„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben.“

Geliebte Gottes!

Das Hauptgebot, das heute ganz im Zentrum des Sonntagsevangeliums steht, umfaßt drei Pflichten, nämlich die Pflicht Gott zu lieben, die Pflicht den Nächsten zu lieben, und – gleichsam als Basis der Nächstenliebe – die Pflicht auch uns selbst in rechter Weise zu lieben. Während der Herr selbst in unvergleichlich schöner, anschaulicher und berührender Weise das Gebot der Nächstenliebe durch das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter erklärt hat, wollen wir uns heute besonders dem Fundament und ersten Gegenstand des Hauptgebotes zuwenden.

An erster Stelle steht die Pflicht Gott zu lieben. – Bezüglich dieser Pflicht zur Gottesliebe wollen wir drei Dinge näher in Augenschein nehmen, nämlich:

  1. den Inhalt bzw. den Umfang dieser Verpflichtung
  2. die Kennzeichen der Gottesliebe und
  3. die Beweggründe der Liebe zu Gott.

Was heißt Gott lieben?

Der Inhalt des Gebotes der Gottesliebe umfaßt die Liebe zu Gott, über alles. Wir sollen Gott über alles Geschaffene lieben. Das tun wir, wenn wir Ihn mehr lieben als alles in der Welt, so daß wir bereit sind, eher alles zu verlieren – selbst unser Leben – als uns durch eine schwere Sünde von Ihm zu trennen.

Aber was heißt es, jemanden zu lieben? Es heißt zu allererst, daß man demjenigen, den man liebt, Gutes will und Gutes wünscht, ihm nach Kräften Gutes tut und ihn vor Schaden bewahren will. Es heißt, daß man sich freut, wenn dem Geliebten Gutes zuteil wird und daß man sich genauso betrübt, wenn ihm Unheil wiederfährt; wenn er beleidigt, herabgesetzt, geschmäht oder getadelt wird. Es ist sonnenklar, daß von der Liebe die guten Wünsche, sowie unter Umständen die Emotionen der Freude und der Traurigkeit unzertrennlich sind.

Wenn wir diese Erklärung der Liebe auf Gott anwenden, was müssen wir dann sagen? Wir müssen sagen: Derjenige, der Gott liebt, wird von Herzen wünschen, daß Gott gelobt und verherrlicht wird, d.h. daß Ihm ein würdiger Gottesdienst erwiesen und Sein heiliger Wille, durch den Gehorsam gegen Seine Gebote, beachtet wird. Die gottliebende Seele wird sich freuen, wenn dies geschieht. Sie wird sich aber umgekehrt genauso auch betrüben, wenn Gott und Sein Gebot gelästert, beleidigt oder mit Gleichgültigkeit und Unglaube behandelt wird. Wer Gott liebt, wird selber – wie ein Liebender – oft und gerne an Gott denken; an Seine Vollkommenheiten, Seine Wohltaten. Er wird selber oft und gerne mit Gott im Gebet sprechen wollen, wie der Freund zum Freunde, und nach Kräften Gottes heiligen Willen erfüllen. Gerade letzteres ist der entscheidende Ausweis, daß die Liebe zu Gott nicht eingebildet, sondern echt ist. Denn wie schon die Philosophen des Altertums sagen, besteht die Liebe wesentlich darin dasselbe zu wollen und dasselbe nicht zu wollen, wie es der Geliebte tut. Der Wille des Menschen äußert sich jedoch in der Tat. Wenn der Mensch den Willen Gottes tut, dann ist sein Wille in Übereinstimmung mit dem göttlichen, in Deckungsgleichheit, in Einheit. Und eben in dieser Vereinigung der Willen besteht wesentlich die Liebe. Das heißt also Gott lieben.

Gott über alles lieben!

Das Gebot verlangt jedoch nicht nur, daß wir Gott lieben sollen; es wird auch befohlen, daß wir Ihn über alles lieben sollen. „Aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele, aus ganzem Gemüte und aus allen Kräften!“ Das will sagen: Die Liebe zu Gott soll in unserem Herzen die höchste Liebe sein, die jede andere Liebe übersteigt.

Ja, wenn das so ist, werden vielleicht manche denken; wenn das so ist, dann haben wir die wahre Liebe zu Gott noch nicht. Denn wir fühlen uns durch stärkere Bande der Liebe gefesselt an bestimmte Menschen, oder an unsere Ehre, oder an unser Hab und Gut, oder an unser Leben, mehr, als an Gott. Das mag sein. Aber wenn man untersucht, wo die höchste Liebe ist, kommt es nicht auf das Gefühl an, sondern auf die Wahl, die wir treffen! – Denken wir, wir hätten die Wahl, einen Tag lang heftige Zahnschmerzen zu erdulden oder auf beiden Augen blind zu werden. Was würden wir wählen? Natürlich den Zahnschmerz! Obwohl dieser dem Gefühl nach stärker ist als die Blindheit, so ist doch die Blindheit ein größeres und gefährlicheres Übel als der Zahnschmerz. – Stellen wir uns außerdem vor, ein Vater hätte zwei Söhne. Der eine ist durch sein Wissen, seine Tüchtigkeit, seinen Fleiß, sein Amt und vor allem durch sein Einkommen die Hoffnung und Stütze der ganzen Familie. Der andere hingegen ist kränklich, aber dafür von schöner Gestalt, überaus freundlich, liebevoll, die Freude und der Liebling aller. Und denken wir uns nun, der Vater würde vor die Wahl gestellt, einen der beiden Söhne zu verlieren. Wie wird er wählen? Gewiß, die Trennung von dem zweiten Sohn ist ihm vom Gefühl her schmerzlicher, aber die Trennung von dem ersten Sohn ist für die ganze Familie existentiell verderblicher. Er wird den zweiten hingeben und den ersten behalten.

Diese Beispiele zeigen uns, wie wir unterscheiden können, ob die Gottesliebe in unserem Herzen die höchste ist, oder nicht. Nicht das Gefühl, sondern die Wahl ist dabei das Entscheidende! Die Gottesliebe ist dann die höchste, wenn wir bereit sind, lieber uns von allem anderen zu trennen, als von Gott.

Unser göttlicher Erlöser selbst gibt an, welche andere, an sich erlaubte und gute Formen der Liebe, sich der Gottesliebe unterordnen müssen: „Wer Vater oder Mutter mehr liebt als Mich, ist Meiner nicht wert. Desgleichen wer Sohn oder Tochter mehr liebt als Mich, ist Meiner nicht wert. Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, ist Meiner nicht wert. Wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren. Wer hingegen sein Leben verliert um Meinetwillen, der wird es finden.“ (Mt. 10,37ff.). Unsere Liebe zu Gott muß also so groß sein, daß wir eher bereit wären alle, und selbst die höchsten geschaffenen Güter, bereitwillig hintanzustellen, wenn sie mit der Liebe zu Gott in Konflikt gerieten. – Nur dann lieben wir Gott über alles, wenn wir Gott den Vorzug der Wahl geben, vor der Liebe zu unseren Eltern, denen wir immerhin unser Leben verdanken; vor der Liebe zu unseren Kindern, die ja nichts Geringeres als die Frucht unseres Leibes und der Augenstern unseres Herzens sind. Wir müssen Gott den Vorrang einräumen vor einem angenehmen Leben, welches das Kreuz flieht. Ja, und würden wir vor die Wahl gestellt, entweder Gott oder unser eigenes Leben, dann müßten wir sogar bereit sein, lieber zu sterben, als Gott zu verraten. Nur dann ist unsere Liebe zu Gott in der rechten Ordnung, wenn wir Ihn allein über alles lieben.

Vor diese Wahl sind die hl. Märtyrer tatsächlich gestellt worden. Und sie haben sich entschieden! Als wahre Helden der Gottesliebe haben sie sich eindeutig entschieden, lieber Hab und Gut, Frau und Kind, Leib und Leben zu verlieren; lieber einfach alles hinzugeben, als durch die Verleugnung des Glaubens Gott schwer zu beleidigen.

Vor eine ähnliche Wahl werden auch wir tagtäglich gestellt, und sind wir gewiß auch des desöfteren gestellt. – Was ist uns lieber, der ungerechte Vorteil oder das ungerechte Gut, das wir durch Lüge, Täuschung, Betrug oder sonst eine schwere Sünde gewinnen könnten, oder Gott? Was ist uns lieber, der Rausch sündhafter Lust und Begierden oder Gott? Was ist uns lieber, die Erde, oder der Himmel, die Welt oder Gott? Bei dieser Wahl zeigt sich, ob wir Gott über alles lieben.

Je besser wir Gott erkannt haben, als das höchste Gut, das Gut aller Güter, die Quelle aller Güter, als den Inbegriff aller Vollkommenheit, als unseren größten Wohltäter und Beschützer, der nicht davor zurückgeschreckt ist, eine sterbliche Natur anzunehmen, um Sein Leben am Schandpfahl des Kreuzes für uns zu opfern; wer Gott so erkannt hat, wie könnte er schwanken, wie könnte er sich auch nur einen Augenblick Bedenkzeit ausbitten, wenn auf der anderen Seite lediglich eines Seiner Geschöpfe steht, dessen Liebe, Zuneigung oder Besitz nur durch die Beleidigung Gottes erlangt, erreicht oder behalten werden könnte! Die Wahl zwischen Gold und Asche sollte nicht schwer sein.

Die Kennzeichen wahrer Gottesliebe

Nachdem wir uns den Inhalt des Gebotes klargemacht haben, wollen wir nun die Kennzeichen betrachten, an denen sich die echte Liebe zu Gott zeigt und erkannt wird. Die Liebe ist im Herzen. Sie ist innerlich. Weder an den Kleidern, noch am Gesicht, noch an der Gestalt eines Menschen kann man sicher erkennen, ob er die Liebe Gottes hat. Wir können es kaum von uns selber sagen. – Viele, die in den süßesten Gefühlen der Liebe Gottes zu schwimmen scheinen, haben die übernatürliche Gottesliebe in Wirklichkeit nicht; und andere, die nichts von der Liebe fühlen, haben sie tatsächlich. Wie das? Woran erkennen wir, daß wir Gott lieben? Wir erkennen es daran, daß wir Seine Gebote halten. – Der Gottmensch Jesus Christus selbst hat dieses Kennzeichen angegeben, als Er sprach: „Wer Meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der Mich liebt.“ (Joh. 14,21). Derselbe Christus hat auch die Liebe Gottes mit einem Feuer verglichen. „Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu senden, und was will Ich anderes, als daß es brenne?“ Ein schönes und treffendes Bild!

Wenn also die Gottesliebe mit einem Feuer verglichen wird, woran unterscheidet man denn wirkliches Feuer von gemaltem, photographiertem oder gefilmtem Feuer? Das wirkliche Feuer brennt! Es ist nie müßig, sondern immer tätig. Es zeigt seine Tätigkeit an allem, was ihm begegnet und in den Weg kommt. Die Erde steht unbeweglich unter unseren Füßen. Das Wasser im See steht still. Auch die Luft ist bisweilen windstill und ganz ruhig. Niemals aber das Feuer! Das Feuer ist nie ruhig. – Begegnet ihm Holz, so wird es verzehrt; begegnet ihm Eisen, so wird es glühend und flüssig gemacht; begegnet ihm Wasser, so geht es in Dampf auf; begegnet ihm Wind oder Sturm, so erheben sich die Flammen himmelhoch. Und König Salomon fügt zusammenfassend hinzu: „Das Feuer sagt nie, es ist genug.“ (Spr. 30,15). Sein Wesen ist rastlose Tätigkeit. Alles was es erfaßt, will es in sich selbst umwandeln.

So ist auch die Gottesliebe. Sie besteht nicht in müßigen Gefühlen, nicht in hochtrabenden Worten, nicht in gelehrter, luzider Wissenschaft. Sie besteht darin, daß sie tätig ist. Begegnen ihr die Gebote Gottes, die Liebe hält sie. Begegnen ihr Versuchungen, die Liebe überwindet sie. Regt sich eine verkehrte Neigung oder Leidenschaft, die Gottesliebe bändigt sie. Handelt es sich um ein Opfer, die Liebe bringt es. Handelt es sich um die tagtägliche Arbeit in Familie und Beruf, die Liebe verrichtet sie Gott zuliebe. Handelt es sich um Leiden, die Liebe trägt sie.

Gerade in letzterem liegt ein weiteres und sehr gutes Kennzeichen der Gottesliebe; nämlich im gottergebenen Tragen der Leiden und Widerwärtigkeiten. – Sowohl ein dichtes Gefäß als auch ein geflochtener Korb sind beide, solange sie unter Wasser sind, gleichmäßig mit Wasser gefüllt. Zieht man sie aber aus dem Wasser heraus, so bleibt das dichte Gefäß gefüllt, während sich der Korb leert. So ist es leicht, in den Tagen des Glücks, der Gesundheit und der Zufriedenheit zu sagen: „Ich liebe Gott aus ganzem Herzen.“ Kommen aber die Tage schwerer Leiden: Tage der Krankheit, des Alters, der Armut, der Entbehrung, der Einsamkeit, des Unglücks, dann zeigt sich, wo die echte Gottesliebe ist. Der hl. Paulus sagt es uns, wo sie ist: „Die Liebe erträgt alles, duldet alles.“ (1. Kor. 13,7). Wo hingegen die Liebe fehlt, da ist es anders. – An dem greisen Tobias, von dem das gleichnamige Buch im Alten Testament berichtet, leuchtete die Liebe zu Gott in der Zeit der Verfolgung, der Verbannung, des Alters, der Armut, der Krankheit, der Blindheit aufs hellste auf. Genauso war es bei Job. Sogar Christus sagte, am Beginn Seiner Passion zu den Aposteln: „Damit die Welt erkenne, daß Ich den Vater liebe und tue, was Mir der Vater befohlen hat. Steht auf, laßt uns von hier gehen.“ (Joh. 14,31). Er wollte sagen: In Meinem Leiden wird die Welt erkennen, daß Ich den Vater liebe.

Flußabwärts fließt bekanntlich auch das leblose Holz – hingegen gegen den Strom zu schwimmen, ist das Zeichen einer lebendigen und angestrengten Tätigkeit, was nur die gesunden Fische vermögen. Im Glück und ohne Anfechtung Gott dienen ist leicht, im Leiden Gott ergeben bleiben kann nur die wahre Liebe.

Beweggründe zur Gottesliebe

Fragt sich schließlich aber noch, welche Gründe uns zu einer solchen übernatürlichen Liebe zu Gott bewegen und antreiben können. Wie sollen wir uns zu einer so hohen und starken Liebe aufschwingen. Auf drei Startbahnen kann und soll unsere Gottesliebe den Schwung und Anlauf nehmen, daß sie sich zur Höhe der Heiligkeit emporheben kann. Die erste Startbahn finden wir in den Worten Gottes; die zweite in den Werken Gottes; und die dritte schließlich im Wesen Gottes.

a) Die Worte Gottes

Ja, das Feuer der göttlichen Liebe kann entfacht werden an den Worten Gottes. An den Worten, worin Er uns befiehlt und zwar streng befiehlt, Ihn zu lieben. An jenen Worten des Gesetzes also, die wir soeben gehört haben: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen, aus deiner ganzen Seele, aus deinem ganzen Gemüt und aus allen deinen Kräften.“ Könnte es deutlicher befohlen werden? – Aus ganzem, ungeteilten Herzen! Ohne selbstsüchtige Berechnung. Ohne Rücksichten. Ohne Halbheit und Nachlässigkeit. – Aus ganzer Seele! Also mit Verstand und Willen. Mit dem Verstand, indem wir denselben dazu benutzen, Gott stets als das höchste Gut zu erkennen und alle unsere Gedanken, Worte und Werke auf Ihn, als unser letztes Ziel auszurichten. Mit dem Willen, durch den ernsten und festen Entschluß, lieber alles – selbst unser Leben – zu verlieren, als um irgendeines geschaffenen Gutes willen, Gott zu beleidigen. – Aus ganzem Gemüt! D.h. durch die Inzuchtnahme, Beherrschung und Bewachung der sinnlichen Begierden und Leidenschaften, damit auch die Gefühlswelt in der rechten Ordnung der Gottesliebe bleibe und uns nicht mit sich in den Abgrund der Sünde reiße. – Schließlich sollen auch die Kräfte des Leibes, die fünf Sinne, Hände, Füße, Zunge und überhaupt alle Glieder des Körpers durch ihre gehorsame Unterordnung unter die Kräfte der Seele zur Ehre Gottes gebraucht werden. Wenn wir Gott so lieben, dann lieben wir ihn aus allen unseren Kräften. – So ist es uns von Gott befohlen!

Auch kann die Liebe sich entzünden an den Worten, worin Gott Seine Belohnungen verheißt. „Kein Auge hat gesehen, kein Ohr hat es gehört und in keines Menschen Herz ist es gedrungen, was Gott denen bereitet hat“ – ja, wem denn? – „denen, die Ihn lieben.“ (1. Kor. 2,9).

Wenn diese Worte nicht zünden, so muß man die drohenden Worte zu Hilfe nehmen. Der hl. Paulus warnt: „Wenn jemand unseren Herrn Jesus Christus nicht liebt, der sei ausgeschlossen.“ (1. Kor. 16,22). Und der hl. Johannes schreibt: „Wer nicht liebt, bleibt im Tode.“ (1. Joh. 3,14). Und zwar jetzt im Stande der Todsünde und einst im Tode der ewigen Verdammnis.

Drei Funken sprühen uns also aus dem Wort Gottes entgegen – befehlend, verheißend und drohend – um unsere Liebe zu entfachen, damit sie sich vom Irdischen löse und sich zum Himmlischen aufschwinge.

b) Die Werke Gottes

Noch leichter und schneller kann das Feuer der göttlichen Liebe an der Betrachtung der Werke Gottes in unserem Herzen aufflammen. Denn alle oder fast alle Werke Gottes sind Werke der göttlichen Liebe, welche uns die Länge, die Breite, die Höhe und Tiefe Seiner Liebe zu uns offenbaren (vgl. Eph. 3,19). Die Länge: Wie lange hat Gott uns geliebt? Von Ewigkeit an. „Mit ewiger Liebe habe Ich dich geliebt.“ (Jer. 31,3), sagt Er zu einem jeden von uns. Noch ehe wir waren. Noch ehe die Welt war. Wer kann die Länge dieser Liebe ermessen? Wie sollten wir nicht gerne die wenigen Jahre unseres kurzen Erdenlebens dazu gebrauchen wollen, um Gott Seine ewige Liebe zu vergelten!

Die Breite: Die Liebe Gottes erstreckt sich auf alle Seine Geschöpfe. „Du liebst alles und hassest nichts, was Du gemacht hast“, heißt es im Buch der Weisheit (11,25). Auch wir sind in diese Liebe eingeschlossen. Es kann gar nicht anders sein!

Die Höhe: D.h. die Vortrefflichkeit und Kostbarkeit der Gaben, die aus der Liebe Gottes zu uns gekommen sind. Im Paradies waren vier Ströme, welche die Erde bewässerten. Aus der Liebe, sozusagen aus dem Herzen Gottes, entspringen vier Ströme Seiner natürlichen Wohltaten und bereichern Seine Geschöpfe. – Der erste Strom läßt allen Geschöpfen das Dasein zuströmen. Ist es nicht Sein Geschenk, daß wir überhaupt existieren? Daß wir Anteil haben an dem was Gott, Jahwe, den Seienden, den „Ich bin der Ich bin da“, wesenhaft ausmacht? – Der zweite Strom bringt das Leben für die lebendigen Geschöpfe. Wie hoch steht das Lebendige über allem, was zwar das Dasein, aber kein Leben hat! – Der dritte Strom bringt die fünf Sinne für die sinnlich begabten Geschöpfe. Der vierte das geistige und unsterbliche Leben für die vernünftigen Geschöpfe, und dazu gehören neben den Engeln auch wir. Wie hoch hat die ewige Liebe Gottes uns erhoben!

Aber das ist erst der vierfache Strom der natürlichen Wohltaten. Es gibt aber auch noch einen vierfachen Sturzbach der übernatürlichen Gaben, die gleich vier Wasserfällen aus der göttlichen Sphäre auf uns Katholiken herabrieseln und uns zur Liebe Gottes hinreißen müßten. – Da bringt uns der erste Wasserfall die heiligmachende Gnade, wodurch wir Gott ähnlich und Seine Kinder werden. Der zweite brachte uns die Menschwerdung des Sohnes Gottes, wodurch Er unsere menschliche Natur mit Sich verband und uns damit als Barmherziger Samariter, sowohl die sieben Sakramente als übernatürliche Heilmittel und Kraftquellen bescherte, als auch die Möglichkeit bis zu Seiner Wiederkehr ewiges Verdienst zu erlangen. – Der dritte Wasserfall rauscht auf uns herab in Form der sieben Gaben des Heiligen Geistes, die unsere guten Werke vervollkommnen und uns dem vierten Wasserfall entgegentragen, der nichts anderes ist als die ewige Herrlichkeit des Himmels, wo wir an der Herrlichkeit Gottes selbst teilnehmen werden.

Die Länge, Breite und Höhe der Liebe Gottes, haben wir kurz erwogen. Bleibt noch die Tiefe. Um uns diese Ströme der Gnade zu öffnen, hat der Sohn Gottes sich Selbst erniedrigt bis zur Knechtschaft, bis in die Krippe, bis an das Kreuz, bis in die Schmach des Todes und des Grabes. Damit hat Er die Sklaverei der Sünde gebrochen, uns der Macht des Satans und der Hölle entrissen. Wie oft hat Er nicht schon Seine schützende Hand über uns gehalten, uns vor Übeln bewahrt, uns in Bedrängnis und Versuchung vor dem Fall bewahrt. Das alles geschah Kraft der Macht Seines kostbaren Blutes, das aus dem heiligsten Herzen Jesu und damit aus den Tiefen der Liebe Gottes hervorsprudelt. – Ja, welche Länge, Breite, Höhe und Tiefe der Liebe Gottes! Wer sollte Ihn nicht wiederlieben!

c) Das Wesen Gottes

Der stärkste Funke, an dem sich die Liebe zu Gott entzünden soll, liegt aber, richtig betrachtet, in dem heiligen Wesen Gottes selbst. Denn wenn man das eigentliche Wesen der Liebe betrachtet, so lieben wir nur das und können nur das lieben, was gut ist oder uns doch gut zu sein scheint, und zwar können wir es nur darum lieben, weil es gut ist oder weil es gut zu sein scheint. Was folgt daraus? – Es folgt, daß man ein Gut um so mehr lieben muß, je besser es ist, und daß man das am meisten lieben muß, was das höchste Gut ist. Gut ist die Wahrheit, man muß sie lieben. Gut sind die Wissenschaft, die Weisheit, die Kraft und Stärke, die Macht, die Schönheit. Darum werden all diese Dinge geliebt, begehrt und erstrebt. Gut ist, wovon Gutes kommt. Darum macht freigiebige Mitteilsamkeit beliebt. Das alles ist liebenswert.

Aber wie liebenswert ist doch dann Gott? – Er ist die höchste Wahrheit, die ewige Weisheit, die unendliche (All-)Macht, die unbegreifliche Schönheit! Aus Ihm und in Ihm und durch Ihn ist alles, was gut ist und gut genannt wird. Er selbst ist das höchste und liebenswürdigste Gut, das Gut aller Güter. Gott allein weiß, wie gut Er ist. Gott allein liebt sich selbst so, wie Er es eigentlich verdient.

Gieße aus über uns das Feuer Deiner göttlichen Liebe!

Alles treibt uns also zur Gottesliebe an. Seine Worte, Seine Werke, Sein Wesen, Seine Verheißungen und Drohungen, Seine Wohltaten, die Er uns gegeben hat und die Er uns geben will. Die Liebe, die Er zu uns hat, und die Wohltaten, die Er uns aus dieser Liebe zukommen ließ.

Wie kalt, gleichgültig und gefühllos müßte ein Herz sein, das durch solche Funken nicht in Liebesglut entflammt werden könnte.

Ja, wir wollen, wenn wir können, Gott lieben, weil Er das höchste Gut ist; das ist das Motiv der vollkommenen Liebe; vollkommen weil eine solche Liebe Gott um Seiner selbst willen liebt. – Wenn wir das nicht können, so wollen wir Ihn wenigstens darum lieben, weil Er so oft gut zu uns war, jetzt so gut zu uns ist und in alle Ewigkeit gut zu uns sein will; das sind die Motive der unvollkommenen Liebe, weil eine solche Liebe Gott nur aufgrund Seiner Gaben und Wohltaten liebt, also nicht zuerst um Seinerselbst willen, sondern um des persönlichen Nutzens – gleichsam „für sich“ – den sie aus Ihm zieht.

Herr, gieße aus über uns, das Feuer Deiner göttlichen Liebe, die Vermehrung Deiner Liebe, die Beharrlichkeit Deiner Liebe, den Lohn der Liebe, der ja nichts Geringeres ist als Du selbst – die ewige göttliche Liebe. Amen.

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