Karfreitag
Der Blick auf den Gekreuzigten
Geliebte Gottes!
Wenn ein Mensch stirbt, ereignet sich Großes. Da reichen sich Zeit und Ewigkeit die Hand. Ein Hauch aus der anderen Welt durchweht die Herzen aller Anwesenden, wenn ein Sterbender seinen Geist aufgibt. Jeder hält den Atem an, um das leise Flüstern des Jenseitsboten zu hören. Das letzte Heben und Senken der röchelnden Brust, der letzte Hauch der erbleichenden Lippen, der letzte Seufzer der Menschenseele, die gleichsam ihre Flügel spannt, um sich in die Ewigkeit hinfortzuheben. Wer solches schon einmal persönlich an einem Sterbelager miterlebt hat, dem bleibt es unvergeßlich. Solche Augenblicke gehen einem nach. Das läßt uns nicht mehr los.
So war es auch am Karfreitag, als unser göttlicher Erlöser Seine Seele in die Hände des Vaters befahl. Im Evangelienbericht heißt es: „Das Volk stand da und schaute zu“ (Lk. 23,35). Und gewissermaßen richten sich die Blicke aller Generationen aus der Ferne aller Jahrhunderte auf den Kalvarienberg, empor zum Kreuz, auf den sterbenden Heiland. Die Patriarchen und Propheten des Alten Bundes stehen in ferner Vergangenheit. Und auch wir Nachgeborenen blicken voll Ergriffenheit auf das gewaltige Schauspiel, wie der Heiland stirbt, aus der Entfernung der christlichen Jahrhunderte. Drei Dinge sehen wir:
- Christus stirbt in blutiger Qual
- Christus stirbt in göttlicher Majestät
- Christus stirbt in heiliger Erlöserliebe
In blutiger Qual
Was zunächst ins Auge sticht, ist die Tatsache: Unser göttlicher Erlöser hatte kein Sterbelager. Er, der keine Wiege und keine Herberge bei Seiner Geburt vorfand, der zeitlebens keinen Stein hatte, auf den Er Sein Haupt hätte legen können, Er hatte auch kein Sterbelager. Nicht liegend ist Christus gestorben, sondern hängend und stehend am Pfahl des Kreuzes.
Sonst ist es der natürliche Lauf der Dinge, daß Krankheit oder die Schwäche des Alters den Menschen auf das Krankenbett niederstreckt. Er kann sich einfach nicht mehr aufrecht halten. Er bricht zusammen. Das Liegen ist das erste bei einem ernsten Leiden. Es vollendet sich im Todesleiden.
Schauen wir auf zum Kreuz! Unser Heiland hängt. Er hängt zwischen Himmel und Erde. Er hängt angenagelt an Händen und Füßen. Er hängt, als das Blut schon größtenteils aus Seinen heiligen Wunden geflossen war. Er hängt noch, als der Todeskampf herannaht. Er hängt bis zum letzten Atemzug. Und „das Volk stand da und schaute zu“. Welch ein schrecklicher Anblick, welche qualvolles Sterben!
Statt eines weichen Lagers der harte Kreuzesbalken. Statt eines Kissens die Dornenkrone. Statt zarter, helfender Hände die Nägel, die ihm tobende Schmerzen in all seinen Gliedern verursachen. Statt eines Sterbekleides bedeckt Ihn allein der rote Purpur Seines Blutes. Statt kräftigender, nahrhafter Flüssigkeit flößt man ihm Galle und Essig ein. Statt zu geben und zu helfen, wie es sonst am Lager eines Sterbenden selbstverständlich ist, nehmen sie ihm das Letzte, was er hat, und werfen sogar noch in Seiner Gegenwart das Los über Seine Kleider. Sonst suchen die Umstehenden dem Sterbenden die letzte Stunde zu erleichtern. Hier verbittern rohe Soldaten, grausame Todfeinde Seine letzten Augenblicke. Die, welche Ihm helfen wollen, dürfen es nicht. Sonst sprechen liebevolle Seelen dem Sterbenden Trost zu. Hier ergießen sich Spott und Hohn und Fluch über den duldenden Gottesknecht. Sonst kühlt sich der Haß der Feinde, wenn das Opfer wehrlos in den letzten Zügen liegt. Angesichts des jämmerlichen Elends ist man eher zur Versöhnung und zum Vergeben geneigt. Hier erfüllt höllisches Hohngelächter bis ans Ende die Seele Christi mit äußerster Bitterkeit.
Welch ein Sterben! Der Kreuzestod galt der damaligen Zeit als die verächtlichste Form, um aus dem Leben zu scheiden. Marcus Tullius Cicero beschreibt die Kreuzigung in seinen „Reden gegen Verres“ als „grausamste und schimpflichste Todesart“ (5,64). Vom Scheitel bis zur Fußsohle ist alles vom Schmerz durchwühlt: das dornengekrönte, blutüberströmte Haupt; die in tiefen Höhlen brennenden und blutverklebten Augen; die gleich einer Scherbe vertrocknete Kehle und Zunge (vgl. Ps. 21,16); die zerschundenen Schultern, der von den grausamen Geißelhieben zerfleischte Leib; die gewaltsam verrenkten Arme und Beine; die durchbohrten Hände und Füße.
Das Kreuz ist eine Folter, die den ganzen Leib des Gekreuzigten in tobende Qualen bettet. Erst recht ist die Seele gefoltert durch den härtesten Undank, den bitteren Haß, den schimpflichen Hohn.
Welch ein Sterben! Ja, blicken wir auf! Wenden wir uns nicht davon ab! Schauen wir zu! Schauen wir, was die Sünde angerichtet hat an dem, der selber keine Sünde begangen hat; an dem, der für unsere Sünden leidet! Hier wird jede Hülle, mit der man so gern die eigenen Sünden bemäntelt und zu verbergen sucht, weggezogen. Hier fällt jede Schminke ab, mit der man die Sünde so oft zu entschuldigen und zu beschönigen sucht. Durch die Worte des Propheten ruft uns der Gekreuzigte zu: „Ihr alle, die ihr vorübergeht, bleibt stehen und seht, ob ein Schmerz gleich sei Meinem Schmerze!“ (Klgl. 1,12).
In göttlicher Majestät
Hören wir, was das Evangelium weiter von dieser Aufschau zum Kreuz berichtet: „Alles Volk, das dabei war und zuschaute, sah, was geschah. Sie schlug sich an die Brust und kehrte um.“ (Lk. 23,43). Es war für viele von ihnen also kein fruchtloses Schauen auf den Gekreuzigten. Sie hatten nicht bloß die blutigen Qualen dieses Sterbenden gesehen, sondern auch seine furchtbare Majestät erfahren. Dieses Sterben war so groß, so überwältigend, so wundersam, daß sie in tiefster Seele ob ihrer Tat erschüttert wurden und reumütig heimkehrten.
Es waren die Naturgewalten, die das erschütternde Bild des sterbenden Erlösers einrahmten. Das unscheinbare Kreuz auf dem Berg wird mit einem Mal zum Mittelpunkt des Weltgeschehens. Die leblose Schöpfung huldigt der sterbenden Majestät ihres Herrn, ihres Schöpfers, ihres Gottes. Denn alles, was ist, ist durch den gekreuzigten Heiland geworden und nichts, was geworden ist, wurde ohne Ihn. Selbst das sonst unerbittliche Totenreich entsandte seine Opfer zur Huldigung für den Herrn des Lebens, der für uns in den Tod gegangen ist. Die Sonne verhüllte ihr Angesicht vor dem Frevel dieses Gottesmordes. Die Erde wurde heftig erschüttert und gab ein angsteinflößendes Grollen von sich. Die Felsen, weicher als die Menschenherzen, zeigen ihr Mitgefühl und bersten mitten entzwei; nicht den Gesteinsadern entlang, sondern quer durch den Fels hindurch, wie man heute noch in Jerusalem in der Grabeskirche sehen kann. Ein Vorgang, der nicht auf natürliche Weise erklärt werden kann. Gleichzeitig zerreißt im Tempel der schwere Vorhang vor dem Allerheiligsten. Der Alte Bund huldigt dem Herrn des Neuen Bundes.
Um die blutige Gestalt am Kreuz ist trotz aller Qual eine wundersame Ruhe, eine überirdische Hoheit ausgegossen, ein Abglanz aus höheren Welten umstrahlt sie. Der zertretene Wurm am Kreuz erweist sich als König der Ewigkeit, als Richter über ewige Schicksale. Der arme Entblößte verschenkt eine ewige Krone. Zur Rechten und zur Linken des Kreuzes die gleiche Scheidung und Entscheidung in Dismas und Gesmas; genauso, wie sie derselbe Gekreuzigte einst als Weltenrichter vornehmen wird.
Der scheinbar von übermächtigen Feinden Besiegte ruft endlich als herrlicher Sieger über Sünde, Tod und Hölle aus: „Es ist vollbracht! In Deine Hände befehle ich Meinen Geist.“ In Seinem Sterben erweist Er Seine Gottheit, wie Er sie in Seiner glorreichen Auferstehung vollends unter Beweis stellen wird: „Niemand nimmt mir Mein Leben. Ich gebe es freiwillig hin.“ Das ist wahr geworden im Augenblick Seines Todes, den Er selbst bestimmt hat, indem Er Seine Seele durch eigenen Befehl vom Leibe schied und in die Hand des Vaters befahl. Wenn dieser Satz zum Erweis Seiner göttlichen Machtvollkommenheit wahr geworden ist, dann liegt es nahe, daß auch ein anderer, sich unmittelbar anschließender Ausspruch Christi wahr werden wird. Dieser lautet: „Ich habe Macht, mein Leben hinzugeben, und ich habe Macht, es wieder zu nehmen. Diesen Auftrag habe Ich von Meinem Vater empfangen.“ (Joh. 10,18). Jetzt ist der erste Teil vollbracht. Er hat Sein Leben hingegeben, nicht weil Er mußte, sondern weil Er es wollte!
Und das zuschauende Volk? Wir haben gehört: Es schlug sich an die Brust. Der Hauptmann rief aus: „Wahrlich, dieser Mensch war Gottes Sohn.“ (Mt. 27,54; Mk. 15,39). Auch seine Soldaten müssen es erschüttert eingestehen: Wahrlich, dieser war der Sohn Gottes. – Eine Macht ist in ihnen wach geworden, die vorher im Taumel sinnenverwirrter, haßdurchglühter Leidenschaft geschwiegen hatte, die Macht des Gewissens. Eine beklemmende Stille herrschte auf Golgotha, wie nach einem verheerenden Sturm. Vor kurzem noch Wutgeschrei und Anklagen, haßerfüllte Lästerungen, blutiger Hohn, so wie tosende Meeresfluten gegen einen Felsen schäumen. Nun Totenstille: „Da schlugen sie an ihre Brust.“
Mögen auch unsere Gewissen heute, wenn in wenigen Augenblicken das Kreuz enthüllt wird, erschüttert werden. Mögen unser Innenleben, das leidenschaftliche Haßen und Lieben, das sinnverwirrende Begehren und sich Sorgen um Eitelkeiten, das rachsüchtige Zürnen und blinde Anklagen, das freventliche Urteilen und neidische Beargwöhnen; möge all das laute, alles übertönende Getöse auf dem Grunde unserer Seele zum Verstummen gebracht werden. Ja, möge beim Anblick der sterbenden Majestät unseres göttlichen Richters unser Gewissen erwachen! Die Erde bebte und unsere Seele sollte reglos und unbewegt bleiben? Die Felsen zersprangen und unser Herz sollte hart und unerweichlich bleiben? Die Sonne trauerte und unser Angesicht sollte aus Gleichgültigkeit die zahllosen eigenen Sünden nicht beweinen wollen? Die Toten standen auf, und wir sollten uns nicht durch Reue, Beichte und würdige Buße vom Tode der Sünde erheben und uns zu einer ernsten und dauerhaften Umkehr aufraffen?
In heiligster Erlöserliebe
Vergessen wir nicht: Alles hat Jesus deinetwegen und meinetwegen gelitten. Er hat es aus unendlicher Liebe zu dir und zu mir getan. Ja, wie Er zu einer heiligen Jungfrau sprach: „Wenn es nötig wäre, nur um deine Seele zu erlösen, alles nochmals zu erleiden, Ich würde es tun!“ So spricht die Liebe des Gekreuzigten ganz persönlich zu jedem Einzelnen von uns: „Für dich habe Ich gelitten. Für dich allein, geliebte Seele.“
Die Welt erschuf der Herr mit einem Wort. Uns zu erlösen, kostete Ihn mehr. „All Sein Blut hat Er für dich hingegeben“, sagt der hl. Augustinus. Obwohl schon ein einziger Tropfen genügt hätte, wollte Er auch den letzten Tropfen Seines Herzblutes opfern, um unsere Liebe zu erobern.
Blicken wir noch einmal auf zum Kreuz! Die ganze Gestalt des Gekreuzigten predigt Seine unendliche Liebe. Seine Arme sind ausgebreitet, dich zu umfangen. Die Füße sind befestigt, um dich nie zu verlassen. Das Herz ist geöffnet, um dich darin aufzunehmen. Das Haupt ist zum Kusse geneigt. Alles an Ihm spricht die Sprache der Liebe. Hoch auf dem Berg thront Er, allen sichtbar – dem Patriarchen Abraham, der sich bei Seinem Anblick freute, genauso wie uns und selbst dem letzten Menschen, der einst geboren werden wird. Allen sichtbar, allen zugänglich sind Seine Arme ausgebreitet, um in göttlicher Liebe gleichsam die ganze Welt zu umfassen.
Liebe sind seine letzten Worte: Verzeihende Liebe gegenüber Seinen Feinden; erbarmende Liebe zur Menschheit bis herab zum ärmsten Schächer, sorgende Liebe zu Seiner Mutter; hingegebene Liebe zu Seinem Vater.
Noch höher ist die Liebe von Kalvaria als die von Bethlehem. Über Bethlehem steht geschrieben: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, daß er Seinen eingeborenen Sohn dahingab.“ (Joh. 3,16). Die volle Hingabe des Sohnes erfolgte aber erst am Kreuz von Golgotha. Über diesem Ort scheinen noch größere Worte auf; nämlich: „Er [der himmlische Vater], der sogar Seinen eigenen Sohn nicht geschont, sondern Ihn für uns alle [in den Tod] dahingegeben hat, wie hat Er uns nicht mit Ihm alles geschenkt?“ (Röm. 8,32). In Bethlehem kam Er in dunkler Nacht. Hier auf Golgatha starb Er am hellen Mittag. Die Sonne am Himmel war zwar verfinstert. Aber die Sonne Seiner Liebe strahlte im Zenit.
„Der Jünger, den Jesus liebte“
Nachdem wir so genau auf den Gekreuzigten hingeschaut haben, fällt uns noch ein letztes auf. Nicht nur wir schauen auf Ihn, sondern der gekreuzigte Heiland schaut auch auf uns. Das Evangelium berichtet uns von dem letzten Blick Jesu und wen Er dabei gesehen hat. Da heißt es: „Als Jesus seine Mutter und den Jünger, den Er liebte, stehen sah.“ (Joh. 19,26). Er blickte vom Kreuz herab auf Seine heiligste Mutter und auf „den Jünger, den Er liebte“. Dieser Jünger ist uns schon gestern im Abendmahlsaal begegnet, als er an der Brust des Heilandes ruhte. Und schon gestern haben wir auf die mystische Bedeutung hingewiesen, warum der hl. Evangelist Johannes sich selbst in den bedeutendsten Augenblicken nicht mit eigenem Namen nennt, sondern stattdessen die geheimnisvolle Umschreibung „den Jünger, den Jesus liebte“ gebraucht. Und dieser Grund ist, daß jeder, der sein Evangelium liest, sich selbst an die Stelle des Lieblingsjüngers versetzen soll. Jeder, der mit ernstem, aufrechtem Herzen in die Nachfolge Christi eingetreten ist, und erst recht wer Ihm bis unter das Kreuz nachgefolgt ist, darf seinen eigenen Namen an diese Stelle setzen. Denn auch er ist „der Jünger, den Jesus liebte“. Indem Jesus also vom Kreuze herab auf den Lieblingsjünger schaute, da blickte Er auf jeden von uns. Wenn wir der Jünger sind, den Jesus liebt – und wie wir an Seinem für uns vergossenen Blut erkennen, sind wir von Ihm geliebt – wenn wir also der Jünger sind, den Jesus liebt, dann schaute Er in jenem Augenblick auf jeden einzelnen von uns, ganz persönlich.
„Siehe, deine Mutter.“
Und was sagt Er? „Da sprach Er zu Seiner Mutter: ‚Weib, siehe da, dein Sohn.‘ Hierauf sprach er zu dem Jünger: ‚Siehe, deine Mutter.‘“ (Joh. 19,26 f.). Was für eine Auszeichnung! Wie sehr ehrt doch der Heiland den Ihm in Treue unter das Kreuz nachfolgenden „Jünger, den Er liebt“. Er gibt ihn Seiner heiligsten Mutter Maria zum Sohn und macht ihn auf diese Weise zu Seinem Bruder. – Ja, unter dem Kreuz werden wir Adoptivbrüder Jesu und damit auch Adoptivkinder der Jungfrau und Gottesmutter Maria.
Das geschah damals am Karfreitag. Das erneuert sich jedes Mal, wenn wir bei der Feier des hl. Meßopfers unter das Kreuz treten. Und auch in den leidvollen Stunden unseres Lebens, wenn wir dem Opfer des Heilandes nicht nur beiwohnen, sondern selber als Brüder Christi und Glieder Seines mystischen Leibes auch selber an Sein hl. Kreuz herangeführt werden, um unseren Anteil daran auf uns zu nehmen. Auch in dunkler Leidensnacht sind wir nicht auf uns allein gestellt. Nein, unter dem Kreuz Christi sind wir nie allein. Über uns sind die liebenden Arme des Heilandes weit ausgebreitet und die Liebe Seines geöffneten Herzens gesellt uns Seine heiligste Mutter Maria als mütterliche Leidensgefährtin bei.
Für uns ist das Kreuz mit seinem Leid, mit seinen Schmerzen oft dunkel und unverständlich. Wir neigen dazu, dagegen aufzubegehren, es von uns zu stoßen, es irgendwie abzuschütteln. Das rührt daher, weil wir den Sinn des Kreuzes und seine erlösende Kraft mit unseren natürlichen Sinnen nicht begreifen und verstehen können. Deshalb der Befehl an den Jünger: „Siehe, deine Mutter!“
Es ist das letzte Wort, das der Heiland an einen Menschen richtete. „Siehe, deine Mutter!“ Es ist Sein Testament. „Siehe!“ Schau auf Maria! Schau auf deine Mutter! Die Mutter ist die erste Lehrerin eines jeden Menschen. Sie zeigt uns die grundsätzlichsten Dinge. So soll Dir Maria die Lehrmeisterin in den grundlegendsten Dingen der Erlösung sein.
„Siehe, deine Mutter!“ Was siehst du? Du siehst die mitleidende Mutter. Aber sie ist nicht unter der Last ihrer Leiden zusammengesunken. „Stabat!“ Sie steht! Sie leidet mit ihrem göttlichen Sohn. Sie opfert sich selbst durch ihren göttlichen Sohn. Deshalb siehst du in ihr nicht nur die mitleidende Mutter, sondern die miterlösende Mutter. Maria ist die Miterlöserin. Als ihr Kind sollst du lernen, „Miterlöser“ zu werden. Als einzige hat sie am Karfreitag den Sinn des Kreuzes verstanden. Und deshalb ist sie unsere Lehrmeisterin. Der Blick auf sie lehrt dich, wie du die erlösende Kraft des Kreuzesopfers für dich und für andere fruchtbar machst. Der Blick auf Maria lehrt dich, wie du die hl. Messe mitfeiern und dich dabei durch Christus aufopfern kannst; wie du dich in den dunklen Stunden deiner eigenen Lebensmesse in Verbindung mit Jesus hinopfern sollst. „Siehe, deine Mutter!“ Wenn du auf sie schaust, wird sie dich lehren, unter dem Kreuz stehend auszuharren, auch wenn alles in dir und alles um dich herum dagegen spricht. Wenn die Versuchung zu sündhaftem Genuß lockt. Wenn die Mutlosigkeit lähmt und niederdrückt. Wenn das Leid zur Ungeduld reizt. Wenn die innere Bosheit zum Murren und zur Auflehnung aufstachelt. Der Blick auf die Mutter wird dich verstehen und nachahmen lehren, was der hl. Paulus an die Kolosser schrieb: „Jetzt freue ich mich in den Leiden für euch und ergänze das an meinem Fleische, was an den Leiden Christi noch aussteht, für Seinen Leib, welcher die Kirche ist.“ (Kol. 1,24). Ich leide an meinem Fleische, was am Leiden Christi als mein persönlicher Anteil daran noch aussteht. Ich trage diese Leiden für den mystischen Leib Christi für die katholische Kirche. Das können und sollen wir von Maria lernen. Eine Lektion, die gerade heute in der doch so elenden Lage der papstlosen Kirche um so notwendiger gelernt werden muß. Wir müssen Seelen werden, die an der Erlösung der heute doch so im Argen liegenden Welt mitwirken und uns selbst nach dem Vorbild Mariä durch Ihn und mit Ihm und in Ihm zu einem würdigen Opfer machen, Gott zum lieblichen Wohlgeruch.
Der hl. Johannes schildert uns jedoch auch die dazu erforderliche Bedingung, wenn er in seinem Evangelium fortfährt: „Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.“ (Joh. 19,27). Wir nehmen Maria zu uns, wenn wir sie in einer kindlichen Andacht verehren. Wir nehmen Maria zu uns, wenn wir uns ihre Tugenden insbesondere in ihren sieben Schmerzen zum Vorbild nehmen und sie darin nachahmen. Wir nehmen Maria zu uns, wenn wir ihr unbeflecktes Herz verehren. In diesem Herzen ist das Verständnis der tiefsten Geheimnisse unseres Glaubens niedergelegt. Denn mehrmals heißt es im Evangelium von der Gottesmutter: Maria bewahrte alles und erwog alles in ihrem Herzen. Das Herz Mariä ist die neue Bundeslade, in welcher alle übernatürlichen Geheimnisse und Kostbarkeiten des Neuen Bundes enthalten sind, zu finden und zu erhalten sind. Das Herz Mariä ist wie ein Buch, welches das Verständnis der göttlichen Geheimnisse in der für ein geschaffenes Wesen höchstmöglichen Weise beinhaltet. Selig deshalb, wer in dem Buche dieses Herzens zu lesen versteht. Selig, der von der Mutter lernt, das Leben Jesu mit den Augen der Gottesmutter zu betrachten. Deshalb nehmen wir Maria zu uns, indem wir „Seelen des Gebetes“ und der Betrachtung werden, die sich reich wissen in dem Besitz und in dem innerlichen Verkosten all dessen, was in dem schmerzhaften und unbefleckten Herzen unserer Mutter niedergelegt ist. Als „Jünger, die Jesus liebt“, soll es deshalb auch von jedem von uns heißen: „Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.“
Durch Sein Blut sind wir erlöst!
Schließlich wollen wir heute in innerer Erschütterung wegen unserer Schuld und doch von der unendlichen Herablassung der göttlichen Erlöserliebe unsere Hände erheben. Die Welt liegt so sehr im Argen!
Der Strom der Erlöserliebe, der sich auf Golgatha ergoß, ist nicht versiegt. Er fließt durch alle Zeiten. Wir brauchen nur zu ihm unsere Zuflucht nehmen und aus ihm schöpfen. „Gekreuzigter Herr Jesus, erbarme dich unser!“ So tönt es heute überall auf der Welt am Sterbelager des Heilandes.
In Brüssel hängt ein packendes Gemälde eines Künstlers namens Antoin Wiertz. Es zeigt Napoleon, der von sich sagte: „Was sind mir eine Million Menschen?“ Man sieht ihn, wie er auf der Insel Helena in der Verbannung dasteht, umringt von den Gestalten der Gefallenen, die er seinem Ehrgeiz geopfert hat. Anklagend, drohend recken sie ihre Hände gegen ihn empor. Entsetzen, Grauen zeigt sich dem Betrachter in den Augen Napoleons wegen der Verantwortung. – Welch ein Kontrastbild schauen wir heute! Jesus steht auf einsamer Bergeshöhe. Millionen und aber Millionen Menschen aus allen Zeiten und Sprachen und Völkern und Nationen strecken ihre Hände zu Ihm empor, aber nicht anklagend, sondern dankend, preisend, flehend. Sie beugen das Knie vor dem Kreuz und küssen den Gekreuzigten. – Napoleon sprach: „Was sind mir eine Million Menschen!“ Jesus ging jeder Seele nach, ging für sie in den Tod. Napoleon watete durch Ströme von Blut. Jesus trat die Kelter Seines eigenen Blutes (vgl. Is. 63,2 ff.), das Er für den letzten der Seinen hingab. – Jene Geister der Gefallenen auf dem Gemälde rufen: „Du bist schuld an unserem Blut.“ Der unzählige Chor der Jünger Christi ruft im Gegenteil: „Durch Dein Blut sind wir erlöst. Dein Blut ist uns Heil!“ Amen.