„Wenn Ich von der Erde erhöht bin, werde Ich alles an Mich ziehen.“

Geliebte Gottes!

Wenn wir hinschauen auf das viele Leid und Unheil in der Welt – Verfolgungen, Kriege, Krankheiten, Hungersnöte, Unglaube, Unrecht, Sittenlosigkeit; auf das viele Leid in unserem Leben, in unserer Familie; in unserem Bekanntenkreis; in unserem Land; nicht nur heute, sondern quer durch alle christlichen Jahrhunderte hindurch, dann könnte man der Versuchung erliegen und fragen: Warum läßt Gott das alles zu? Warum läßt Gott das alles geschehen? Christus hat doch damals, vor zweitausend Jahren, gelitten. Er ist gekreuzigt worden, gestorben, begraben. Er hat die Schuld, die auf uns lastete, gesühnt, und trotzdem ist das viele Leid und Unheil, von dem uns zu erlösen Er in diese Welt gekommen war, in der Welt geblieben. – Ja, es ist eine Versuchung zu fragen: Warum läßt Gott das alles geschehen? Denn es handelt sich dabei aus der Perspektive unseres Glaubens um eine unvollständige Frage. Wenn wir die Frage vollständig und damit richtig stellen wollen, muß sie wie folgt lauten: Warum läßt Gott das alles geschehen – mit Sich selbst?

Freilich, Christus hat gelitten unter Pontius Pilatus. Er hat einmal gelitten, zu einer bestimmten Zeit. Er ist einmal gestorben und ist einmal begraben worden, unter ganz einzigartigen Umständen. Jetzt thront Er verherrlicht zur Rechten des Vaters im Himmel. Er ist einmal als Mensch gestorben und kann seither nicht mehr sterben. Der hl. Paulus sagt es: „Wir wissen, daß Christus, von den Toten auferweckt, nicht mehr stirbt. Der Tod hat keine Macht mehr über Ihn. Er starb ein für alle Mal, um die Sünde zu besiegen, und nun lebt Er für Gott“ (Röm. 6, 9 f.). Wie kann man also behaupten, man müsse angesichts unserer Leiden richtig fragen: Warum läßt Gott das alles – mit Sich selbst – geschehen, wenn Er doch gar nicht mehr leiden kann?

Man kann es behaupten, wenn man bedenkt, daß Christus das Haupt eines geheimnisvollen Leibes ist. Und dieser, Sein geheimnisvoller Leib, ist nichts anderes als die katholische Kirche. Und in den Gliedern eben dieses Seines mystischen Leibes leidet der göttliche Erlöser weiterhin. – Hat Christus etwa nicht gesagt: „Was ihr für einen Meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr Mir getan“ (Mt. 25, 40)? Und an anderer Stelle sprach unser göttliche Erlöser: „Wer ein solches Kind um meinetwillen aufnimmt, der nimmt Mich auf“ (Mt. 18, 5). Hat Er nicht gesagt, daß Er selbst jedem von uns begegnet; hungrig und durstig, obdachlos und nackt, eingekerkert und todkrank? Und daß jeder, der dem geringsten Menschen Gutes tut, Ihm selbst einen Dienst erweist? Ja, und hat Er nicht den mordlüsternen Saulus, der im Begriffe war die ersten Christen auszutilgen mit der Frage konfrontiert: „Saulus, Saulus, warum verfolgst du Mich?“ (Apg. 9, 4)? Christus hat nicht gefragt „Warum verfolgst du Meine Jünger“, sondern „Warum verfolgst du Mich“! – Wenden wir diese Worte des Gottessohnes sodann auf die leidvolle Kirchengeschichte an. Der im Himmel verherrlichte Christus, das Haupt, leidet nicht mehr. Aber diejenigen Seiner Glieder, die durch Glaube und Taufe zu lebendigen Gliedern Seines geheimnisvollen Leibes geworden sind, sind noch nicht verherrlicht, solange sie hier auf Erden leben. In ihnen kann Christus sehr wohl leiden. Und Er leidet tatsächlich in ihnen.

Die Anziehung des Kreuzes

Wenn wir diesen Umstand bedenken, dann wird klar, daß die Kreuzigung des Karfreitags nicht einfach nur ein einmaliges, abgeschlossenes Ereignis vor 2000 Jahren gewesen ist, an das wir uns jedes Jahr erinnern. Nein, das Drama des Karfreitags zieht viel weitere Kreise. Die Kreuzigung ereignet sich noch immer. Das Kreuz ragt heute in unserer Mitte auf. Oder anders formuliert, das Geschehen am Karfreitag von vor 2000 Jahren hat eine so große Anziehungskraft, daß jeder Mensch bis ans Ende der Welt in dieses Drama hineingezogen ist. Hat nicht der Welterlöser gesagt: „Wenn Ich von der Erde erhöht bin, werde Ich alles an mich ziehen“ (Joh. 12, 32)? Wie ein starkes Magnetfeld die entferntesten Eisenspäne anzieht, so ist jeder Mensch in die Geschehnisse des Karfreitags involviert. Und wie der Magnet mittels seiner beiden Pole die Gegensätze sowohl anzieht als auch voneinander scheidet, so zieht auch das Kreuz des göttlichen Erlösers zwei Gegensätze an und scheidet sie zugleich voneinander.

Mit den Augen des Glaubens betrachtet, gibt es nämlich im wesentlichen nur zwei Arten von Menschen. Und zwar zwei gegensätzlich „gepolte“ Menschengruppen. Die eine besteht aus jenen Menschen, die Christus kreuzigen. Die andere aus jenen, die mit Christus gekreuzigt werden. – Blicken wir zuerst auf jene, die Ihn vor 2000 Jahren gekreuzigt haben, und wir erkennen die, welche Ihn auch heute kreuzigen. Damals waren bei jenen, die Christus kreuzigten: Judas Iskariot, Pontius Pilatus und die Henkersknechte.

Judas Iskariot

Judas Iskariot ist Vorbild und Anziehungspunkt all derjenigen Menschen, die durch das Sakrament der hl. Taufe zum ewigen Leben wiedergeboren worden sind. Die dazu berufen waren, mit Christus vereint zu sein durch die heiligmachende Gnade, aber die von ihrer erhabenen Bestimmung abgefallen sind, indem sie die ihnen gnadenhaft geschenkte, übernatürliche Gottesliebe um den Preis minderwertiger irdischer Güter und Genüsse willen verkauften. So wie Esau im Alten Testament sein Erstgeburtsrecht um den Preis eines Linseneintopfs verschleudert hatte. Was für ein schlechter Tausch! Ein Teller Suppe, der den Hunger für einen Augenblick stillt, gegen das Privileg des Erstgeborenen und Erben. Welch ein Frevel, das Geburtsrecht, also die ihm von Gott in die Wiege gelegte Bestimmung und damit das väterliche Erbe, für Nichtiges zu veräußern! Wenn wir insbesondere die moderne Geschichte durchgehen, so stellen wir fest, daß die Menschen, deren Lebenswerk sich am verheerendsten auf die Kirche und die Welt ausgewirkt hat, ehemals von Gott Auserwählte gewesen sind, die aber später vom Glauben wieder abfielen. In ihrer Jugend wurden sie bezeichnet mit dem Zeichen des Kreuzes und besiegelt mit dem Heiligen Geist. Aber sie wurden zum Judas. Sie warfen ihre christliche, ihre katholische Abstammung weg für dreißig Silberlinge. Für vergängliche irdische Vorteile; für ein Leben ausschweifenden Genusses; für die Festigung eines gesicherten Lebensstandes, für die Vermehrung materieller Reichtümer, für die Erlangung von Einfluß, Macht und Kontrolle über andere Menschen. Wenn wir auch heute in die Welt der Politiker, Wissenschaftler, Medienmacher, Geschäftsleute, Stars und Sternchen und der sog. Kirchenvertreter blicken, begegnen uns immer wieder Gestalten, die von ihren Wurzeln her den katholischen Glauben und die Morallehre der Kirche in ihrem jeweiligen Einflußbereich eigentlich verteidigen müßten, sie aber längst über Bord geworfen haben und in Wirklichkeit, wie Judas, zu ihren erbittertsten Feinden geworden sind. Vordergründig gebärden sie sich scheinheilig als Christen und lassen doch keine Gelegenheit aus, Christus im entscheidenden Augenblick zu verraten. Jene Seelen, die Christus in Seinen Gliedern am meisten Schaden zufügen, Ihm am meisten Qualen bereiten, das sind nicht jene, die aus Unkenntnis und Unvermögen in ihrer naturalistischen Diesseitigkeit gefangen sind, sondern die, welche wie Judas gerufen waren, mit dem Sohne Gottes in trauter Freundschaft zu leben.

Judasseelen können sich aber auch unter dem spärlichen Rest der Katholiken finden. Es sind solche, die, obwohl ihr Herz voll Todsünden ist, sich dem Heiland an der Kommunionbank nahen; die wie Judas im Ölgarten an Ihn herantreten – mit einem Kuß. Und in der liebenden Hoffnung diese, Judasseelen aufzurütteln, um sie für Sich zurückzugewinnen. flüstert der eucharistische Heiland auch ihnen ebenfalls die Worte ins Gewissen: „Judas, mit einem Kuß verrätst Du den Menschensohn?“ (Lk. 22, 48).

Pontius Pilatus

Auch Pilatus lebt noch immer fort. Er lebt fort in all den Wissenschaftlern und Rechtsgelehrten, die das Absolute, das für alle immer und in gleicher Weise Gültige, das schlechthin unantastbar Wahre und Gerechte leugnen. Sie behaupten, wahr und falsch, gut und böse, recht und unrecht sei lediglich eine Frage des persönlichen Standpunktes. Sie blähen sich auf und gefallen sich in ihrer sophistischen Fähigkeit, eine bestimmte Meinung genausogut als richtig hinstellen zu können wie das genaue Gegenteil dieser Meinung, gerade so, wie es ihnen gefällt, oder wie es ihnen im Augenblick nützlich erscheint. Sie rühmen sich ihrer Weltoffenheit, ihres vermeintlich weltanschaulich ungebundenen Denkens, ihrer aufgeklärten Weltsicht. In Wahrheit sind sie jedoch nicht so frei und unabhängig, wie sie meinen. Sie hängen an ihrem Ansehen vor der Welt und der damit verbundenen Macht. Deshalb erlauben sie es dem Pöbel, sich zwischen Barabbas und Christus zu entscheiden. Sie mögen zwar gewisse persönliche Sympathien für Christus verspüren. Sie mögen zeitweilig ahnen, daß Seine Lehre und Sein Anspruch wahr und recht ist. Aber sie sind nicht bereit, für diese Einsichten ihre Karriere zu gefährden oder gar zu opfern. Auf keinen Fall wollen sie die Gunst des Kaisers, die Gunst der Mächtigen und der Meinungsmacher verlieren. Deshalb werden sie mitgerissen von der Masse des „Mainstream“. Wenn sie der göttlichen Wahrheit gleichsam von Angesicht zu Angesicht gegenüberstünden, dann würden sie dieselbe Frage stellen, die Pilatus dem Heiland ins Gesicht schleuderte: „Was ist Wahrheit?“ Und ohne überhaupt eine Antwort abzuwarten, kehren sie ihr, wie Pilatus, im nächsten Augenblick mit kaltem Achselzucken den Rücken. – Ersetzen wir heute das Wörtchen „Wahrheit“ mit den einzelnen Artikeln des katholischen Glaubens, mit den einzelnen Geboten Gottes und der Kirche; und wir müssen feststellen: Wahrlich, Christus leidet immer noch unter Pontius Pilatus.

Die Henkersknechte

Auch die Henkersknechte, die Christus mit rohen Händen entkleideten und ans Kreuz schlugen, wandeln weiterhin auf Erden. Es sind jene, die auf brutale Gewalt setzen, das Recht des Stärkeren proklamieren und das Göttliche verachten. Dazu gehören auch Befehlsempfänger und Technokraten, die tun, was man ihnen sagt, ohne Fragen zu stellen, ohne sich ein Gewissen zu machen. Aber auch solche, die jede Gelegenheit nutzen, um ein bißchen Spaß zu haben – immer auf Kosten anderer versteht sich – und die dabei auch nicht vor der Religion und dem Heiligen haltmachen. Es sind unter ihnen die blutigen Verfolger genauso wie die Lästerer und Spötter der katholischen Religion. Sie reißen ihr gleichsam die Kleider der Heiligkeit vom Leib und entblößen sie vor aller Welt, indem sie wahre oder erfundene Skandale verbreiten. Sie entstellen Glaubens- und Sittenlehre zu einer Karikatur, welche die geifernden Massen begierig in sich aufsaugen, um damit ihren Unglauben zu rechtfertigen. Sie verfolgen die Kirche. Sei es mittels handgreiflicher Gewalttaten; sei es mit scharfer Zunge oder spitzer Feder. Sie tun es aus überzeugter Verachtung oder tumbem Stumpfsinn, der alles Schlechte sofort glaubt und einfach alles nachplappert, was die allgemeine Meinung vorgibt. So profanieren sie das Heilige, nageln gleichsam den mystischen Leib der Kirche ans Kreuzesholz und machen es wie ihre Vorfahren auf Kalvaria. „Sie verteilten Seine Kleider, indem sie das Los warfen. Hierauf setzten sie sich nieder und bewachten Ihn“ (Mt. 27, 35 f.). Sie sitzen da und würfeln. D.h. sie vertreiben sich die Zeit, ihre Lebenszeit, mit Eitelkeiten, als handle es sich dabei um ein Spiel. Während sich vor ihren Augen das große Drama der Welterlösung vollzieht, lümmeln sie träge herum und spielen!

Mit Christus gekreuzigt

Wenn es jene gab und gibt, die Christus gekreuzigt haben und kreuzigen, so gibt es auch jene, die mit Christus gekreuzigt werden – damals wie heute. Jene, die treu bei Ihm ausharren, die nicht von Seiner Seite weichen, weil sie an den Sohn Gottes glauben und verstanden haben, daß es ihnen nicht anders ergehen kann wie Ihrem göttlichen Oberhaupt. Ja, hat Er Seinen Jünger nicht gesagt: „Wenn die Welt euch haßt, denkt daran, daß sie Mich vor euch gehaßt hat. Wenn ihr zur Welt gehören würdet, würde sie euch als ihre Kinder lieben. Weil ihr aber nicht aus der Welt seid, sondern Ich euch auserwählt habe aus der Welt, darum haßt euch die Welt“ (Joh. 15, 18 f.). „Sie werden euch in Bann tun; ja, es kommt die Stunde, da jeder, der euch tötet glaubt, Gott einen Dienst zu erweisen“ (Joh. 16, 2). Das haben jene, die sich mit Christus kreuzigen lassen, verstanden und akzeptiert.

Als unser Herr damals hoch am Kreuz erhöht war, da reichte Sein Blick weit durch alle Jahrhunderte und über alle Völker hinweg. Er opferte dabei nicht nur Sich selbst und Sein Leiden dem himmlischen Vater auf, sondern auch die unzähligen Glieder Seines mystischen Leibes, die katholische Kirche. Und diese allgemeine aufopfernde Hingabe muß sich an jedem einzelnen Katholiken ganz persönlich vollziehen und vollenden. Jeder von uns muß selbst die folgenden Worte des hl. Paulus sprechen und in seinem eigenen Leben zur Anwendung bringen. Jenen Satz, der da lautet: „Was am Leiden Christi noch aussteht, das ergänze ich an meinem Fleisch zum Besten Seines Leibes, das ist die Kirche“ (Kol. 1, 24). – Nun kann man freilich fragen: Wie können wir denn „ergänzen, was am Leiden Christi noch aussteht“? War etwa das Leiden des Gottessohnes unvollständig? – Gewiß nicht! – Es bedeutet, daß Christus am Kreuz all unsere Leiden und Schmerzen vor sich sah, an sich zog und sie dem himmlischen Vater für uns aufopferte. All unsere Leiden wurden damals „durch Ihn und mit Ihm und in Ihm“ aufgeopfert, noch lange bevor sie in unserem Fleisch Wirklichkeit wurden. Sie wurden von Christus aufgeopfert. Doch seitdem stand ihre tatsächliche Erfüllung in den Gliedern noch aus. Damit die Passion Christi also in jedem Seiner Glieder, d.h. in jeder einzelnen Seele, zur Vollendung gelangen kann, ist es notwendig, daß jeder von uns den ihm zugedachten Anteil am Kreuz Christi erkennt, annimmt und durchleidet. Jeder von uns muß auf diese Weise in seinem Leben das Urbild des sterbenden Christus verwirklichen. Das ist mit den Worten des Völkerapostels gemeint: „Was am Leiden Christi noch aussteht, das ergänze ich an meinem Fleisch.“

Der Sohn Gottes hat jedem von uns eine erhabene Anteilnahme an Seinem Kreuz zugedacht. Jedes Seiner Glieder hat Er erwählt an der Erlösung teilzunehmen. „Wenn Ich von der Erde erhöht bin, werde Ich alles an mich ziehen.“ Jeder soll, auf diese Weise angezogen, mit Christus zusammen Erlöser sein. Jeder mit der ihm zugedachten kleinen Last, während Christus als der Welterlöser die Gesamtlast der Passion durchlitten hat. Zu jedem von uns sagt Er also: „Hier ist ein kleiner Splitter Meines Kreuzes. Nimm ihn ergeben an und er wird dich erhöhen, wie Mich das Kreuz von der Erde erhöht hat. Laß dich von ihm an Mich ziehen. Dieser Kreuzessplitter wird dich erhöhen über deine niederen Leidenschaften, über alle vergänglichen Güter und Genüsse dieser Welt hinaus. Er wird Deine Eigenliebe durchbohren und abtöten und dir das Herz öffnen zur vollkommenen Gottesliebe.“

Die Leiden des Hauptes

Wenn uns Christus auffordert, unser Kreuz anzunehmen und zu tragen, dann dürfen wir nicht vergessen, daß Er dabei keineswegs ein bloßer Zuschauer geblieben, sondern selbst, ohne Rücksicht auf Seine Person, den dornigen Leidensweg zum Himmel vorangegangen ist. Mit Seinem eigenen Leiden hat Er uns ja erst einen für uns gangbaren Weg gebahnt, indem Er Sich von den längsten und härtesten Dornen durchbohren ließ. Deshalb verlangt Christus nichts von uns, was Er nicht selbst gelitten hätte. Wenn Er von uns verlangt, uns selbst zu verleugnen, täglich unser Kreuz auf uns zu nehmen und Ihm nachzufolgen, dann fordert Er uns nur zum Tragen einer kleinen Last auf, die Er zuvor schon auf Seinen eigenen Schultern getragen hat.

Oft haben wir eine viel zu geringe Vorstellung vom Leiden des Gottmenschen. Sein Leiden war so groß, daß seinesgleichen nie auf Erden gewesen ist, noch jemals wieder sein wird. – Kann man daran zweifeln? – Wie lange dauerte es? Sein ganzes Leben lang! Wir wollen nicht die mühseligen Schritte des Heilandes, die in Armut, Arbeit und Gebet zugebrachten Tage Seines demütigen Wandels auf Erden zählen; nur soviel: Sein Leiden stand immerdar vor Seiner Seele. Das Kreuz war der Mittelpunkt all Seiner Gedanken. Beständig sprach Er von der Stunde der Kreuzigung als von „Seiner Stunde“. Alle Tage Seines Lebens lebte Er auf diese Stunde hin. Wenn Er in Seiner göttlichen Allwissenheit unser Leben in all Seinen Einzelheiten voraussah und auch unseren Tod jetzt schon sieht, sollte Er dann nicht auch Seinen eigenen vorausgesehen haben? War Er nicht allwissend? Hat Er nicht Sein Leiden und selbst die genauen Umstände dieses Leidens mehrmals vorhergesagt? – Ein Unglück, das klar und deutlich vorausgesehen wird, drückt schon im Voraus auf die Seele. Was fühlt eine Mutter, wenn ihr der Arzt sagt, ihr geliebtes Kind werde in wenigen Tagen, Wochen oder Monaten sterben? Sie kann das Kind nicht ansehen, ohne zugleich an den Todeskampf, den Leichnam, den Sarg, das Grab zu denken. Welcher Tag wäre also für Christus ohne Leid gewesen? Keiner! Gar keiner! Der Psalm 37 gewährt uns hier einen Einblick in das Innenleben Jesu, wo es heißt: „Mein Schmerz steht immer vor Meinen Augen“ (Ps. 37, 18).

Ein weiterer Irrtum wäre es zu sagen, das eigentliche Leiden unseres Herrn habe doch nur wenige Tage oder Stunden gedauert, unseres hingegen dauere Jahre, Jahrzehnte, fast ein Jahrhundert lang. Das mag zwar auf viele Menschen zutreffen. Aber welchen Leidensweg ist Jesus Christus in nur kurzer Zeit gegangen. Vom Garten Gethsemane, der von Seinem Blutschweiß getränkt wurde, in das Haus des Hohenpriesters. Welch ein Abend! Welche Nacht voller Mißhandlungen! Welch ein Morgen! Welch ein Tag! Aus dem Haus des Hohenpriesters in das Haus des Pilatus, von Pilatus zu Herodes, von Herodes zu Pilatus, von Pilatus auf den Kalvarienberg. Unter das Kreuz, an das Kreuz, in den Tod. Wie viele Feinde findet Er auf diesen Wegen und an diesen verschiedenen Orten! Priester und Laien, Heiden und Juden, Vornehme und einfache Leute. „Viele sind es, die Mich bedrängen“, heißt es im Psalm, „viele sind es, die sich gegen Mich erheben“ (Ps. 3, 2). Wie viele Schmerzen! Wie viele Wunden! Wie viele Schläge! Wieviel Blut! Bedenken wir wohl – es ist kein Teil Seines Körpers und kein Vermögen Seiner Seele, welches nicht leidet. „Vom Scheitel bis zur Fußsohle war nichts Heiles an Ihm“ (Is. 1, 6).

Dieses Leiden ist schon schwer genug, wenn man nur die äußere Schale davon betrachtet. Wir müssen dabei aber vor allem die innere Bitterkeit Seines Leidens betrachten. Diese Bitterkeit kam wie ein reißender Strom von Seinen Feinden, die nicht zufrieden damit waren, Ihn zu quälen, sondern Ihn darüber hinaus auch in Seinen Qualen verhöhnten; und nicht bloß verhöhnten, sondern Ihn auch noch beschimpften. Diese Bitterkeit schlug wie die Wogen eines unergründlich tiefen, schwarzen Meeres über Seiner liebenden Seele zusammen, da Er im Geiste sah, daß Seine Qualen trotz ihrer Größe für viele, für sehr viele vergeblich wären. Ja, daß Seine Marter für so viele Anlaß und Grund zu noch tieferer Verdammnis sein würde. Ein Ozean der Bitterkeit begrub Seine Seele, als Er sich sogar von Seinem Vater verlassen fühlte. – Wie groß, wie lang, wie schimpflich und wie bitter ist also das Leiden unseres Herrn gewesen! Unvorstellbar! Unermeßlich! – Und dabei haben wir noch gar nicht bedacht, daß die hl. Menschheit unseres Erlösers für das Leiden über alle Maßen empfänglich und empfindsam war. – Wenn man damals in den Krieg zog, so wurden die Schwerter geschliffen und geschärft. Wozu? Damit sie besser schneiden. Denn dazu sind sie da: zum Schneiden. – Wozu hat nun der Sohn Gottes die menschliche Natur angenommen? Ja, wozu? Um für uns zu leiden und zu sterben. Zum Leiden war Er ja überhaupt in die Welt gekommen. Christus wollte leiden! Was für einen Leib und was für eine Seele hat Er also angenommen? Einen solchen Leib und eine solche Seele, die für jede Art des Schmerzes die äußerste Empfindsamkeit besaß. Sein makelloser, vollkommener, nicht durch die Erbsünde belasteter Leib war keineswegs so abgestumpft wie der unsere. Seine Schmerzwahrnehmung war viel feiner als wir Schmerzen empfinden können. So war Sein Leiden wahrhaftig das größte. Christus hat sich also nicht vornehm zurückgehalten, fernab von den Tränen und Tragödien unseres Lebens, sondern alles erdenkliche Leid viel tiefer durchkostet, als wir es uns überhaupt vorstellen können. Deshalb sollen wir in den schwierigen Zeiten, die wir erleben, wenn uns also unser vergleichsweise kleiner Splitter vom Kreuz des Herrn niederdrückt, daran denken, daß Christus Sich nicht geschont hat. Deshalb sollen wir unseren Anteil am Kreuz Christi freudig annehmen, nämlich mit dem Bewußtsein, daß unser göttlicher Erlöser mit uns erneut eine ganze Welt erlöst – die Welt von heute – und uns dazu als Seine Glieder gebrauchen will.

Die Mitgekreuzigten

Wenn wir also zu leiden haben; wenn uns Menschen Unrecht tun, uns Bitterkeit und Schmerzen bereiten; wenn sie uns gleichsam kreuzigen, dann wollen wir wie Christus beten: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk. 23, 34). Das war nicht nur das Gebet des Gekreuzigten, sondern gewiß auch das Seiner heiligsten Mutter, die gleichsam mit Ihm gekreuzigt wurde. Aus ihrem unbefleckten Herzen, das vom Schwert des Schmerzes durchbohrt wurde, stiegen nicht Gedanken der Ungeduld, der Rache und Vergeltung auf, sondern sie erkannte, daß sie als Mutter der Kirche in ihren Schmerzen zahllose Kinder gebären müsse. Deshalb sollen auch wir, wenn uns Unrecht angetan wird, sprechen: „Sie meinen, in mir nur einem Menschen zu schaden, obwohl sie in Wirklichkeit ein Glied Deiner Kirche verfolgen, wie einst Saulus Dich in Deinen ersten Jüngern verfolgt hat. Sie wissen nicht, was sie tun.“ Wenn wir so das Kreuz annehmen, werden wir der schmerzhaften Mutter ähnlich, die damals geistig mit ihrem göttlichen Sohn mitgekreuzigt wurde. Wenn wir also unschuldig leiden, so werden wir mitgekreuzigt, wie die unbefleckte Jungfrau Maria, um der Seele eines Sünders die Wiedergeburt zum ewigen Leben mitzuverdienen.

Wenn wir hingegen erkennen, daß wir nur den gerechten Lohn für das Unrecht empfangen, das wir selbst verschuldet haben, dann sind wir mitgekreuzigt wie Dismas, der gute Schächer, der offen bekannte: „Wir leiden mit Recht, denn wir empfangen, was unsere Taten verdienen“ (Lk. 23, 41). Wer wie der hl. Dismas und die hl. Maria Magdalena in aufrichtiger Zerknirschung über seine Sünden aus seinem steinernen Herzen Ströme heißer Reuetränen hervorbrechen läßt; wer sein eigenes Leid annimmt und mit Christus vereint trägt, der ist, wie Dismas und Magdalena, ein Mitgekreuzigter. Und dem wird der Herr in seiner Todesstunde auch – wie damals dem Schächer – die süßen Worte ins Ohr flüstern: „Wahrlich, Ich sage dir; heute noch, wirst Du mit Mir im Paradiese sein“ (Lk. 23, 43).

Die Frage war: Warum läßt Gott das viele Leid geschehen? Die Antwort lautet: Weil in Erfüllung gehen muß, was Christus gesagt hat: „Wenn Ich von der Erde erhöht bin, werde Ich alles an mich ziehen.“ Wie ein Magnet zieht der Welterlöser alles an sich. Jeden, der sich nicht dagegen aufbäumt und sich ziehen läßt, den hebt Er empor zu Sich ans Kreuzesholz, damit wir zusammen mit Ihm noch weit über alles irdische Leid hinaus bis in den Himmel erhöht werden. – Wie glücklich wären wir, wenn wir mit Christus gekreuzigt sind. Wie unglücklich hingegen, sollten wir Ihn selbst, seinen mystischen Leib oder eines Seine Glieder kreuzigen und deshalb verlorengehen! Es wäre, wie wenn einer an der Quelle steht und doch verdurstet. Wenn in wenigen Augenblicken der Schleier vom Kreuz fallen wird und wenn wir später bei der Elevation der hl. Hostie den heiligsten Leib Christi über dem Altar erhöht sehen werden, dann wollen wir jeweils beten: „Ich danke Dir, Herr Jesus Christ, daß Du für mich gestorben bist. Laß Deine Not und Deine Pein, doch nicht an mir verloren sein! Zieh mich an Dich, und ich will in meinem Fleisch ergänzen, was an Deinem Leiden noch aussteht.“ Amen.

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