht auch der Krebs; daß manche Krankheiten auf die seelische Zerrüttung, die aus der Unversöhnlichkeit herstammt, zurückzuführen sind. Der unversöhnliche Mensch ist ein friedloser Mensch. Er findet keine Ruhe, ist rastlos getrieben und bitter im Herzen. Wer nicht verzeiht, der schadet sich selbst am allermeisten!
d) Nicht beleidigt sein!
Für ganz gefährlich und äußerst schädlich muß sodann gehalten werden das trotzige, gekränkte Schweigen gegenüber einem anderen, der einem vermeintlich oder wirklich Unrecht getan hat. Man nennt das „Schmollen“. Mit der Verweigerung des Sprechens will man dem anderen zeigen, wie gekränkt man ist; wie groß die Verletzung durch das erlittene Unrecht ist; wie sehr man von dem anderen enttäuscht ist.
Das Verstummen gegenüber einem Familienmitglied oder einem Arbeitskollegen entfremdet die Menschen voneinander. Das Sprechen verbindet, das Verstummen, das trotzige Verstummen, entfernt die Menschen voneinander. Wenn sie aus Beleidigtsein das Reden einstellen, trennen sie sich voneinander; vertiefen den Spalt, der durch einen Wortwechsel, eine unbedachte Handlung, einen Streit entstanden ist. Deswegen: Nicht verstummen, weil einem Unrecht widerfahren ist; weil man meint, ein Recht zu haben, beleidigt zu sein.
e) Die Empfindlichkeit niederringen
Hat man selbst eine Beleidigung, eine tatsächliche Schädigung durch Verleumdung oder üble Nachrede zu erleiden, dann ist guter Rat teuer. Ein geistlicher Autor rät in einem solchen Fall seine Empfindlichkeit niederzuringen und sich gegenüber dem Beleidiger so zu verhalten, als ob nichts gewesen wäre. Ihm unbefangen, freundlich, höflich, hilfsbereit gegenübertreten. Zweifelsohne verlangt das eine große sittliche Anstrengung, denn wir alle sind überaus empfindlich. Jedoch kann wohl kein besserer Rat als dieser gegeben werden. Wer sich zum bedingungslosen Verzeihen durchringt, der wird frei von Komplexen, von Befangenheit, von Ansprüchen an den anderen. – Die Empfindlichkeit, die Ehrsucht spricht: „Das kann ich nicht hinnehmen.“ Der Heiland sagt: „Du kannst, wenn du willst. Und du kannst, weil du mußt!“
Den Pharisäer in uns totschlagen
Der Kampf unseres göttlichen Erlösers gegen eine verzerrte Frömmigkeit und gegen das Pharisäertum ist keineswegs zu Ende. Jeder muß für sich selbst die Gewissenserforschung anstellen, ob er im Umgang mit Gott lernt, seine eigenen Fehler schärfer zu sehen und deshalb dem Mitmenschen gütiger und versöhnlicher zu begegnen. Machen wir uns da nichts vor. Jeder muß in sich selbst einen Pharisäer totschlagen!
Wer sich darum bemüht, wird keine Übertreibung mehr in dem Herrenwort sehen: „Laß deine Gabe dort liegen …“, sondern einen selbstverständlichen Grundsatz des Evangeliums von der Liebe: „Geh zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder; und dann komm und opfere deine Gabe.“ Amen.