Unser Reden im Spiegel Gottes

Geliebte Gottes!

In den Klöstern und Ordensgemeinschaften bestand die Regel, daß auf den Zellen der Mönche und Nonnen kein Spiegel sein durfte. – Wozu auch? Die Haare wurden nicht gekämmt, da sie komplett rasiert, zur Tonsur geschnitten oder kurz geschoren unter dem Schleier waren. Der Bart wurde nicht rasiert. Die Ordenstracht bzw. die Kutte saß immer richtig und war zu jedem Anlaß angemessen. Die Sauberkeit konnte allein durch gründliche Körperwäsche garantiert werden. Ein Blick in den Spiegel war unnötig und hätte vom Wesentlichen abgelenkt. Für den Gottgeweihten ist das Erscheinungsbild der Seele allein maßgebend. Darum sollten sie sich sorgen. Und dafür hatten sie einen ganz anderen Spiegel. Der Spiegel an der Wand gilt den Gottgeweihten als Ausdruck der Neugierde und Eitelkeit, weil er nur das vom Menschen sichtbar macht, was mit dieser Welt vergeht und zu Staub und Asche zerfällt. – Inzwischen ist vieles anders geworden. Erst recht in der Welt. In der Welt legt man heute, vielleicht wie niemals zuvor, größten Wert auf das äußere Erscheinungsbild. Jeder von uns muß, um in dieser Welt bestehen zu können, viel mehr Wert auf korrektes Aussehen legen als das früher der Fall war. Und wir müssen schon aus Nächstenliebe hie und da in den Spiegel schauen; und zwar aufmerksam.

Der Spiegel Gottes

Trotzdem dürfen wir den Spiegel der Gottgeweihten darüber nicht vergessen. Es ist jener Spiegel, von dem der hl. Jakobus in der heutigen Epistel spricht. Der Apostel Jakobus vergleicht das Wort Gottes mit einem Spiegel, in welchen der Christ aufmerksam hineinschauen muß. Nur ist es hier umgekehrt als beim „Spieglein an der Wand“: Wir sehen im Spiegel des Gotteswortes nicht wie wir sind, sondern wie wir sein sollten. Er stellt uns das Idealbild der christlichen Vollkommenheit vor Augen. Und unsere Aufgabe besteht darin uns dem „vollkommenen Gesetz der Freiheit“ (Jak. 1, 25)gleichförmig zu machen. Es bleibt dabei immer noch jedem Einzelnen überlassen, ob er einen Vergleich zieht zwischen dem christlichen Ideal im Spiegel des Gotteswortes und der ungepflegten Wirklichkeit seines Lebens; zwischen dem „Vollbringer des Werkes“ und dem noch unvollkommenen, ja vielleicht sogar traurigen Zustand der eigenen Seele. Es bleibt dahingestellt, ob sich der Mensch selbst darüber hinwegtäuscht – oder sein Gewissen erforscht und sich zur notwendigen Korrektur aufrafft.

Man kann morgens nur einen flüchtigen Blick in den Spiegel werfen und so an sein Tagewerk gehen. Dabei hat man gar nicht gemerkt, daß die Brille schmierig ist, die Haare verlegt und die Zähne nicht geputzt sind; daß die Rasur nicht sauber ist und außerdem auch noch die Krawatte schief sitzt. Man hat es eben eilig. Zu eilig! – Andererseits kann man sein Bild im Spiegel auch genauer anschauen und dabei feststellen: Du bist alt geworden. Deine Haare sind dünner. Deine Gesichtsfarbe ist ungesund. Die Ränder unter den Augen verraten, daß du zu wenig schläfst. – Ähnlich verhält es sich mit dem Spiegel, den Gott uns durch Sein Wort vorhält. Wer nur zuhört, ohne sein Gewissen zu erforschen, kommt gar nicht auf den Gedanken, sich beunruhigt zu fühlen und die Notwendigkeit zu spüren, etwas an seinem Leben ändern zu müssen. Er bleibt zeitlebens nur ein „Hörer des Wortes“ (Jak. 1, 22) und wird doch nie zum „Vollbringer des Werkes“, wie es der hl. Jakobus in der heutigen Epistel ausdrückt. – Um das zu verhindern, schaltet die Kirche an Sonn- und Feiertagen nach der Verlesung des Gotteswortes in der Epistel und dem Evangelium eine Predigt ein. Die Predigt soll es dem mit geistlicher Trägheit behafteten Menschen erleichtern, sich nicht mit dem bloßen Hören, d.h. mit dem oberflächlichen darüber Hinweghören zufrieden zu geben. Durch die Erklärung des Gotteswortes wird dem Menschen das von Gott geforderte Idealbild klar und deutlich vor Augen gestellt. Dadurch wird dem Hörer die vielleicht unangenehme Frage nicht erspart, wie es denn mit dem „Vollbringen“, mit dem „Befolgen des Wortes“ bei ihm in Wirklichkeit aussieht. Freilich: Wenn einer nicht will, wird er trotz der eindringlichsten Predigt ein „vergeßlicher Hörer des Wortes“ (Jak. 1, 25)bleiben. Einer, der zwar flüchtig gesehen hat, wie er nach Gottes Willen sein müßte, dann aber, noch ehe er wieder zu Hause angekommen ist, längst wieder darauf vergessen hat.

Wort Gottes – Worte der Menschen

Wie ein Pädagoge nimmt uns der hl. Jakobus auch gleich bei der Hand, um das Gehörte praktisch einzuüben. Er sagt: „Wenn einer meint, er sei fromm, aber seine Zunge nicht im Zaume hat und sich selbst betrügt: dessen Frömmigkeit ist eitel“ (Jak. 1, 26). Betrachten wir uns einmal im Spiegel dieses Gotteswortes. 

Beachten wir zuerst einmal den Unterschied zwischen Gottes Wort und unseren Worten. Gottes Wort will die Menschen zum Frieden bringen. Menschenwort ist oft Anlaß zum Streit. Unser Wort verspritzt oft Gift, wenn wir unsere Zunge nicht zügeln. – Gottes Wort kommt aus der Liebe zu allen Menschen. Unser Wort kommt meist aus übersteigerter Selbstliebe. Unsere Worte suchen oft Entschuldigungen, Ausflüchte und Ausreden. Meist sind sie Ausdruck unseres Stolzes und unserer Empfindlichkeit. Wir gebrauchen sie aus Mißgunst und Neid, aus Besserwisserei und Rechthaberei, ja sogar aus Bosheit und Haß dem Mitmenschen gegenüber. Und selbst wenn einer im Reden nicht gleich beleidigend wird, bleibt meist noch viel Freiraum übrig, bis wir sagen würden: „Er zügelt seine Zunge“. – Gottes Wort will Wahrheit ausdrücken. Menschenworte wollen nicht selten täuschen. Gemeint ist hier nicht nur die Lüge in jeder Schattierung – von der kleinen Notlüge bis zum Meineid – gemeint ist vor allem unser Stil. Der Wortlaut stimmt. Aber der Ton ist gefälscht. Die Worte sind freundlich, der Ton aber genervt, gelangweilt oder gar aggressiv. 

Doch schauen wir noch genauer in den Spiegel Gottes hinein. Verschaffen wir uns größere Klarheit über die Zungensünden. Unser Herr Jesus Christus selbst hat sich hierüber sehr klar ausgesprochen. Nur zwei Worte aus dem Mund Christi seien hier angeführt; Sätze, die wir nicht genug bedenken und beherzigen können. 

Die Quelle der Zungensünden

Hier das erste Wort: „Wovon das Herz voll ist, davon redet der Mund“ (Mt. 12, 34). Mit diesem einfachen Wort aus dem Mund der göttlichen Wahrheit wird uns die Quelle aufgedeckt, aus welcher die Zungensünden entspringen. Diese Quelle ist – das Herz; das kranke, böse, stolze, lügnerische, verleumderische, rechthaberische, unwahrhaftige, vergiftete Menschenherz. Denn! – Gäbe es je ein unwahres Wort, wenn die Lüge nicht schon zuvor im Herzen säße? Oder wie könnte einem ein unsauberes Wort über die Lippen kommen, wenn sich nicht schon zuvor sittlicher Schmutz und Unrat im Herzen aufgestaut hätte? Ein boshaftes oder ungeduldiges Wort, das nicht aus einem boshaften und ungeduldigen Herzen käme? – So wird das vergiftete Wort zum Zeugen des vergifteten Inneren eines Menschen, der es ausspricht. Den Baum erkennt man bekanntlich an seinen Früchten; den Menschen an seinem Tun; das Menschenherz an dem, was daraus hervorgeht. „So bringt der gute Baum gute Früchte, der schlechte Baum aber bringt schlechte Früchte. Es kann ein guter Baum keine schlechten Früchte tragen, und ein schlechter Baum keine guten Früchte tragen.“ (Lk. 6, 17 f.). An einem Kaktus wachsen keine Datteln, aus einer schmutzigen Kloake fließt kein reines Quellwasser. – Wie viele lieblose, kritiksüchtige, besserwisserische, verleumderische, lügnerische und freche Worte offenbaren nicht doch den erbärmlichen Zustand eines Menschenherzens? Wenn wir so in den Spiegel des Gotteswortes blicken, liebe Gläubige, müßte uns da nicht Angst und Bange werden? Nein, nicht um diesen oder jenen Menschen, der uns da vielleicht in den Sinn kommt, sondern um unser eigene Herz! „Wovon das Herz voll ist, davon redet der Mund.“

Die Verantwortung für die Zungensünden

Sollte dem noch nicht so sein, wird sich das vielleicht gleich ändern, wenn wir nämlich den Spiegel des Wortes Gottes so einstellen, daß wir auch noch ein zweites Wort unseres Herrn Jesus Christus darin aufleuchtet sehen. Es lautet: „Von jedem unnützen Wort, das die Menschen reden, müssen sie am Tage des Gerichts Rechenschaft geben“ (Mt. 12, 37)

Wenn wir schon vom kleinsten, geringfügigsten Wort, das wir sprechen – denn das ist der Sinn von „unnütz“ – wenn wir also von jedem unbedeutenden Wort Rechenschaft ablegen müssen, wie schwer wird es sein, all jene Worte zu verantworten, die wir durchaus um eines gewissen Nutzens willen, d.h. mit der Absicht, einen bestimmten Zweck zu erreichen, ausgesprochen haben? Für alle unwahren, unguten, unsauberen, herabsetzenden und verdächtigenden Worte in unserem Leben. Für alle Worte, mit denen wir unser wahren Absichten verschleiert haben.

Hinzu kommt, daß wir ja nicht nur für die Worte allein vor Gottes Richterstuhl zur Verantwortung gezogen werden, sondern auch für die Wirkungen, welche sie in den anderen Menschen hervorgebracht haben. Nicht nur für die tiefen seelischen Verletzungen, die wir bisweilen mit dem Schwert unserer Zunge geschlagen haben und deren Narben kein menschliches Auge je gewahr werden wird. Sondern dafür, daß das eine Wort aus unserem Mund durch die anderen Menschen vervielfältigt wurde und so die einzelne Verdächtigung, die einzelne Lieblosigkeit und Halbwahrheit, das eine vorschnelle Urteile weitergetragen und dabei nicht selben auch noch vergrößert wurde; daß das Gift aus unserem Herzen die Gedanken, Urteile und Herzen anderer Menschen infiziert. Können wir dafür die Verantwortung tragen?

Vom heiligen Don Bosco wird berichtet, daß einst eine Frau öfters bei ihm gebeichtet hat und sich dabei regelmäßig ihrer Zungensünden anklagte. Der Heilige ermahnte die Dame wiederholt auf gütige Weise. Nach und nach gewann er jedoch den Eindruck, daß sie sich seine Mahnung zwar jedesmal geduldig anhörte, darüber hinaus aber keine tiefere Reue, keine ernsthafte Absicht sich zu bessern, erkennbar wurde. Sie schien die ganze Tragweite des Schadens, den sie durch ihr schlechtes Reden angerichtet hatte, gar nicht zu begreifen. „Meine Dame“, sagte der Heilige, „zur Buße, nehmen Sie, sobald Sie zu Hause angekommen sind, ein Federkissen zur Hand, zerreißen dasselbe und werfen die Federn vor ihrer Haustür auf die Straße hinaus. Sodann kommen sie wieder hierher zu mir in den Beichtstuhl.“ – Mit äußerstem Erstaunen über diese seltsame Bußübung machte sich die Frau auf den Nachhauseweg, zerriß folgsam eines ihrer Federkissen und leerte den Inhalt in die Turiner Straßen. Dann ging sie mit gespannter Erwartung zurück in die Kirche. „Und jetzt?“, wollte sie von ihrem Beichtvater wissen. Der Heilige antwortete ihr: „Jetzt folgt der zweite Teil Ihrer Buße. Sie sollen hingehen und jede einzelne Feder aus ihrem zerrissenen Kissen wieder einsammeln.“ – Die Dame fühlte sich verspottet und protestierte: „Das ist ausgeschlossen! Der Wind hat die Federn längst in alle Himmelrichtungen fortgetragen. Was soll dieses Theater überhaupt?“ – „Sehen Sie“, sagte der Priester, „genauso geschieht es mit unseren Worten. Einmal ausgesprochen, können wir sie nicht wieder einfangen. Sie werden durch den Wind der Ohrenbläserei in alle Welt hinausgetragen und leben in den Herzen anderer Menschen fort. Wir können nichts mehr daran ändern; selbst wenn wir wollten. Und doch müssen wir für jedes von ihnen Verantwortung vor Gottes Gericht ablegen.“

Vollbringer des Werkes

Wir sind also gewarnt. Wir müssen unsere Zunge im Zaum halten. Und wir sollten nicht „bloße Höher des Wortes“ sein, sondern auch „Befolger“ und „Vollbringer des Werkes“ sein. Wir müssen nach Kräften die richtigen Konsequenzen aus dem Gotteswort ziehen und tatsächlich in die Praxis umsetzen. – Was ist also zu tun? Die Antwort ist eigentlich sehr einfach, aber doch schneidend unbequem. 

Erstens: Wir müssen unser Herz rein machen – und rein bewahren. Dann wird auch unser Wort gut und rein werden. „Wovon das Herz voll ist, davon redet der Mund.“ Jedes anmaßende, vorschnelle Urteil, jede stolze Empfindlichkeit, jede Falschheit, Unlauterkeit und Lieblosigkeit muß aus unserem Herzen ausgetilgt werden. Wir müssen unser Herz im richten Sinne „liebevoll“; d.h. zu einem Quell der Güte und des Wohlwollens, machen. Wenn das gelingt, werden wir auch nicht mehr durch böse und lieblose Worte fehlen. – Wir müssen unser Herz wahr und aufrichtig machen. Dann hören auch die unwahren, unehrlichen Worte von selbst auf. Das ist freilich keine leichte, sondern schwere Arbeit. Schwierig deshalb, weil es ans Eingemachte geht – an unseren selbstverliebten Charakter. Es ist eine schwere Arbeit, den Charakter zu bessern, jedoch ist sie leichter als böse Wort wieder einzufangen. Jede Radikalkur gegen die Zungensünden läuft letzten Endes darauf hinaus unser Herz von der Eigenliebe zu entgiften und statt dessen in der übernatürlichen Liebe zu Gott und dem Nächsten zu wachsen. Erst wenn unser Selbstsucht von der übernatürlichen Liebe überwunden ist, können wir das bekannte Worte des hl. Augustinus im richtigen Sinn beherzigen: „Liebe, und dann tue, was du willst! Schweigst du, so schweige aus Liebe. Redest du, so rede aus Liebe. Rügst du, so rüge aus Liebe. Schonst du, so schone aus Liebe. Trage Liebe in deinem Herzen. Aus dieser Wurzel kann nichts anderes als Gutes hervorgehen.“

Bis uns aber dies gelungen ist, müssen wir – zweitens – unsere Zunge im Zaum halten. Wir dürfen ihr kein Wort genehmigen, das nicht vor Gott bestehen kann. Jeder kann das. Denn jeder kann doch wenigstens schweigen, solange er noch nicht fehler- und sündenfrei reden gelernt hat. Schweigen aus Liebe! Und wenn wir uns doch wieder einmal vergessen haben und im Reden gefehlt haben sollten, dann versäumen wir es nicht, uns selbst doch wenigstens eine kleine Buße aufzuerlegen, damit Gott sieht, daß es uns ernst ist und wir aufrichtig gewillt sind uns zu bessern! 

Und noch ein Letztes. Wenn wir mit unseren Worten Schaden angerichtet haben, dann sind wir auch zur Wiedergutmachung verpflichtet. Jeder Schaden muß wiedergutgemacht werden. Im Zusammenhang mit materiellen Dingen leuchtet das jedem ein. Dafür schließ man eine Haftpflichtversicherung ab. Deshalb ist jeder geneigt, den Schaden, den er selbst angerichtet hat, nach Möglichkeit wieder gut zu machen. Hinsichtlich des Schadens, der aus Worten entsteht, ist das leider nicht allen so klar. Üble Nachrede und Verleumdungen verlangen eine Richtigstellung! Ungerechte Anschuldigungen und Beleidigungen verlangen nach einer Entschuldigung! Ansonsten besteht die begründete Furcht, daß Gott, obwohl wir im Bußsakrament von unseren Zungensünden losgesprochen werden, Selbst eine gerechte Buße festsetzen wird.

Selig der Mensch, der sich nicht mit seinem Munde verfehlt!“ (Sir 14, 1). Blicken wir schließlich noch auf einen solchen Menschen. Blicken wir, wie es sich ganz besonders für den Monat Mai gebührt, auf das Beispiel der allerseligsten Jungfrau Maria. Die lauretanische Litanei preist sie als „speculum iustitiae“ – als den „Spiegel der Gerechtigkeit“. Auch Maria ist ein Spiegel, der uns das Ideal der Worte Gottes, lebendig im Fleisch verwirklicht, vor Augen stellt. Das Evangelium berichtet uns nicht viele Worte aus dem Mund der Gottesmutter; nur daß sie zunächst schwieg und nachdachte, ehe sie dem Erzengel Gabriel ihre wohlüberlegte Antwort gab. Sie ist die verschwiegene Jungfrau. Die Jungfrau, die denkt, bevor sie redet! Hätten wir doch ihr Tugendvorbild stets vor Augen! Deshalb wollen wir sie anrufen: Maria, Du „Spiegel der Gerechtigkeit – bitte für uns.“ Amen.

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