Das Leben der heiligmachenden Gnade

Geliebte Gottes!

Die heiligmachende Gnade ist eine unverdiente, übernatürliche Gabe, durch welche der Sünder gerecht und heilig, ein Kind Gottes und Erbe des Himmels wird. Bei der Rechtfertigung des Sünders in der Taufe oder im Bußsakrament tilgt die heiligmachende Gnade die Todsünde aus; d.h. sie ersetzt das, was dem Sünder durch die Todsünde an Gerechtigkeit und Heiligkeit verlorengegangen ist, all das, was durch die Sünde zerstört und verwüstet wurde. – Die heiligmachende Gnade belebt die Seele. Auch welche Weise? Indem sie die Seele dem lebendigen Gott ähnlich macht. Indem sie der Seele Anteil am ewigen Leben des dreifaltigen Gottes schenkt. Deshalb ist der Augenblick der Rechtfertigung, also der Moment in dem die heiligmachende Gnade in die Seele eingegossen wird, der Beginn des ewigen Lebens. Der hl. Paulus sagt: „Ihr seid (der Sünde) gestorben, und euer Leben ist mit Christus in Gott verborgen“ (Kol. 3, 3). Das Gnadenleben ist hienieden ein verborgenes Leben. Weil es übernatürlich ist, bleibt es den Kräften unserer Wahrnehmung entzogen. Man kann die heiligmachende Gnade deshalb nicht sehen, nicht fühlen oder auf sonstige Weise wahrnehmen. – Weil sich die Gnade unserer menschlichen Wahrnehmung entzieht, ist es schwierig über sie zu sprechen, ist es anstrengend aufmerksam von ihr zu hören und mühsam sich eine rechte Vorstellung davon zu machen, was sie ist. Und deshalb ist es wiederum so schwierig das übernatürliche Leben der Gnade hoch zu schätzen, weil man ja nur lieben kann, was man kennt. In dieser Schwierigkeit ist wohl der Grund zu sehen, warum viele an sich gläubige Menschen mit dem Geschenk der heiligmachenden Gnade so leichtfertig umgehen, indem sie sich fahrlässig den Gelegenheiten zur Todsünde aussetzen, oder indem sie so träge darin sind, sich um das stete Wachstum des Gnadenlebens in ihrer Seele zu bemühen. Sie wissen nicht viel von dem „Schatz im Acker“ (vgl. Mt. 13, 44) ihrer Seele und sind deshalb schnell bereit, ihn für irdische Vorteile und Genüsse fahren zu lassen. Damit uns das nicht passiert; damit wir die heiligmachende Gnade hochschätzen, sie dankbar bewahren und sie in unserer Seele während der uns noch verbleibenden Lebenszeit auf Erden vermehren, wollen wir heute folgende Punkte erwägen: 1. Die Anforderungen das Gnadenleben zu empfangen. 2. Die übernatürlichen Fähigkeiten, welche der Seele durch das Gnadenleben verliehen werden. 3. Die Notwendigkeit das übernatürliche Leben zur Entwicklung und Reife zu bringen.

Die Anforderungen

Christus spricht im Evangelium, wenn Er vom Leben der heiligmachenden Gnade handelt, nie vom „künftigen Leben“, als läge es in der Zukunft. Er nennt es stattdessen „ewiges Leben“, das über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erhaben ist. Das Gnadenleben ist ein Anteil am inneren Leben Gottes. D.h. es ist ein Anteil an dem einen Augenblick der unveränderlichen Ewigkeit des Dreifaltigeinen.

Was sagt nun Christus über die Anforderungen, welche dieses „ewige Leben“ stellt? Wiederholt weist der Heiland darauf hin, daß die allererste Bedingung zum Empfang des ewigen Lebens der Glaube an Ihn ist: „Wahrlich, wahrlich Ich sage euch: Es kommt die Stunde, und jetzt ist sie da, in der die Toten [die Sünder] die Stimme des Sohnes Gottes hören werden, und die sie (gläubig) hören, werden leben“ (Joh. 15, 25). „Denn das ist der Wille des Vaters, daß jeder, der den Sohn sieht und an Ihn glaubt, ewiges Leben habe“ (Joh. 6, 40). „Wer glaubt, der hat das ewige Leben“ (Joh. 6, 47). Der Glaube an Christus als den wesensgleichen Sohn Gottes ist also die erste Vorbedingung, um zum „ewigen Leben“ zu gelangen. – Doch das genügt noch nicht. Es muß ein „lebendiger Glaube“ sein. D.h. ein Glaube, der sich in guten Werken betätigt. Der hl. Apostel Jakobus sagt: „So ist auch der Glaube für sich allein tot, wenn er nicht Werke vorzuweisen hat. … Denn wie der Leib ohne Geist tot ist, so ist auch der Glaube ohne Werke tot“ (Jak. 2, 17. 26). Welche Werke sind es aber, die den Glauben lebendig machen? Jene Werke, durch die wir dem Gebot Christi Gehorsam leisten. Denn wer wirklich glaubt, daß Jesus Christus der wahre Gott ist, der weiß sich automatisch dem Willen Christi verpflichtet. Sein Wille ist ihm Befehl. Bzw. umgekehrt: Wer das Gebot Christi mißachtet, dessen Glauben an Seine Gottheit ist nur oberflächlich. Um das „ewige Leben“ zu gewinnen, muß man also die Gebote halten. Deshalb sprach Christus zum reichen Jüngling: „Willst du zum (ewigen) Leben eingehen, so halte die Gebote“ (Mt. 19, 17). – Schließlich ist zur Erlangung des „ewigen Lebens“ eine gewisse Abtötung und Selbstüberwindung notwendig; eine Bereitschaft mühsame, fordernde und bisweilen einsame Wege zu beschreiten, fernab von dem breiten Weg der Masse: „Wie eng aber ist die Pforte und wie schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind es, die ihn finden“ (Mt. 7, 14). – In einem Satz könnte man die Lehre Christi von den Anforderungen des ewigen Lebens folgendermaßen zusammenfassen: Wer an Mich, den wesensgleichen Sohn Gottes, glaubt mit jenem lebendigen Glauben, der mit der Beobachtung Meiner Gebote verbunden ist, und dazu bereit ist Mir auf dem Weg des Kreuzes nachzufolgen, der hat das ewige Leben begonnen.

Das Gnadenleben verleiht der Seele übernatürliche Fähigkeiten

Wie beschreibt nun Christus die Kräfte der heiligmachenden Gnade? Er beschreibt sie besonders klar in den Seligpreisungen der Bergpredigt, wenn Er sagt: „Selig die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich. Selig die Hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden. Selig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen“ (Mt. 5, 3. 6. 8). – Mit der „Armut im Geist“ meint der Herr all das, was wir soeben gesagt haben – den Glauben, den Gehorsam, die Selbstverleugnung. Durch diese drei entledigt sich der Mensch gewissermaßen seiner selbst. Er wird arm an sich selbst und dadurch erst empfänglich für das göttliche Geschenk des übernatürlichen Gnadenlebens.

Es sind aber nun zwei Fähigkeiten, zu denen das Leben der heiligmachenden Gnade den „Armen im Geiste“ ertüchtigt. Erstens unter der Bedingung der Herzensreinheit, die Fähigkeit Gott zu schauen: „Selig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.“ Und zweitens, unter der Bedingung des „Hungers nach der Gerechtigkeit“, die Sättigung all seines Verlangens. „Selig die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden“ – gesättigt durch den Besitz Gottes in der Liebe. – Das sind die beiden Hauptbestandteile der ewigen Glückseligkeit des Himmels: Gott schauen und Gott in der Liebe besitzen.

Dabei wird mit der Anschauung Gottes der Erkenntnisdurst des menschlichen Verstandes gestillt. Denn der Verstand dürstet nach Erkenntnis. Er will die Ursachen und Gründe der Dinge und insbesondere die erste und höchste Ursache kennen. In der Anschauung Gottes wird ihm diese Kenntnis zuteil. Und zwar vollkommener als er danach verlangen hat, wie wir gleich sehen werden.

Während der Verstand nach der höchsten Erkenntnis dürstet verlangt der Wille danach zu lieben und geliebt zu werden. Mit dem liebenden Besitz Gottes wird der unersättliche Hunger des menschlichen Willens ein für allemal gestillt sein. Er wird Gott besitzen, das unendliche Gut, und von dem Besitz Gottes gesättigt sein.

Gehen wir auf diese beiden übernatürlichen Fähigkeiten – Gott schauen und Gott lieben – in einzelnen ein und wir werden Staunen, welch herrliches Geschenk uns Gott mit der heiligmachenden Gnade anbietet.

Gott schauen

Zunächst müssen wir klarstellen: Die unmittelbare Anschauung Gottes übersteigt die natürlichen Kräfte jedes geschaffenen Verstandes – sowohl die Kräfte des Engels, als auch die des Menschen. Nur der Verstand Gottes vermag sich unmittelbar zu schauen. Denn, wenn ein geschaffener Verstand Gott schauen könnte, wie Er in sich ist, dann hätte er eine unendliche Fassungskraft. Er wäre unendlich, wie der Verstand Gottes unendlich ist. Damit wäre dieser Verstand selbst Gott. Der geschaffene Verstand ist aber nicht unendlich sondern begrenzt. Es wäre, als wollte man den riesigen Ozean in ein kleines Loch, das ein Kind in den Sand am Strand gegraben hat, hineingeben. Gott ist unendlich größer als der Ozean.

Trotzdem sagt unser göttlicher Erlöser sehr deutlich, daß das ewige Leben in der Anschauung Gottes besteht. An den himmlischen Vater gewandt sprach Er: „Das aber ist das ewige Leben, daß sie Dich erkennen, den allein wahren Gott, und den Du gesandt hast, Jesus Christus“ (Joh. 17, 3). Und der hl. Apostel Johannes präzisiert in seinem ersten Brief noch genauer: „Geliebte, wir sind jetzt Kinder Gottes, und es ist noch nicht offenbar, was wir einst sein werden; aber wir wissen, daß wir bei Seiner Erscheinung Ihm ähnlich sein werden; denn wir werden Ihn schauen, wie Er ist“ (1. Joh. 3, 2). Wir werden Ihn schauen, wie Er ist! Nicht wie es unser natürlicher Verstand jetzt tut, indem er aus der Schönheit und Herrlichkeit der Schöpfung insgesamt und der Geschöpfe im Einzelnen auf die Vollkommenheit Gottes zurückschließt; etwa bei der Beobachtung eines Naturschauspiels, wie eines Sonnenuntergangs. Dabei denken wir: „Wie schön ist doch der leuchtend rote Horizont des Sonnenuntergangs.“ Und wir ziehen den Schluß: „Wie schön muß erst Derjenige sein, der ihn geschaffen hat.“ Wir werden Gott nicht mehr nur im Spiegel der Geschöpfe schauen. Auch werden wir Gott nicht nur in Seinem Abglanz schauen, den die Worte und Taten Seiner Heiligen widerspiegeln. – Nein! Wir werden Ihn unmittelbar schauen! „Wir werden Ihn schauen, wie Er ist.“

So sagt es auch der hl. Paulus: „Jetzt schauen wir (Gott in den Geschöpfen) wie in einem Spiegel, unklar; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich teilweise, dann aber werde ich erkennen, wie ich selbst erkannt bin“ (1. Kor. 13, 12). Verweilen wir kurz bei diesen Worten: „Dann werde ich erkennen, wie ich selbst erkannt bin.“ – Ich erkenne mein Gewissen besser als alle anderen Menschen. Kein anderer Mensch kann meine Gedanken, meine Motive und Absichten so gut kennen wie ich selbst. Deshalb müssen wir vorsichtig sein im Urteilen über andere und dürfen nicht richten. Jeder Mensch kennt sich selbst allein am besten. Und dennoch behält selbst unser eigenes Gewissen etwas Geheimnisvolles. Wir sind uns bisweilen selbst ein Rätsel. Wir können beispielsweise die ganze Schwere unserer Sünden und Fehler nicht vollständig ermessen. Gott allein kennt uns durch und durch. „Herr, Du prüfst mich und durchschaust mich. Ob ich sitze oder stehe, du weißt es. Von weitem schon durchschaust du all mein Denken, bekannt ist dir mein Gehen und mein Ruhen. Im Voraus siehst Du all meine Pfade; kein Wort kommt mir auf die Zunge, schon weißt Du alles, das Alte wie das Neue“ (Ps. 138, 1-4). Gott kennt mich bis auf den tiefsten Grund. Ja, Er kennt mich besser als ich selbst es tue. Die Geheimnisse meines Herzens sind vor Seinem Blick vollkommen enthüllt und klar. – Der hl. Paulus sagt nun: „Dann werde ich Gott erkennen, wie ich jetzt von Ihm erkannt bin.“ D.h. wie Gott jetzt das Wesen meiner Seele so vollkommen, unmittelbar und klar erkennt, genauso unmittelbar und klar werde ich Gott schauen. Ich werde Gott schauen, wie Er Sich selbst schaut! – Lediglich mit dem einzigen Unterschied, daß wir freilich die unendliche Tiefe Seines göttlichen Wesens, Seiner Liebe und Seiner Macht nie vollkommen erschöpfend fassen, wie Er es tut. Nichts desto trotz werden wir Ihn unmittelbar schauen, wie Er sich sieht.

Niemand kann aussprechen, welche Freude, welches Glück und welche Liebe daraus erwachsen werden. Eine Liebe so stark, so ausschließlich, daß sie vom ersten Moment der Anschauung von Angesicht zu Angesicht durch nichts mehr vermindert, geschweige denn zerstört werden kann. Und so haben wir Anteil am Leben Gottes, das ja in nichts anderem besteht, als in der Anschauung Seiner selbst und in der Freude über Seine unendliche Vollkommenheit. Wir werden in Seine eigene, göttliche Seligkeit Eingang finden, nach den Worten Christi: „Wohlan du guter und getreuer Knecht, weil du über Weniges getreu gewesen, will Ich dich über Vieles setzen. Gehe ein in die Freude deines Herrn“ (Mt. 25, 21. 23). – Gehe ein in die Freude Gottes selbst!

Unser natürlicher Verstand reicht jedoch nicht hin, um Gott unmittelbar zu schauen. Unser Verstand verhält sich wie das Auge einer Eule gegenüber der Sonne. Die Sonne ist überhell für das Auge des Nachtvogels. In gleicher Weise ist die unmittelbare Anschauung Gottes von Angesicht zu Angesicht überhell für den natürlichen Verstand. Er bedarf, Sie ahnen es bereits, einer übernatürlichen Befähigung dazu. Unser natürlicher Verstand muß dazu befähigt werden – man bedenke es wohl – gleichsam mit den Augen Gottes zu schauen! Das geschieht durch die heiligmachende Gnade. – Sobald die Gnade nach dem Tod vollendet und unverlierbar ist, wird sie zur „Glorie“. D.h. zu einem herrlichen Licht, zum „lumen gloriae“, dem „Glorienlicht“, wie es die Theologen nennen; oder einfach ausgedrückt, zum „ewigen Licht“. Das „ewige Licht“, um das wir Gott in der Totenliturgie so oft bitten, daß es unseren Verstorbenen leuchten möge, ist nichts anderes als das vollkommen ausgewachsene, ausgereifte und gereinigte Gnadenleben. Es ist das übernatürliche Licht, welches das Auge unseres Verstandes zu etwas befähigt, das an sich nur Gott kann: Gott schauen, wie Er ist! Das ist die Erfüllung der Seligpreisung „Selig die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen“. Dabei handelt es sich um die erste Verähnlichung mit Gott, die durch die heiligmachende Gnade jetzt schon in der Seele im Gnadenstand grundgelegt ist; die erste Form der Anteilnahme am göttlichen Leben wie es der hl. Johannes beschreibt: „Wir wissen, daß wir Ihm ähnlich sein werden; denn wir werden Ihn schauen, wie Er ist.“

Gott lieben

Wir werden Gott aber nicht nur schauen, wie Er sich schaut, sondern wir werden Gott auch lieben, wie Er sich liebt. Darin besteht die übernatürliche Verähnlichung unserer zweiten Seelenkraft mit Gott; die Verähnlichung unseres natürlichen Willens mit dem göttlichen Willen. – Unser Wille ist geschaffen, um zu lieben. Die Liebe hat zwei Bewegungen. Sie will das geliebte Gut besitzen und sie will sich dem Geliebten schenken. Ihre Vollendung findet die Liebe in der Vereinigung mit dem geliebten Gut. Das innertrinitarische Leben der drei göttlichen Personen besteht in nichts anderem als im Schauen und Lieben. Der ewige Vater schaut den aus Ihm hervorgehenden Sohn. Er erfreut sich an dessen unendlicher Vollkommenheit, umfängt den Sohn in ewiger Liebe und schenkt Sich Ihm hin. Genauso schaut der Sohn die unendliche Vollkommenheit des Vaters, aus dem Er gezeugt ist. Er erfreut sich am Vater, umfängt Ihn mit ewiger Liebe und schenkt Sich Ihm. Das göttliche Liebesband, in dem der Vater und der Sohn miteinander vereint sind, ist die dritte göttliche Person, der Heilige Geist. Vater, Sohn und Heiliger Geist sind eins in der Liebe, weshalb der hl. Johannes, das Wesen Gottes kurz beschreibt: „Gott ist die Liebe“ (1. Joh. 4, 8). Die göttliche Liebe ist wie ein lebendiger Wasserstrom, der zwischen den drei göttlichen Personen zirkuliert. Nachdem sich der Mensch selbst durch den Ungehorsam der Sünde von der Wasserader der göttlichen Liebe abgeschnitten hat, ließ Gott schon im Alten Bund durch den Propheten Ezechiel verkünden: „Ich werde über euch reines Wasser ausgießen, daß ihr rein werdet. Ich gebe euch ein neues Herz. Ich senke Meinen Geist in euer Inneres und bewirke, daß ihr nach meinen Satzungen wandelt, meine Gesetze beobachtet und erfüllt“ (vgl. Ez. 36, 25 ff.). Dieses reine Wasser, welches das Herz reinigt und zur übernatürlichen Gottesliebe befähigt, ist nichts anderes als ein Bild für das Leben der heiligmachenden Gnade, welche uns durch Christus mitgeteilt wird. – Zu Nikodemus sprach Er feierlich: „Wahrlich, wahrlich Ich sage dir, wenn jemand nicht wiedergeboren wird aus dem Wasser und dem Heiligen Geist, so kann er in das Reich Gottes [das ewige Leben] nicht eingehen“ (Joh. 3, 5). Und war es nicht genau das, was Jesus zur Samariterin am Jakobsbrunnen gesagt hat? „Das Wasser, das Ich ihm geben werde, wird in ihm zu einer Quelle lebendigen Wassers, das bis ins ewige Leben hinüberströmt“ (Joh. 4, 14). Der hl. Thomas von Aquin kommentiert diese Stelle: „Während das materielle Wasser herabfließt, steigt das geistige Wasser der Gnade empor. Es ist ein lebendiges Wasser, stets mit (Christus) seiner erhabenen Quelle verbunden, und es sprudelt bis ins ewige Leben, das es uns verdienen läßt“ (super Joan., cap. 4). Christus hat dieses Wasser wirklich gegeben, als Ihm nach Seinem Verscheiden am Kreuz die Seite mit einer Lanze geöffnet wurde; und „sogleich floß Blut und Wasser hervor“ (Joh. 19, 34). – Das lebendige Wasser der Gnade, das unserer Seele in der hl. Taufe eingegossen wurde, kommt von Gott. Deswegen vermag es uns bis zu Ihm aufsteigen zu lassen, uns mit Ihm zu vereinigen.

Fragen wir aber noch genauer: Was ist mit dem Bild des lebendigen Wassers, welches uns Christus gegeben hat, konkret gemeint? Der hl. Johannes beantwortet diese Frage einige Kapitel später. Am letzten Tag des Laubhüttenfestes sagte Jesus mit lauter Stimme: „Wenn jemand dürstet, der komme zu Mir und trinke. Wer an Mich glaubt, aus dessen Innern werden, wie die Schrift sagt, Ströme lebendigen Wassers fließen“ (Joh. 7, 37). Und der Evangelist fügt die Erklärung hinzu: „Das sagte Er aber von dem Geiste, den diejenigen empfangen sollten, die an Ihn glauben würden“ (ebd.). Also der Heilige Geist, der Geist der Liebe Gottes selbst ist es, der uns in der Taufe eingegossen worden ist. So lehrt es auch der hl. Paulus wenn er sagt: „Denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist“ (Röm. 5, 5).

Bedenken wir wohl, was das bedeutet! Es bedeutet, daß wir durch die Eingießung der heiligmachenden Gnade in den göttlichen Liebesbund, der von Ewigkeit einzig zwischen den drei göttlichen Personen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes besteht, hineingenommen werden. In Form der heiligmachenden Gnade wird der Seele die Liebe Gottes eingegossen. Durch diese Eingießung des Heiligen Geistes wird die Seele befähigt so zu lieben, wie Gott liebt. Und zwar Gott zu lieben, wie Er Sich selbst liebt und den Nächsten in Gott und um Gottes Willen – ja, selbst die Feinde. Die heiligmachende Gnade befähigt uns wie Gott zu lieben. D.h. sie befähigt uns dazu uns Seinem Willen hinzugeben; Seinen Willen zu tun und Seine Gebote zu halten. „Wer Meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der Mich liebt“ (Joh. 14, 21). Darin besteht die Sättigung der Gott liebenden Seele. „Selig die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden.“

Tempel Gottes

Der Höhepunkt dessen, was die heiligmachende Gnade zu leisten imstande ist, wird jedoch in der Vereinigung mit Gott erreicht. Denn durch die Gnade vereinigt sich Gott selbst mit der Seele. Er nimmt in ihr Wohnung. Der Heiland sagt: „Wenn jemand Mich liebt, so wird er Meine Lehre halten, und mein Vater wird ihn lieben und Wir werden kommen und Wohnung bei ihm nehmen“ (Joh. 14, 23). Wer wird also in die Seele kommen? Nicht nur die Gnade, die trotz ihres unfaßbaren Wertes bloß eine geschaffene Gabe ist, sondern die göttlichen Personen selbst beziehen Wohnung in der Seele im Gnadenstand: „Mein Vater und Ich“ und in Ihnen der Heilige Geist!

Die Seele wird zum Tempel Gottes, wie der hl. Paulus den Korinthern ins Gedächtnis ruft: „Oder wißt ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seid, und der Geist Gottes in euch wohnt?“ (1. Kor. 3, 16). Die heiligste Dreifaltigkeit wohnt durch die Gnade in uns. Und zu dieser Vereinigung mit Gott wird auch im Himmel nichts Wesentliches mehr hinzukommen. „Wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott in ihm“ (1. Joh. 4, 16). Der dreifaltige Gott wohnt also im Wesentlichen jetzt schon so in der begnadeten Seele, wie Er in den Heiligen des Himmels wohnt. Mit anderen Worten die heiligmachende Gnade ist nichts anderes als der Himmel auf Erden. So sagt es der hl. Thomas: „Die Gnade ist nichts anderes als ein gewisser Beginn der himmlischen Glorie in uns“ (S.th. II-II q.24, a.3, ad2). Und dasselbe hebt auch der Heiland hervor, wenn Er sagt: „Das Reich Gottes kommt nicht mit äußerlichem Gepränge. Auch wird man nicht sagen: Siehe, hier ist es, oder siehe dort; denn siehe, das Reich Gottes ist in euch“ (Lk. 17, 20).

Im Grunde handelt es sich jetzt schon um das gleiche übernatürliche Leben, die gleiche Gnade, die gleiche Liebe, wie einst im Himmel. Nur zwei Unterschiede bestehen solange wir hier auf Erden sind: Hienieden erkennen wir Gott zwar übernatürlich und unfehlbar, aber nicht in der Klarheit der unmittelbaren Anschauung, sondern im Dunkel des Glaubens. 2. Ferner kommt hinzu, daß wir, solange wir hier auf Erden sind, hoffen, Gott einst unverlierbar zu besitzen. Wir können ihn nämlich bis zu unserem Tod aus eigener Schuld durch eine Todsünde verlieren. Aber trotz dieser beiden Unterschiede bezüglich des Glaubens und der Hoffnung, ist es das gleiche ewige Leben, die gleiche heiligmachende Gnade, die gleiche göttliche Liebe. Fassen wir zusammen: Durch die heiligmachende Gnade werden wir jetzt schon „teilhaft, der göttlichen Natur“ (2. Petr. 1, 4), wie der hl. Petrus sagt. Denn nur diese übernatürliche Gabe vermag unsere Seele zu Tätigkeiten fähig zu machen, die eigentlich göttlich sind: Gott unmittelbar schauen, wie Er sich schaut; Gott lieben, wie Er sich liebt. Mit anderen Worten: Die Vergöttlichung des Verstandes und des Willens setzt die Vergöttlichung der Seele selbst voraus, aus der diese Seelenkräfte hervorgehen.

Welch eine Gabe! Welch ein Geschenk, das uns Gott anbietet! Welch ein Schatz, den uns der Allerhöchste anvertraut hat! Wie sehr müssen wir ihn hochschätzen! Wie dankbar müssen wir dafür sein! Wie behutsam müssen wir damit umgehen! Wie sorgsam müssen wir ihn schützen!

Die Entwicklungsphasen des Gnadenlebens

Ja, nicht nur schützen, sondern auch vermehren! Denn wie das natürliche Leben des Menschen verschiedene Entwicklungsstufen hat – die Kindheit, die Jugend, das Erwachsenenalter –, so kennt auch das übernatürliche Leben der Gnade dementsprechend drei Wachstumsphasen. Die erste Stufe wird „Reinigung“ genannt. Es ist der Weg der Anfänger. Der Reinigungsweg ist vor allem geprägt vom Kampf gegen den Rückfall in die Todsünde und von der Überwindung der freiwilligen läßlichen Sünde. Der Reinigungsweg entspricht gleichsam der Kindheit des Gnadenlebens. Es ist noch schwach und gefährdet. – Die zweite Phase, gleichsam die Jugend, wird „Erleuchtungsweg“ genannt. Die Seele ist bereits soweit gereinigt und hat sich im inneren Leben bewährt, daß Gott die Seele mit der eingegossenen Beschauung und der Gabe des passiven Gebetes beschenkt. Durch übernatürliche Erleuchtungen und die Vereinigung im beschaulichen Gebet wird die Seele mehr und mehr auf die Anschauung Gottes im Himmel vorbereitet. Die dritte Phase, die dem Erwachsenenalter entspricht, ist schließlich der „Einigungsweg“. Darin wird die Seele zur mystischen Liebesvereinigung mit Gott begnadet. Die Seele hat sich ihrer ungeordneten Eigenliebe fast vollends entledigt und wird von der Gottesliebe, die sie beherrscht, zu heroischen Opfern und Werken der Nächstenliebe angetrieben, wie wir sie besonders deutlich an den Taten der großen Heiligen sehen.

Weil die heiligmachende Gnade aus sich die Kraft besitzt in jedem Getauften zum vollendeten Leben der Glorie des Himmels heranzuwachsen, deshalb hätte sie auch die Kraft jede Seele, die sie treu bewahrt, durch alle drei Phasen der Entwicklung zur vollkommenen Heiligkeit zu führen, so daß eine Reinigung im Fegfeuer nach dem Tod gar nicht notwendig wäre. Wenn dem Wachstum der heiligmachenden Gnade durch unsere ungeordnete Eigenliebe keine Hindernisse in den Weg gelegt würden, dann wäre die Seele nach dem Tod sofort bereit das Glorienlicht zu empfangen. Sie wäre rein, wie jene Seelen, die aus dem Fegfeuer hervorgehen. Mit anderen Worten: Wenn es nach unserem Tod der Reinigung des Fegfeuers bedürfen sollte, dann nur deswegen, weil wir irgendwo in den drei Entwicklungsphasen hängengeblieben sind; weil wir ein Hindernis gesetzt haben, das die heiligmachende Gnade am weiteren Wachstum gehindert hat. Denn das Fegfeuer ist eine Strafe, die einen vermeidbaren Fehler und eine ungenügende Genugtuung voraussetzt, die vollständig hätte sein können, wenn wir die Prüfungen und Strafleiden des gegenwärtigen Lebens besser angenommen hätten. Denn es wird niemand im Fegfeuer zurückgehalten außer für Fehler, die er hätte vermeiden können, oder für die Nachlässigkeit in der Wiedergutmachung. Normalerweise müßte man also sein Fegfeuer in diesem Leben durchmachen, indem man durch das gleichzeitige Wachstum in der übernatürlichen Liebe ewige Verdienste sammelt und zur vollendeten Heiligkeit heranwächst, anstatt es erst nach dem Tod durchzumachen – ohne Verdienst und ohne weiteres Wachstum. Deshalb müssen wir die Worte des hl. Papstes Leo des Großen beherzigen: „O Christ, bedenke deine Würde! Da du nun der göttlichen Natur teilhaftig geworden bist, hüte dich, durch schlechten Wandel wieder in die alte Armseligkeit zurückzufallen! … Durch das Taufsakrament bist du des Heiligen Geistes Tempel geworden. Einen solchen Einwohner verscheuche nicht von dir und unterwirf dich nicht wieder der Knechtschaft des Teufels“ (serm. 21). Und der hl. Augustinus ruft uns zu: „Leere aus, was angefüllt werden soll! Mit Gutem sollst du angefüllt werden, darum gieße das Böse aus. Mit Honig gleichsam will Gott dich anfüllen; wenn du aber voll Essig bist, wo wirst du den Honig unterbringen? Der Gefäßinhalt muß ausgeschüttet und das Gefäß gereinigt werden; gereinigt muß es werden, wenn das auch Mühe schafft und Plage, damit es brauchbar werde. Strecken wir uns also nach Gott aus, damit Er uns erfülle“ (hom. de Ep. I. S. Joa. Ap.). Amen.

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