4. Sonntag nach Ostern
Das Meisterwerk Gottes
Geliebte Gottes!
In der Schule lernt man noch lange nicht alles fürs Leben. Das ist eine Binsenweisheit. In einem langen, viel bewegten, vielleicht auch viel gereisten Leben sammelt man noch lange nicht alle Erfahrungen. Und auch im Internet erfährt man noch lange nicht das Wichtigste. Das Wichtigste, das Schönste und Nützlichste, das lernt man, wenn man Gottes Werke studiert.
Der Mai gibt uns jedes Jahr Gelegenheit, das vollkommenste aller Werke Gottes zu bestaunen. Wenn wir das Leben der allerseligsten Jungfrau und Gottesmutter Maria nach und nach verfolgen, können wir Gottes Meisterhand nachspüren, wie Er das größte Kunstwerk Seiner Gnade hervorbrachte, wie Er uns Menschen eine Mutter gab!
„Siehe, deine Mutter!“
Es war um die neunte Stunde. Wir sagen heute: am frühen Nachmittag. Da legte sich plötzlich Finsternis über die hellleuchtende Mittagssonne. Es wurde kalt und dunkel an diesem warmen Sonnentag. Die vielen, die mit Lärm vor die Stadtmauern Jerusalems hinausgezogen waren, um den letzten Akt des Schauspiels auf Golgatha mitzuerleben, kehrten still und verstört nach Hause zurück. Draußen bei den drei Kreuzen stand noch die römische Wache. Und zu Füßen des mittleren Kreuzes ein paar traurige Menschen. Das war nicht die Stunde, um viele Worte zu machen.
In „Seiner Stunde“, der heiligsten und größten Seines Lebens, hat unser göttlicher Erlöser Jesus Christus viel geschwiegen. Aber die wenigen Sätze, die Er in dieser Stunde gesprochen hat, sind umso inhaltsreicher. Sie sind noch von keinem menschlichen Denker vollends ausgeschöpft worden. – Gerade hob Er an, wieder ein solches Wort zu sagen. Er blickte auf eine Frau, die unter dem Kreuz stand, und auf einen Seiner Jünger, der Ihm treu geblieben war, und sprach: „Sohn, siehe da, deine Mutter.“ Dann schwieg Er wieder. Und der angesprochene Jünger hat nicht geantwortet. Auch die Frau, die gemeint war, hat nichts gesagt. Und doch war soeben ein großes Wunder geschehen. Ein Wunder, das nicht nur einen beschenkte!
Ein Wunder, das Gott mit unendlicher Sorgfalt vorbereitet hatte, weil es Ihm so wichtig erschien: daß den Menschen eine Mutter gegeben werde. – Aber wie hat Gott dieses Wunder gewirkt? Wie hat der göttliche Künstler gearbeitet? – Um dem Meister über die Schultern schauen zu können, müssen wir unsere ganze Ehrfurcht wecken. Wenn wir daran denken oder gar darüber sprechen wollen, so dürfen wir nur mit größter Aufmerksamkeit und Behutsamkeit den Weg der Führung und der Fügungen Gottes nachgehen.
Die Wahl der Materie
Wie bei jedem Kunstwerk ist die Wahl des Materials die erste maßgebliche Entscheidung. Meisterwerke werden nicht aus billigem, minderwertigem Zeug hergestellt. Deshalb hat Gott Selbst eingegriffen und durch einen wunderbaren und einzigartigen Akt Seiner Gnade einen Menschen geschaffen, so rein, so unverdorben, so makellos, so „voll der Gnade“, wie es zuvor keinen gegeben hat; eine unbefleckte Jungfrau, wie es in alle Ewigkeit keine, auch nur im Ansatz vergleichbare, mehr geben wird. So rein, so klar ist ihr Wesen, daß sie am Nachthimmel der Ewigkeit mit zwölf Sternen gekrönt, mit dem Mond zu ihren Füßen erscheint; selbst aber derart vom göttlichen Licht durchflutet ist, daß der Ausdruck, sie sei „mit der Sonne bekleidet“, nur in schwachen Worten die Herrlichkeit ihres Anblicks wiedergibt.
Noch bevor der Schöpfer überhaupt den ersten Schöpfungstag heraufziehen ließ, sah Er bereits das vollendete Bild Mariens im Geiste vor sich; so wie der Künstler, noch ehe er den Meißel an den Marmorblock anlegt, schon im Geiste sein Meisterwerk aus dem edlen Gestein herausgeschält hat.
Die erste Form – Glaube und Hingabe
Um den Menschen eine Mutter zu geben, begann Gott Seine Arbeit mit einer Frage. – In dem kleinen, unbeachteten Dorf namens Nazareth kniete ein junges Mädchen versunken im Gebet. Sie betete um den Erlöser, den Retter der Welt, weil Maria, der jede Sünde so durch und durch fremd war, am meisten von dem schrecklichen Elend und der Not, die den Menschen aus ihrer Auflehnung gegen Gott erwuchs, gerührt wurde. Wie keine zweite erkannte sie, wie sehr die Welt die Erlösung und damit den Erlöser brauchte.
Vor die ahnungslose Jungfrau trat mit einem Mal ein Bote aus der anderen Welt, grüßte sie in staunenswerter Ehrfurcht und sagte ein geheimnisvolles Wort: „Der Herr ist mit dir.“ So hatte Gott stets gesprochen, wenn Er mit einem Menschen große Pläne verfolgte. Zu Moses, zu David, zu den großen Vorfahren ihres Volkes. Und auch mit Maria hatte Gott große Pläne. Der Bote deutet es an: Sie soll Mutter des ersehnten Erlösers werden. Damit in Erfüllung gehen kann, was Gott schon in grauer Vorzeit beschlossen und verheißen hatte, worauf die Menschheit seit Jahrtausenden wartete, mußte Gott dem makellosen „Rohmaterial“ zuerst Glaube und Einwilligung entlocken. Maria mußte aus freiem Entschluß glauben und „Ja“ sagen.
Stille lag in der Kammer von Nazareth. Der Bote wartete auf Antwort. Mit ihm wartete der ganze Himmel in atemloser Spannung. – Wird Maria versagen, wie einst Eva? Vor der Seele der Jungfrau stand die ganze ungeheure Glaubensprobe, die ihr da zugemutet wurde. Sie, die ahnungslose junge Frau, sollte jene Frau sein, die der Schlange den Kopf zertritt, von der die alten Prophezeiungen sprechen. Sie, die keinen Mann erkennen würde, sollte dem großen kommenden König der Könige und Herrn der Herren das Leben schenken. Sie, die Unbekannte, Unbeachtete, sollte Mutter jenes Königs sein, der zugleich leidender Gottesknecht und Mann der Schmerzen heißen würde. Sie dachte nach – in aller Stille.
Maria, die Welt wartet auf ihren Erlöser, weil sie randvoll ist an Elend und Sünde! Gott wartet auf Antwort, weil Er sich erbarmen möchte. Eine Antwort auf ein bloßes Wort eines geheimnisvollen Boten. Eine Antwort, die eine ganze Zukunft festlegen würde. Eine Zukunft, die noch ganz rätselhaft und dunkel vor ihr stand. Gott wartete auf ihr bedingungsloses „Ja“. – Warum hatte Gott sie gefragt? Warum so dunkel? Weil Maria glaubensfroh und vertrauensvoll werden sollte, ein Meisterwerk Gottes eben. Ihr übernatürlicher Glaube sollte sichtbar werden, genauso ihre vertrauensvolle Hingabe an Gott. Der Bote half werbend: „Denn für Gott ist kein Ding unmöglich.“
Eine Mutter muß glauben können, auch wenn alle anderen anfangen zu zweifeln, sonst haben die Kinder keinen mehr, bei dem sie stets sichere Zuflucht finden. Eine Mutter muß ganz Gott hingegeben sein, auch wenn alle anderen versagen und anfangen zu hadern und zu murren wider Gottes geheimnisvolle Ratschlüsse, sonst finden verlaufene Kinder nie mehr heim zu Gott. Wenn sie aber Mutter aller Menschen sein soll, dann muß sie grenzenlos sein im Glauben und in der Opferbereitschaft. Darum hat Gott sie gefragt. Darum wartete der Bote auf Antwort.
„Siehe, ich bin die Magd des Herrn“, klingt es mit einem Mal von den Lippen der Jungfrau Maria. Es ist ihr schlichtes Glaubensbekenntnis, ihre freie Einwilligung in alle Pläne Gottes, die noch im verborgenen Dunkel der Zukunft liegen. Sie gehört nun ganz Gott, ist als Magd restlos Gottes Willen hingegeben.
Die Züge der Liebe und des Erbarmens
Dann ist Gott ihr Kind geworden. Er hat Maria zum lebendigen Tabernakel gemacht. Der Sohn Gottes ist herabgestiegen in den Schoß der Jungfrau. Aber kein ewiges Licht mahnte die Menschen damals: „Hier wohnt Gott!“ Ihr Leben blieb verborgen und leidgeprüft. Die Reinste mußte um ihre Ehre bangen, weil Joseph lange nicht wußte, wie er mit dem wunderbaren Geheimnis umgehen sollte. Die Gesegnete mußte nach Bethlehem wandern und sich dort, von Tür zu Tür ziehend, abweisen lassen. So, wie es eben armen Leuten ergeht, die niemand haben will. In einem Stall, bei den Tieren, kommt schließlich das göttliche Kind zur Welt. Armselig muß sie es auf Stroh betten. Ihr Glaube betet Gottes Sohn, den Sohn des Allerhöchsten, an, obwohl sich ihrem Auge nur ein frierendes, wimmerndes Menschenkind darbietet.
Die große Welt draußen geht darüber hinweg, als sei nichts geschehen. Maria aber, trauernd ob all der Armut, voll Wehmut, daß sie dem Kind nichts zu bieten hat, betet an. Am Glauben der Magd des Herrn und am Mitleid ihres Frauenherzens entzündete sich erstmals eine Mutterliebe von grenzenloser Tiefe!
Wenn Gott die Berufung zur Mutter gibt, wenn Gott die Berufung gibt, zu sorgen, dann weckt Er zugleich im Herzen der Frau einen ganzen Strom sorgender Liebe. Wenn Gott aber einer Mutter ein Schmerzenskind schenkt, dann weckt er mit der fürsorgenden Liebe, ja, mit der doppelt starken Liebe zugleich auch das Erbarmen. Die Mutter des Sorgenkindes muß ja unerschöpflich reich sein für das arme Kind, das sich selbst oft die schwerste Last ist. Wenn aber Gott einer Mutter das göttliche Kind schenkt, dann wird diese Liebe über alles Begreifen gesteigert. Dann haben wir jene einzigartige Mutter, die im Übermaß ihrer Liebe ihr Kind anbeten durfte. Wenn aber dieses Kind in Armut und Not nur eine Mutter hat, wenn dieses Kind zugleich durch Seine Not alle anderen segnet und dadurch ihre Not erträglich macht, dann gibt es im Herzen dieser Mutter einen solchen Zusammenklang von Mutterliebe, tiefem Erbarmen und heiliger Bewunderung, dann kommen wir ahnend der Liebe Mariens nahe.
Gott wollte den Menschen eine Mutter geben. Eine Mutter, die einen unendlichen Reichtum an Liebe und Erbarmen braucht für alle auf Abwege geratenen, in die Fallstricke der Sünde verstrickten, von der Welt verachteten Kinder; zu der alle ihre Zuflucht nehmen können, auch die Ärmsten. Darum ist Er ihr Kind geworden und wurde es in der Not von Bethlehem. Während Gott diesen Zug ihrer Mutterschaft herausarbeitete, hatte Maria „Ja“ gesagt zu aller Armut und Not.
Die Züge der Milde und der verzeihenden Güte
Dann wurde die Gottesmutter in die Leidensschule genommen. Der Reichtum der Heiligen Nacht ersetzte bei weitem die Armut im Stall von Bethlehem. Aber dann ist Maria, gemäß der Sitte des Gesetzes, die zwei Wegstunden nach Jerusalem hinaufgezogen. Wie jede andere Frau hatte sie ihr Kind in die Hände des Priesters gelegt, damit er es dem himmlischen Vater aufopfere. Gott nahm ihr Opfer an und würde sie beim Wort nehmen. Deshalb kam an jenem Tag der Heilige Geist über den greisen Simeon, der sie durch sein Prophetenwort wissen ließ, daß das Schwert der Schmerzen ihre Seele durchdringen werde. Was damit gemeint war, blieb wieder im Dunkeln. Doch schon bald sollte sie es erfahren. Neid, Unrecht, Haß, Verfolgung, Todesangst waren damit gemeint.
Eines Nachts wurde sie aufgeweckt: „Wir müssen fort!“ Immer nach Süden führt der Weg ins ferne Ägypten. Am Horizont verschwand das Land, das ihre Heimat war. Vor ihnen dehnten sich die scheinbar endlosen Schrecken der mörderischen Wüste aus. Das Land, dem sie zuwandern, war fremd, ungastlich und gottlos. Wenn Joseph in sternenklaren Nächten schweigend den Weg suchte, wenn Maria beim Heulen der Schakale schaudernd das Kind an ihr Herz drückte, dann konnten die Gedanken zurückwandern zu dem, der daran schuld war: zu dem grausamen Kindermörder von Bethlehem. Aber Maria durfte nicht bitter werden. Nicht beim Gedanken an Herodes, als sie, fern der Heimat, am Nil kümmerlich ihr Leben fristeten, und auch nicht, als sie nach Jahren auf dem Heimweg in Bethlehem immer noch Gefahr spürten. An der Seite des göttlichen Kindes durfte keine Bitterkeit, kein Groll und kein böser Gedanke aufkommen. Nicht einmal, wenn ihrem Kind Unrecht geschah. Damals wurde das Herz Mariens weit und verständnisvoll. Sie hatte zu allem „Ja“ gesagt und ließ sich von Gott formen.
Eine Mutter darf nie bitter werden. Wie sollen die Kinder sonst edelmütig und selbstlos heranwachsen? Wie sollen sie lernen, nicht zu hassen und zurückzuschlagen? Wie sollten sie sonst das Verzeihen, den Langmut, die Geduld bis hin zur Feindesliebe lernen? Maria aber sollte allen Menschen den Haß aus der Seele nehmen können. Zu ihr sollten einmal die Sünder, die keinen anderen Heimweg mehr finden, ihre Zuflucht nehmen können. Und deshalb muß sie immer noch unerschöpflich sein an Milde und Güte. Darum hat Gott sie in die Leidensschule genommen. Und sie hat durch die Prüfungen ihre überragenden mütterlichen Tugenden unter Beweis gestellt.
Der Zug beharrlicher Geduld
Die Laufbahn durch die Leidensschule ist lang und vielfältig. Gott hat weiter an ihr gefeilt und gearbeitet. Es sollte ja ein Meisterwerk werden. So lange nahm Er sie in die Schule des Leidens, bis ein Meer der Schmerzen über sie gekommen war. Maria mußte warten lernen. In Ägypten schmeckte zwar das Brot der Fremde bitter. Aber man spürte wenigstens: Das war kein gewöhnliches Kind. Es versetzte Könige in Unruhe.
Dann aber spielte vor dem Haus von Nazareth ihr kleiner Junge genauso wie die anderen Kinder auch. Der Heranwachsende half in der Werkstatt, genau wie alle anderen in Seinem Alter. Als Joseph gestorben war, erwarb Er mit Seiner Hände Arbeit das tägliche Brot für den kleinen Haushalt. Maria blickte hinüber in die Werkstatt, sah den emsigen Fleiß, sah die Schweißtropfen, welche die Anstrengung dem schweigenden jungen Arbeiter auf die Stirn trieb. Sie sah die schwieligen Hände und verglich das, was sie sah, mit dem, was sie aus den heiligen Psalmen-Gesängen und den Propheten wußte. Keine Entsprechung, keine Ähnlichkeit, keine Veränderung – dreißig Jahre hindurch! Dreißig Jahre übte die Mutter beharrliche Geduld. Sie glaubte und glaubte, mit der bangen Gewißheit im Herzen, daß das alles einmal böse enden werde.
Aber eine Mutter braucht Geduld. Und die Mutter des erlösten Menschengeschlechtes, zu der einmal alle Sorgenden und Gehetzten und Überreizten ihre Zuflucht nehmen würden, die brauchte einen großen Reichtum an Geduld. Darum nahm sie Gott in die Schule des Sich-Geduldens. Maria sagte „Ja“.
Die letzte Vollendung: Eine Mutter für alle
Langsam hatte der göttliche Künstler schon etwas anderes begonnen. Viel hatte Gott schon an ihr gearbeitet. Sie ist glaubensstark, reich an Liebe in den verschiedensten Ausprägungen. In der Magd des Herrn ist eine zunehmend feinere Gnadenschönheit herangereift, von der wir nur stammeln, wenn wir die Worte sagen: Unbefleckt Empfangene und makellos Gebliebene. Aber bisher gehörte der ganze Reichtum Gott allein. Und doch soll sie die Mutter der Menschen werden. Eine echte Mutter ist reich für alle, auch für Fremde. Aber Mutter ist sie doch nur für ihre Kinder. Maria ist reich für alle, aber ob sie wirklich allen Mutter sein kann? Das wäre allerdings ein Meisterwerk Gottes. Und Gottes Hände haben dieses Meisterwerk weiter geformt. Maria hat unter dem Zugriff des göttlichen Künstlers entsetzlich gelitten. Gott löste sie von ihrem Kind, damit jene geheimnisvolle Liebe zum göttlichen Kind als Mutterliebe für alle Menschen frei werde. Und abermals mußte Maria „Ja“ sagen – ihr größtes „Ja“. Nicht nur einmal, sondern immer wieder!
Es scheint, als habe der göttliche Künstler selber gezaudert. Dreimal hat Er den Meißel angesetzt, als fürchtete Er, Sein Werk könne unter Seinen Händen zerbrechen, wenn Er die nötige Kraft in einen einzigen Schlag gelegt hätte. Deshalb drei Schläge für die Vollendung des Meisterwerkes.
a) Nicht mehr alleine ihr Kind
Das erste Mal ging Maria am Ölberg von Zelt zu Zelt und suchte ihr zwölfjähriges Kind. Nicht fündig, suchte sie mit steigender Sorge weiter in den Straßen der Stadt und in den Häusern. Ihre Gedanken durchzuckten Schreckensbilder. Wie wird sich das Kind nach seiner Mutter sehnen? Was wird es während der letzten drei Tage durchgemacht haben? Und auf einmal sah sie den Jungen. Ruhig und fest, fast heiter stand Er mitten unter den Gelehrten im Tempel, fragte und gab Antwort, so als entbehrte Er gar keiner Mutter. Als sie Ihn, noch immer vor Schmerz zitternd, fragte: „Kind, warum hast Du uns so getan?“, da hörte sie eine herbe Antwort: „Warum habt ihr Mich gesucht? Wußtet ihr nicht, daß ich in dem sein muß, was Meines Vaters ist?“ Ja, jetzt wußte sie, daß Er einem anderen mehr gehörte als ihr. Sie hatte Ihn vor zwölf Jahren im Tempel dem ewigen Vater aufgeopfert. Daß Er sie so bald schon beim Wort nehmen würde, hatte sie vielleicht nicht erwartet. Zunächst verstand Maria nicht. Doch was wollte sie tun, als wiederum „Ja“ zu sagen und damit zufrieden zu sein? Jesus ging mit ihr und war untertan. Und doch war es nicht mehr wie früher. Sie mußte immer mit dem Willen und dem Eingriff eines Höheren rechnen. Jesus war nicht mehr alleine ihr Kind. Das war der erste Ansatz des göttlichen Meißels.
b) Andere sind Ihm Mutter
Nach Jahren gab es doch einen Wechsel im beschaulichen Leben von Nazareth. Eines Tages legte Jesus Säge, Hammer und Hobel beiseite, trat vor das Volk und begann zu predigen. Die Menschen horchten auf. Von den großen Städten des Nordens bis zu den Lagerfeuern der Wüste im Süden strömten sie zu Ihm. Er wirkte Wunder, daß Sein Ruhm ins Unermeßliche stieg. Maria war still zurückgeblieben. Das ist das Los der Mütter. Sie brauchte nichts zu sehen. Sie glaubte ohnehin.
Aber als dunkle Gerüchte an das Ohr der Gottesmutter drangen, da wollte sie Ihn wieder einmal sehen. So stand sie eines Tages vor dem Haus, in dem Er lehrte. Hinein konnte man nicht mehr; und Er sprach lange. Drinnen machte Ihn einer darauf aufmerksam: „Deine Mutter steht draußen.“ Dieses Mal brach Er nicht ab, wie damals im Tempel. Er ging nicht zu ihr. Er deutete mit Seiner Hand auf Seine Apostel und sagte: „Wer ist Meine Mutter …? Wer den Willen Meines Vaters tut, der ist Mir … Mutter.“ Maria verstand. Jetzt hatte sie weniger Rechte. Jetzt ist Er für die anderen da. Gewiß hat es Maria verstanden, aber was wird sie doch gelitten haben, als Er andere Mutter nannte?
Ja, und lag in Seinen Worten nicht schon eine Andeutung an sie: Meine Brüder und Schwestern, die den Willen meines Vaters tun, haben Anrecht auf deine Mutterliebe? Das war der zweite Ansatz des göttlichen Meißels.
c) Maria, die Mutter aller Jünger Jesu
Dann hatte ihr eines Morgens der jüngste Seiner Apostel, der hl. Johannes, aufgeregt sagen müssen: In der Nacht haben sie Ihn verhaftet und verurteilt. Schrecklich sollen sie Ihn zugerichtet haben. Judas Iskariot hat Ihn verraten; Petrus Ihn verleugnet; die Apostel sind fast alle davongelaufen, und von der ganzen johlenden Menge, die mit nach Golgotha hinauszog, glaubte kein einziger mehr an diesen zerschundenen Messias.
Kein einziger? Doch, die Mutter! Sie sah Ihn am Weg. Und in Seinen Augen las sie: Sie durfte Ihm nicht helfen. Mutter, du mußt verzichten, ich gehöre den Menschen, meinen Brüdern. Für sie trage ich das Kreuz. Und Maria fügt sich schweigend und geht den Kreuzweg mit. Das war der dritte Ansatz des göttlichen Meißels.
Dann hatte sie unter dem Kreuz ihres Sohnes gestanden. Als Er Sein priesterliches Ganzopfer darbrachte, wurde es von der Hand des himmlischen Vaters zur Erlösung angenommen. Schonungslos wurde ihr das Kind genommen. Nicht vom Allerhöchsten, nicht von den Feinden ihres Sohnes. Daß Er starb, das war nicht das Schwerste, aber daß Er Seine Mutter weggab. Daß Er zu ihr sagte: „Frau, siehe, dein Sohn“ und zu dem Jünger: „Siehe, da deine Mutter.“ Sie sollte „Ja“ sagen zu Seinem Sterben und den Menschen Mutter werden. Maria hat es getan. Da sind wir ihre Kinder geworden. Gott hatte Sein Meisterwerk vollendet. Wir haben eine Mutter; eine in jeder Hinsicht vollkommene Mutter!
Gottes Arbeit an den Kindern Mariens
Wie an Maria, so arbeitet Gottes Meisterhand zeitlebens auch an jedem einzelnen von uns – damit wir ein Kind Mariens werden. Auch wir müssen hierfür immer wieder „Ja“ sagen. Stellen wir in diesen Wochen unter Beweis, wie weit wir es schon gebracht haben, Maria, wie einst der hl. Apostel Johannes, als Mutter bei uns Aufnahme zu schenken. Lesen wir doch vom Lieblingsjünger: „Und von dieser Stunde an nahm er sie zu sich“; in sein Haus, in sein Leben, in sein Herz – als seine Mutter. Amen.