Das Gesetz der Heiligkeit

Geliebte Gottes!

Am Fest Allerheiligen schlägt uns die Kirche die acht Seligpreisungen am Beginn der Bergpredigt des Heilands zur Betrachtung auf. Christus saß am Berghang, umgeben von Seinen Jüngern, in weiterem Kreis die Masse des Volkes. Er verkündete Sein neues Gesetz, das „Gesetz der Heiligkeit“.

Dabei waren die Umstände völlig andere als bei der Verkündigung des alttestamentlichen Gesetzes auf dem Berge Sinai. Das Neue tritt hier schon äußerlich in Erscheinung, während sich Gott auf dem Sinai unsichtbar in finsteren Wolken verhüllt hatte. Der Berg in der Wüste war unnahbar. Das Nähertreten unter Androhung des Todes verboten. Das Volk stand in banger Erwartung angesichts des beängstigenden Schauspiels und wollte, daß Moses, nicht Gott selbst, zu ihnen sprechen solle. Das Gesetz selbst war in spröder Befehlsform erlassen: „Du sollst“ und „Du sollst nicht“. Und alles war begleitet von Blitz und Donner, von Drohung und Unheimlichkeit.

Welch ein Kontrast! Hier ist Jesus Christus, der Sohn Gottes; wahrer Gott vom wahren Gott, nicht verhüllt, sondern sichtbar in Seiner menschlichen Natur. Er selbst öffnet den Mund. Er spricht nicht mehr durch Moses oder die Propheten. Seine Worte sind Seligpreisungen, mit denen er zur Vollkommenheit lockt und anspornt. Alle können sich Ihm nähern. Ringsum blühende Wiesen und grünendes Land. Es ist ein Bild der Kirche: Jesus als ihre geheimnisvolle Mitte und ihr eigentlicher Lehrer, Gesetzgeber und König. Um Ihn die besonders Gerufenen und besonders Gesandten, die Jünger und Apostel. Und im weiteren Umkreis die Volksmassen der Weltkirche aller Jahrhunderte und Nationen. Über dem Ganzen der blaue Himmel, in den gleichsam wie im Traume Jakobs die geistige Himmelsleiter der acht Seligpreisungen bis zum Throne Gottes empor hineinragt. Es ist jene Himmelsleiter, deren acht Sprossen man besteigen muß, um zur vollendeten Heiligkeit und zur vollkommenen Glückseligkeit in Gott zu gelangen.

Wahre Seligkeit

Auch der Alte Bund kannte das „Selig“. Der erste Psalm Davids hebt gleich mit diesem Wort an. Aber diese Seligkeit war lediglich eine Zusicherung von Straffreiheit für den, der das Gesetz befolgt, aber noch keineswegs eine frohmachende Verheißung auf ein übernatürliches Glück, das sich der Mensch gar nicht auszumalen imstande ist. Der Alte Bund war ein zweiseitiger Vertrag zwischen Gott und dem Volk, also ein äußeres Rechtsverhältnis. „Der Gerechte“ ist der Mensch, der die Gesetze Gottes beobachtet. Die äußere Einhaltung verleihe ihm dann einen Rechtsanspruch (!) bei Gott. So dachten die Pharisäer.

Ganz anders sind die Seligpreisungen des Heilands zu verstehen. Gewiß gibt es auch im Neuen Bund ein Gesetz und ein Recht. Aber es geht viel tiefer. Es beschränkt sich nicht auf die rein äußerliche Erfüllung der Gebote, sondern zielt auf die innerliche Umgestaltung und gnadenhafte Erhebung der Liebe des menschlichen Herzens. Es offenbart dem Menschen das Geheimnis der unbegreiflichen Liebe Gottes zum Menschen. Und in der übernatürlichen Liebe zu Gott soll es gleichsam sein Echo im Herzen des begnadeten Menschen finden. Und weil Gott es ist, von dem die Liebe ausgeht und der auch uns Seine übernatürliche Liebe schenkt, mit der wir Ihn würdig lieben können, ist letztlich alles in erster Linie Gnade, d. h. ein Beschenktwerden des Menschen. Wer diese Liebe und Gnade versteht und aufnimmt, der ist selig zu preisen, denn er hat die Seligkeit des wahren Glückes gefunden.

Achtmal wiederholte Christus dieses „Selig“, weil das Menschenherz sich in achtfacher Weise disponieren muß, um die Liebe Gottes in vollkommener Weise aufnehmen zu können, um dadurch heilig zu werden.

Die erste Sprosse der Himmelsleiter

Der Herr hebt an mit den Worten: „Selig die Armen im Geiste“. Diese erste Seligpreisung bildet das Fundament der neuen Sittlichkeit und damit gleichsam die unterste Sprosse der Himmelsleiter. Seliggepriesen wird der Mensch, der seinen elenden Zustand wahrhaftig erkennt, der sich vor Gott seiner eigenen Armseligkeit bewußt ist. Es stehen sich ja nicht nur Schöpfer und Geschöpf gegenüber, sondern der gefallene Sünder dem allheiligen, aber gnädigen Gott. Diese Selbsterkenntnis der eigenen Schwäche und des eigenen Ungenügens, ja der eigenen Sündhaftigkeit und Bosheit ist die Grundlage und der Ausgangspunkt der wahren Demut, die Voraussetzung eines zerknirschten Herzens und damit das Fundament der wahren Frömmigkeit.

a) „Selig die Armen im Geiste“

Der Mensch hat ja Gott gegenüber nichts Eigenes, auf das er sich berufen, das er vorweisen, auf das er pochen könnte.

Nicht den materiellen Besitz. Denn er bedeutet vor Gott nichts. „Es ist leichter für ein Kamel, durch ein Nadelöhr zu gehen, als für einen Reichen ins Gottesreich.“ (Mt. 19,24). Reichtum ist eher eine Gefahr, weil er die Herzen verhärtet und die Besitzenden zum Stolz verführt.

Ähnliches gilt für das geistige Wissen. Der hl. Paulus sagt: „Scientia inflat“ – „Die Wissenschaft bläht auf!“ (1. Kor. 8,1); d. h., sie führt leicht zur Überheblichkeit. Bildung kann zur Einbildung werden. Wie hingegen die vielen Ungebildeten unter den Heiligen beweisen, ist nicht die Schriftgelehrsamkeit die Grundlage der wahren Frömmigkeit, sondern die Einfalt des Herzens. Wissenschaft erhöht die Verantwortung, ist aber in sich noch ohne religiösen Wert.

Ferner kann sich der Mensch auch nicht seiner sittlichen Leistungen vor Gott rühmen. Denn in Wahrheit ist der Mensch unfähig, aus eigener Kraft auf Dauer Gutes zu tun. „Gott allein ist gut“, sagt der Herr. Und darum ist im menschlichen Leben nur das gut, was der Mensch in der Kraft der Gnadenhilfe Gottes und in der Verbindung mit Gott, dem allein Guten, vollbringt.

Das schließt auch und ganz besonders die religiösen Werke des Menschen ein. Denn die „religio“ als Gottverbundenheit wird nicht vom Menschen hergestellt, sondern von Gott. Die Religion beschränkt sich nicht auf unseren Aufstieg von unten nach oben, sondern unser Emporsteigen auf der Himmelsleiter setzt ein Herabkommen, eine Herablassung von oben, genauer: ein gnädiges Zuvorkommen Gottes voraus. Die Übung der Religion ist kein Ergreifen Gottes durch die eigene Geisteskraft oder ein „gutes Werk“ – diese Vorstellung wäre ein frevlerischer Griff nach Gott –, sondern ein Ergriffenwerden durch Gott, der sich des armen, zerknirschten und gedemütigten Herzens erbarmt und es aufrichtet. So heißt es im 112. Psalm: „Aus dem Staube hebt Er den Hilflosen auf, richtet den Armen empor aus dem Schmutz; und heißt ihn sitzen unter den Edlen, unter den Fürsten Seines Volkes.“ (7 f.). Und so ist es wahr, wenn die Kirche in ihren Gebeten bekennt, daß Gott, wenn Er die Großtaten Seiner Heiligen mit ewigem Lohn vergilt, lediglich Seine eigenen Werke krönt, nämlich die Werke Seiner erbarmenden Gnade.

So resümiert der hl. Augustinus: „Mit Recht werden deshalb hier unter den ‚Armen im Geiste‘ die Demütigen und Gottesfürchtigen verstanden, die also nicht von einem eitlen Geiste aufgebläht sind. Die Seligpreisung konnte gar nicht mit einer anderen Verheißung beginnen; nur in ihrer Beobachtung kann man zur Höhe oder Weisheit gelangen. Denn: ‚Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Weisheit.‘ (Sir. 1,16). Und im Gegensatz dazu heißt es im gleichen Buche: ‚Die Hoffart ist der Anfang der Sünde.‘ (Sir. 10,15).“ (Serm. Dom. in mont. I, 2).

Die erste Seligpreisung steht damit im klaren Gegensatz zum Laster des Stolzes, und zwar besonders in einer dreifachen Ausprägung. – Sie richtet sich gegen die pharisäische Selbstgefälligkeit, welche die anderen verachtet, weil sie religiös Unwissende sind oder weil sie die Religion geistig nicht so tief erfassen. Sie richtet sich gegen die stoische Selbstgenügsamkeit, die sich mit ihrem Sünderdasein durch ein trotziges „So bin ich eben nun einmal“ abgefunden und den Kampf der Selbstüberwindung aufgegeben hat. Genauso steht die erste Seligpreisung aber auch im Gegensatz zu jeder Art einer titanischen Selbstvermessenheit, die aus eigener Kraft den Himmel erstürmen und dabei niemandem – vielleicht nicht einmal Gott – etwas zu verdanken haben will.

Es gibt keine Selbsterlösung! Es gibt lediglich eine Selbstheiligung. Und diese besteht wesentlich darin, daß wir uns so disponieren, daß wir uns so bereithalten, damit wir dem Wirken der göttlichen Gnade in uns keine Hindernisse setzen, wenn sie sich uns zuwendet. Das Haupthindernis aber, welches uns für die Gnade Gottes unempfänglich macht, ist der Stolz, in all seinen Erscheinungsformen – auch in den subtilsten. Deshalb versteht man unter Selbstheiligung im Wesentlichen nichts anderes als ein „Sich-Bereithalten“ im „Geiste der Armut“; ein Sich-Bereithalten für die Heimsuchung der göttlichen Gnade; ein Sich-Bereithalten für den Augenblick, den Gott allein bestimmt.

Kurz: Das Entscheidende ist das gnadenhafte Tun Gottes. Der Mensch kann von seiner Seite nur die Bereitschaft herstellen, dieses Tun Gottes auch wirklich geschehen zu lassen und aufzunehmen. Voraussetzung dafür ist das Bewußtsein des eigenen Unvermögens, der eigenen Unzulänglichkeit, des eigenen Versagens und damit der eigenen Sünde.

Das Bewußtsein der eigenen Armseligkeit scheint die eigentliche Tragik und das Unglück, der Jammer und das Niederdrückende im Leben des Menschen zu sein. Und so liegt das Paradox darin, daß Christus gerade diese Haltung als erste und grundlegende nicht nur fordert, sondern seligpreist. Selig darum, weil die Armut im Geiste den fruchtbaren Boden der Seele bereitet, auf dem Gott Seinen neuen Paradiesesgarten pflanzen kann; in dem Er lustwandelt, in dem Er die Saat ausbringt, das Wachstum gibt und die herrlichsten Früchte hervorbringt. Und weil Gott die Liebe ist, wird dieses Sein Wirken ein Werk der Liebe sein und wird den Menschen, der nur in Liebe selig wird, beseligen.

b) „denn ihrer ist das Himmelreich“

An die fundamentale Voraussetzung zur Seligkeit wurde von Christus in der ersten Seligpreisung dann auch die fundamentale Verheißung der Seligkeit geknüpft: „Denn ihrer ist das Himmelreich.“ Das Himmelreich ist der Ort, wo Gott ist, wo Sein Geist und Sein Wesen die volle Macht entfaltet und Seine ganze Herrschaft ausübt. – Wenn also der Mensch sich bewußt ist, daß er, der aus sich selbst nichts ist, in allem Gott die Ehre geben muß und Ihn damit auch wirklich als den alleinigen Herrn anerkennt, dann unterstellt er sich der Herrschaft Gottes und läßt damit das Reich Gottes in seiner Seele zur Entfaltung kommen.

Gott schenkt sich ihm durch die dauerhafte Teilnahme an Seinem übernatürlichen Leben in Form der Mitteilung der heiligmachenden Gnade. So steht der „Arme im Geiste“ schon in diesem irdischen Leben geistig im Himmelreich und der Heimgang aus diesem irdischen Leben wird nur die ewige Verstätigung und der volle Genuß dieses übernatürlichen Lebens in der beseligenden Anschauung Gottes sein.

Doch das Reich Gottes erschließt sich den demütigen und gottesfürchtigen Seelen auch schon in diesem Leben auf dem Wege der Erkenntnis. Es erfüllt sich die Prophezeiung des Isaias, der vom Messias sagt: „Er hat Mich gesandt, den Armen das Evangelium zu verkünden.“ (Is. 61). Während die materiellen Reichtümer, die irdischen Genüsse und die aufblähende Wissenschaft den menschlichen Geist für die göttliche Wahrheit verschließen, so daß „sie hören und doch nicht verstehen“ (Mt. 13,14) und sich folglich auch nicht bekehren und nicht in das Gottesreich eingehen können, so besteht der einzige Reichtum der „Armen im Geiste“ in Gott. Gott ist ihr innerlicher Schatz, dem sie sich im Gebet zuwenden. In der stillen Sammlung und der trauten Zwiesprache des betrachtenden Gebetes aber eröffnet der Herr den Einfältigen die geheimnisvollsten Stellen der Heiligen Schrift und ein tieferes Verständnis der Lehren des Evangeliums. Er nährt sie mit heiliger Freude daran, stärkt sie damit in den Prüfungen und Trockenheiten. Er bewahrt sie in heiliger Gottesfurcht und gibt ihren Herzen Geduld und Sanftmut, die sie alles Widrige ertragen läßt. So erklärt der hl. Augustinus: „Die erste Seligpreisung beginnt mit der Demut: ‚Selig die Armen im Geiste.‘ Jene sind damit gemeint, die immer in der Furcht bleiben, sie könnten in der Ewigkeit doch der Strafe überantwortet werden, selbst wenn sie in diesem Leben gerechtfertigt zu sein scheinen. Wer aus solchem Geiste lebt, dem erschließt sich die Heilige Schrift. Er versteht, daß nur aus tiefer Ehrfurcht wahre Sanftmut erwachsen kann.“ (Serm. Dom. in mont. I,3). Ja, nur der Demütige versteht es und ist aufnahmebereit für die Gnade und Liebe Gottes. Darum wird diese Armut vom Heiland seliggepriesen.

Die zweite Sprosse der Himmelsleiter

Die zweite Sprosse, die wir ergreifen müssen, um dem ewigen Ziele näherzukommen, ist der Gegenstand der zweiten Seligkeit: die Sanftmut. „Selig die Sanftmütigen, denn sie werden das Land besitzen.“

a) „Selig die Sanftmütigen“

Sanftmütig ist, wer sich aus Liebe zu Gott nicht aufregt, wenn ihm Unrecht geschieht, und nicht auf Rache sinnt. Damit wendet sich die zweite Seligpreisung gegen das zweite Unheil, das den erbsündlich geschwächten Menschen ins Verderben zieht: gegen den unbeherrschten Zorn, der aus dem Stolz hervorgeht.

Wenn der selbstsüchtige, stolze Mensch sieht, daß er „arm“ ist, daß er anderen in irgendeiner Form unterlegen ist, daß die anderen mehr haben als er, dann wird er neidisch und zornig über solches „Unrecht“. Er haßt und grollt denen, die mehr besitzen, die in seinen Augen ungerechterweise höher stehen als er, denen es scheinbar besser geht als ihm, die es im Leben scheinbar leichter haben. Wenn er diese Menschen auch nicht gleich offen bekämpft, so schmiedet er doch im Hintergrund Ränke, stellt ihnen Fallen, betreibt üble Nachrede, schreckt vor leichtfertigen Verleumdungen nicht zurück. Der Antrieb solchen Zürnens ist die Selbstsucht, die mißgünstige Eigenliebe.

Im Gegensatz dazu steht der Zorn des Sanftmütigen. Auch der Sanftmütige ist zum Zorn fähig. Doch ist sein Antrieb ein anderer. Nicht die Selbstsucht, sondern die Gerechtigkeit ist die Richtschnur seines Handelns. Er ist beherrscht und läßt es nicht zu, daß seine Worte, seine Taten, seine Fäuste sich für einen unheiligen Zweck oder zur Verteidigung seines eigenen Stolzes, seiner Eitelkeit, seines Hochmutes erheben. Nur wenn die Rechte Gottes bedroht sind, dann tritt sein Zorn auf den Plan.

Moses war sanftmütig, aber als er sah, daß sein Volk Gott den Gehorsam verweigerte, da zerbrach er im Zorn die Gesetzestafeln. – Unser göttlicher Erlöser war die Sanftmut selbst, und doch jagte er die Händler und Geldwechsler mit einer Geißel aus dem Tempel, als sie das Haus Seines Vaters schändeten. Er ist so völlig Herr Seiner selbst, daß Er nur dann zornig wird, wenn das heilige Recht Gottes Ziel eines Angriffs ist, hingegen nie, wenn Ihm selbst Unrecht zugefügt wurde. Ohne Groll verließ Er die Gerasener, die Ihm nahelegten, ihr Ufer nicht mehr zu betreten. Ohne ein böses Wort nahm Er den Spott der höhnenden Trauergemeinde entgegen, die sich im Haus des Jairus um dessen totes Töchterchen versammelt hatte, und erweckte das Mädchen trotz ihres Spottes aus seinem Todesschlaf. Als Judas Ihm den heuchlerischen Kuß gab, nannte Er ihn „Freund“. Wie ein sanftes Lamm ließ Er sich zur Schlachtbank führen. Und selbst als am Kreuz ihr Zorn gegen Seinen menschlichen Leib tobte, da erwiderte Er ihre Wut nicht, obwohl Er sie durch Seine göttliche Macht alle hätte erschlagen können. Stattdessen verzieh Er ihnen und entschuldigte das Unrecht, das man Ihm antat, denn „sie wissen nicht, was sie tun“.

Wenn jemals ein unschuldiger Mensch ein wahres Recht gehabt hatte, sich gegen die Ungerechtigkeit zu erheben, sich dagegen aufzulehnen, sich dagegen zu empören, dann doch Christus. Aber Er verzieh! Und damit beraubte Er alle Menschen, selbst wenn sich unter ihnen tatsächlich wenigstens ein Unschuldiger fände, des Rechtes, eigenmächtig Rache zu üben. Stattdessen fordert Er: „Lernet von Mir, denn Ich bin sanft und demütig von Herzen.“ (Mt. 11,29). Auch hat Er damit alle Menschen jeglicher Ausreden beraubt. Wir können nicht unseren Mangel an Sanftmut bemänteln und sagen: „Dieser Person zu verzeihen oder dieses Unrecht hinzunehmen ist mir ganz und gar unerträglich.“ Der Herr würde uns entgegnen: „Ohne Schwierigkeit kannst du die Sanftmut weder erwerben noch besitzen. Es bedarf dieser Personen und dieser Ungerechtigkeiten, damit du sanft werden kannst.“ – „Aber ich habe ein so hitziges Naturell. Ich kann das nicht. Ich bin zu schwach!“ Darauf antwortet der hl. Augustinus: „Tue, was du kannst, und bete um das, was du nicht kannst, so wird Gott dir geben, daß du es kannst.“ Eine allgemeingültige Weisheit: Tue, was du kannst, und bete um das, was du nicht kannst, so wird Gott dir geben, daß du es kannst! Will man den Himmel erlangen, so muß man sich Gewalt antun und sich überwinden. Christus hat uns am Kreuz die notwendige Kraft dazu im Übermaß verdient, damit wir das, was uns mangelt, durch das Gebet erhalten.

Denn Er hatte ja die Sanftmut nicht nur gepredigt, sondern sie in vollkommener Weise geübt. Und Er hat uns dabei ein Beispiel gegeben, indem Er für die betete, die Ihn kreuzigten, und indem Er diejenigen entschuldigte, die sich an Ihm vergingen. Wir dürfen nämlich nie vergessen, daß auch unsere Feinde, unsere Beleidiger, die Schädiger unseres guten Rufes oder unseres Eigentums oft nur Irregeleitete sind, genauso wie jene, die Christus ans Kreuz schlugen. Wenn wir nicht aufhören, mit Haß auf Haß zu antworten, kann er nie ein Ende finden. Deshalb darf der Sanftmütige „nicht Böses mit Bösem vergelten“, sondern muß „das Böse überwinden durch das Gute“ (Röm. 12,21), wie es der Völkerapostel verlangt.

Welche Eigenschaften muß aber nun die Sanftmut an sich haben, damit sie der Forderung der zweiten Seligkeit, also dem Vorbild Christi, entspricht?

Sie muß vor allem übernatürlich sein, d. h., sie muß aus Demut und Liebe zu Gott geübt werden. Es geht um die widerstandslose Bereitschaft Gott gegenüber, um die Ergebenheit in Seine Schickungen und Fügungen, in Seine Prüfungen und Züchtigungen. Der Mensch soll Werkzeug in der Hand Gottes sein und darum gefügig im Geist der Sanftmut werden. Alles Wilde, Trotzige, Stürmische, alles Gewaltsame, Fanatische, alles sture Sich-durchsetzen-wollen wird hier aufgelöst durch das gläubige Wissen, daß Gott mit Seinen reinigenden Laugen in Form der Prüfungen und Geduldsproben durch lästige Mitmenschen an meiner Seele arbeitet. Wie Gold und Silber muß sie im Schmelztiegel der Versuchung geläutert werden, damit sie ein brauchbares Werkzeug in den Plänen Seiner weisen Vorsehung werden kann.

Ferner muß die Sanftmut in aller Aufrichtigkeit geübt werden, sodaß das äußere Verhalten in Wort und Tat mit der inneren Gesinnung übereinstimmt. Um diese Tugend zu erlangen, muß der Zorn gewiß unterdrückt werden, aber in der bloßen Unterdrückung des Zornes besteht noch lange nicht die Sanftmut.

Sodann muß sich die Sanftmut ausdehnen in der Dauer. Sie muß nämlich geübt werden bei jeder Gelegenheit, die sich täglich so oft darbietet.

Schließlich muß sie sich ausdehnen in der Breite. Sie muß geübt werden gegen jedermann: gegen Vorgesetzte, gegen Gleichgestellte und Untergebene, gegen Große und Kleine, gegen Junge und Alte.

b) „Denn sie werden das Land besitzen“

Die Verheißung der zweiten Seligkeit sagt uns erneut ein Besitzrecht zu: „Selig die Sanftmütigen, denn sie werden das Land besitzen.“ Was ist dieses Land?

Zum einen ist es diese Erde. Denn an die Übung der Sanftmut sind Glück und Segen auf Erden geknüpft. Der Sanftmütige ist ein angenehmer Zeitgenosse. Freilich wird er deswegen nicht in Ruhe gelassen werden. Seine Hoffnung, die er nicht auf vergängliche Güter, sondern auf die ewigen baut, gestattet ihm jedoch schon in diesem Leben den Genuß eines großen Herzensfriedens, auch wenn er äußerlich leidet. Dieser ist sein größter diesseitiger Schatz, der ihm von niemandem geraubt werden kann. Auch wenn man ihn aller äußeren Güter berauben kann – des Besitzes, seines guten Rufs, seines Hab und Guts, geliebter Menschen, seiner Gesundheit, ja sogar seines Lebens –, weiß er sich trotzdem gerade im sanften Ertragen reich an inneren Verdiensten. Ihr Besitz macht ihn froh, ist ihm doch der ewige Lohn gewiß. Der Streitsüchtige hingegen wird sich in seinen beständigen Zänkereien um äußerliche und vergängliche Angelegenheiten aufreiben und selbst wenn er erlangt, was er sich zu erstreiten hofft, mit leeren Händen diese Erde verlassen. Der Besitzstand der Sanftmütigen erstreckt sich sodann auf sein Herz und seinen Leib, die beide aus Erde sind und durch ihre ungestümen Leidenschaften gegen den Geist aufbegehren. Der Sanftmütige hat sich seinen Leib und die leidenschaftlichen Regungen seines Herzens alle unterworfen und sich dienstbar gemacht. Er hat sich vollständig in der Gewalt. Er besitzt sich selbst und ist Herr seiner selbst.

Schließlich weitet sich sein Besitzstand, wenn man den Blick ins Jenseits ausweitet. Dort ist es die „Erde“ des himmlischen Paradieses, das dem Sanftmütigen gehören wird. Ein Land, wo es Schätze, Genüsse und Freuden gibt, die uns niemand mehr entreißen kann. Übrigens heißt es im griechischen Text der Seligpreisung nicht, sie werden das Land „besitzen“, sondern es wird ihnen als ein gesetzliches Los zufallen. Hinter dem Ganzen steht also der alles nach Recht und Gesetz ordnende Wille Gottes, der jedem nach Gerechtigkeit das zuteilt, was ihm zusteht. Dabei wird er bei der Verteilung das beste Stück Boden durch das Los demjenigen zuteilen, der in Sanftmut den Entscheid Gott überläßt. Gott ist der, welcher die Lose und Schicksale verteilt. In diesem und im anderen Leben. Jenes herrliche Land ist damit gemeint, von dem der Psalmist sagt: „Mein Hort bist Du [, o Herr], mein Anteil im Lande der Lebenden.“ (Ps. 141,6). Gott selbst ist also das Erbteil des Sanftmütigen!

Um es zu erlangen, ruft uns die zweite Seligpreisung zu: „Wenn ihr Feinde habt. Wenn sie euch hassen. Wenn sie euch schmähen und verfolgen und alles Böse wider euch reden. Wenn sie euch Unrecht tun, ihr aber dem Haß und der Wut in eurem Herzen ein Ende setzen wollt, wenn ihr den Haß in ihren und euren geballten Fäusten lösen und die unbeherrschte Wut vom Angesicht der Erde hinwegfegen wollt, dann gibt es nur eine Möglichkeit: Liebt sie, indem ihr sie ertragt!“

Heiligkeit führt zur Seligkeit

An dieser Stelle wollen wir für heute innehalten und die noch ausstehenden sechs Sprossen der Himmelsleiter bei anderer Gelegenheit genauer beleuchten. Die Heiligen haben sie alle acht mit Hilfe der göttlichen Gnade erklommen. Mögen wir alle ihrem Beispiel nacheifern. Dem Beispiel unserer heiligen Patrone, dem Beispiel Mariens, der Königin aller Heiligen, und dem Beispiel Jesu Christi, dem Urbild aller Heiligkeit. Wenn wir in Demut und Sanftmut in ihre Fußstapfen treten, wird es uns gelingen, selig zu werden. Denn das Gesetz der Heiligkeit führt zur Seligkeit. Amen.

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