Von der Bestimmung des Menschen

Geliebte Gottes!

Am Beginn des neuen Jahres ruft uns die Kirche an die Krippe, um zusammen mit der jungfräulichen Gottesmutter auf das neugeborene Jesuskind zu schauen. Welche Gedanken werden der allerseligsten Jungfrau damals durch den Kopf gegangen sein? Die Zukunft lag ja für sie noch im Dunkeln. Die genauen Ereignisse, die künftigen Schicksale ihres Kindes und die sieben Schmerzen, die sie selbst wird erleiden müssen, waren Maria noch unbekannt. Nur das kostbare Blut, welches bei der Beschneidung ihres Kindes geflossen ist, und die Wunde, die Jesus dabei an Seinem Leib erlitten hatte, gaben schon ein deutliches Zeugnis von Seiner Bestimmung. Dazu war Er in die Welt gekommen, um Sein göttliches Blut zu vergießen und Sein Leben hinzugeben als Lösepreis für die Vielen.

Wenn wir am Beginn eines neuen Jahres stehen, dann geht es uns ähnlich wie der Gottesmutter, während sie an der Krippe kniete und über das Künftige nachsann. Was genau uns die Zukunft bringt, das ist uns heute noch verborgen. Doch was wir wissen können und wissen müssen, das ist die Antwort auf die Frage nach dem „Wozu“. Wir dürfen nicht einfach so in den Tag hineinleben, sondern müssen den Gebrauch der uns von Gott geschenkten Zeit auf unser Lebensziel, auf unsere Bestimmung, einnorden. Deshalb wollen wir uns heute wieder einmal die fundamentalste Frage überhaupt stellen und beantworten: Die Frage nach dem Zweck unseres Daseins. Die Frage nach dem Sinn des Lebens. Sie lautet: „Wozu sind wir auf Erden?“

Der Sinn des Lebens

Wenn kleine Kinder die Welt entdecken und all die neuen, ihnen noch unbekannten Dinge erkunden, dann sind sie gleich mit der Frage zur Stelle: „Was tut man damit?“ „Wozu dient dieses oder jenes?“ Und die Erwachsenen haben viel damit zu tun, den Zweck der Dinge zu erklären. „Wozu das Messer?“ „Zum Schneiden.“ „Wozu der Löffel?“ „Zum Essen.“ „Wozu der Kugelschreiber?“ „Zum Schreiben.“ – Mitunter mag da schon die Frage auftauchen: „Wozu bin ich auf Erden? Was soll ich hier? Was ist mein Zweck?“ In jedem Menschen wird diese Frage eines Tages aufsteigen. Sie ist ja nicht nur sehr naheliegend, sondern auch überaus wichtig.

Solange ich nicht weiß, wozu eine Sache dient, kenne ich die Sache noch so gut wie gar nicht. – Man braucht nur einem Taubstummen eine Flöte zu zeigen. Da er nicht weiß, was Töne sind, so bleibt ihm die Flöte ein Rätsel, denn er kann nicht verstehen, wozu die Flöte da ist. – Ein Mensch, der von sich selbst nicht weiß, wozu er auf der Welt ist, der ist sich selbst ein Rätsel. Und weil er sein Ziel nicht kennt, so kann er es nicht anvisieren, nicht erstreben und letztlich auch nicht erreichen. Ein Mensch, der sein Ziel nicht kennt und nicht erreicht, ist ein von Anfang an und von Grunde auf verfehltes Wesen; ein zutiefst unglückliches Wesen. Ja, ein Mensch, der auf die Frage: Wozu bin ich auf Erden? keine bestimmte, klare und vor allem richtige Antwort geben kann, der weiß eigentlich nichts, selbst wenn er präzise den Lauf der Sterne berechnen könnte, selbst wenn er die höchste Bildung besäße, alle Geheimnisse der Natur erkundet hätte und über ein Einkommen in solcher Höhe verfügte, um ein sorgloses Leben führen zu können. Begeben wir uns also auf die Suche nach einer Antwort auf diese naheliegende und wichtige Frage nach dem Sinn und Zweck unseres Daseins.

Die Güter dieser Welt

Wir kommen der richtigen Antwort näher, wenn wir zunächst einmal sagen, wo dieses Ziel nicht ist. Das Ziel des Menschen kann unmöglich hier auf Erden gefunden werden. Warum nicht? Wenn es auf Erden läge, so müßte irgendein Gut auf dieser Welt unser höchstes Ziel sein, in dem wir vollkommene Erfüllung finden würden. Was aber bietet uns die Erde an Gütern? Geld, Besitz, Reichtum – also „Augenlust“; Genuß, Freude, Vergnügen – „Fleischeslust“; Karriere und Auszeichnungen, Geltung und Anerkennung, einen großen und berühmten Namen – „Hoffart des Lebens“. Nehmen wir das alles zusammen, obwohl gewöhnlich, wer das eine erreichen will, auf das andere verzichten muß. Nehmen wir alle Güter der Erde zusammen, können sie unser wahres Ziel, unsere Bestimmung, unsere Erfüllung sein? Unmöglich! Das wahre Ziel des Menschen muß nämlich so beschaffen sein, daß es von jedermann erreicht werden kann und daß es wenigstens die Mehrzahl auch erreicht. Aber was sehen wir? Nur wenige Milliardäre, aber weit die meisten Menschen plagen sich vom Anfang der Welt bis zu ihrem Ende um das täglich Stück Brot, womit sie ihren Hunger stillen. – Nicht anders verhält es sich bei den übrigen geschaffenen Gütern. Nur wenigen mag es gelingen, in Lust und Vergnügen eine Zeitlang glücklich zu sein. Aber die Kranken, die Leidenden, die Sterbenden, sie könnten ihr letztes Ziel unmöglich erreichen, wenn es in den Freuden und Genüssen dieser Welt bestünde. – Und wie vielen gelingt es wirklich, eine herausragende Karriere zu machen, Ehre an den eigenen Namen zu heften? Wie vielen werden Denkmäler gesetzt? Wieviele sind es, die in den Geschichtsbüchern fortleben? Nur wenige, ganz wenige.

Haben nun alle anderen Menschen, die weder großen Besitz anhäufen, noch ein Leben in Saus und Braus führen, geschweige denn sich in der Geschichte unvergeßlich machen konnten, umsonst gelebt? Haben all diese ihr letztes Ziel verpaßt? – Ja, sie hätten es verpaßt, würde das Ziel des Menschen in den geschaffenen Gütern dieser Welt zu suchen sein. Daß es aber nicht so ist, das zeigen uns sogar die Reichen, die Lüstlinge und die Großen der Welt selbst.

Denken wir etwa an König Salomon. Wie viele Schätze besaß er! Die Schiffe aus Tarsis holten ihm Gold aus weiter Ferne herbei. Die Königin von Saba überhäufte ihn mit den erlesensten Kostbarkeiten, bestaunte seine Weisheit und zollte ihm höchstes Lob. Er selbst sagte von sich, er habe sich alle Lüste gegönnt, wonach sein Herz begehrte. Sein Name war berühmt in eigenen wie in fremden Ländern. Ja, seine Weisheit, die er, inspiriert vom Heiligen Geist, in mehreren alttestamentlichen Büchern niedergelegt hat, ist berühmt bis heute und wird es bleiben bis ans Ende der Welt. Sein Name wird unvergessen bleiben. – Und was sagt nun König Salomon zu all dem irdischen Glück? Er nennt sie: „O Eitelkeit der Eitelkeiten. Alles ist eitel. Alles Eitelkeit und Plage des Geistes!“ – So viele Mächtige, Reiche und Genießer bestätigen das. Obwohl sie alles haben und alles haben können, wonach ihr Herz begehrt, sind sie im Inneren ihrer Seele zutiefst traurig, fühlen sich leer und ausgebrannt. Manche von ihnen stürzen sich deshalb sogar in den Selbstmord.

Nein, die Erde und alle ihre Güter sind nicht groß genug, um Sinn und Zweck einer unsterblichen Seele zu sein. Oder anders gesagt: Das Menschenherz ist zu groß, um von einem irdischen, geschaffenen Gut ausgefüllt zu werden. Unsere Seele ist unsterblich, also unendlich. Deshalb sehnt sie sich nach einem unendlichen Glück, das ihr nur ein unendlich vollkommenes Gut spenden kann. Jedes irdische Gut ist hingegen begrenzt und folglich zu wenig, um das unendliche Verlangen des Menschen nach Glück und Freude und Liebe zufrieden zu stellen. Aufgrund ihrer Begrenztheit und Endlichkeit hält die Freude an den geschaffenen Gütern immer nur eine Zeitlang an, ehe sie wieder der Langeweile, der Unzufriedenheit und dem Hunger nach Abwechslung Platz macht.

Hinzu kommt noch, daß jedes endliche Gut auch tatsächlich ein Ende nimmt. Es kann verlorengehen, geraubt oder zerstört werden. Es kann sterben und vergehen. „Jedes verlierbare Glück, nenne ich kein Glück“, ruft der hl. Augustinus aus. Alles auf dieser Erde ist vergangen, vergeht, wird vergehen. Folglich kann nichts davon das letzte Ziel des nach unendlichem und unverlierbarem Glück verlangenden Menschen sein.

Wie sehr irren also jene, die wie die Toren in der Heiligen Schrift denken und sprechen: „Kommt, laßt uns des Guten genießen, das noch ist … Wir wollen köstlichen Wein und Salben in Fülle gebrauchen … wir wollen uns mit Rosen bekränzen, ehe sie verwelken … überall wollen wir Zeichen der Freude hinterlassen, denn das ist unser Teil und unser Los“ (Weis. 2), unser letztes Ziel und Ende. So denken und reden die, welche meinen: der Leib werde zu Staub und Asche, die Seele löse sich auf in Nichts auf, das Leben schwinde wie ein Nebel, wie eine Wolke, wie ein Schatten. Ja, wer das Ziel des Menschen im Haben, im Genießen, im Gelten erblickt, der muß auch sagen, es gebe keine unsterbliche Seele, es gebe keinen Gott.

Die Selbstbestimmung

Wenn das letzte Ziel des Menschen, das ihn vollkommen erfüllt und zufriedenstellt, also nicht in einem geschaffenen Gut außerhalb von ihm gefunden werden kann, dann könnte sein Daseinszweck aber vielleicht in ihm selbst liegen; in der Verwirklichung seines eigenen Willens, in der Selbstbestimmung, in der Selbstverwirklichung.

Liegt also unser letztes Ziel vielleicht in unserem eigenen Belieben? – Viele Dinge liegen ja in unserem Belieben. Ob wir an diesem oder jenem Ort wohnen wollen, ob wir diesen oder jenen Beruf ausüben wollen, in diesen oder jenen Lebensstand eintreten, hierhin oder dorthin reisen wollen; wo und wie und mit wem wir unsere Freizeit verbringen und gestalten wollen. Das alles können wir frei wählen. Können wir uns also auch aussuchen, was unsere Bestimmung ist? wo unser letztes Ziel sein soll? worin wir unsere Erfüllung finden wollen? – Nein, das können wir nicht. Warum nicht? – Weil wir abhängig sind. Im Grunde genommen darum nicht, weil wir uns nicht selbst erschaffen haben, sondern Geschöpfe sind.

Gegen diese Tatsache lehnt sich der moderne Mensch auf. Er will vollkommen unabhängig und selbstbestimmt sein. Deshalb die Bestrebungen, alle vorgegebenen sittlichen Normen, gesellschaftlichen Umgangsformen und selbst die unveränderlichen Gesetze der Natur aufzuheben, umzustürzen, auszuhöhlen, umzuinterpretieren und in ihr genaues Gegenteil zu verkehren. Ehescheidung und Homoehe, Abtreibung und Euthanasie, Transgender und Transhumanismus, Inklusion und „grüne Energiewende“ sind Versuche der Auflehnung gegen die „Fremdbestimmung“ durch eine vorgegebene Wirklichkeit, die sich dem Gutdünken des Menschen entzieht. Der Wahn nach totaler Selbstbestimmung, der in Form des „Wokeismus“ von der zeitgenössischen Gesellschaft Besitz ergriffen hat, will den Menschen nach eigener Willkür schaffen und ist dabei doch schon im Ansatz dieses Versuches gescheitert, weil der Mensch schon geschaffen ist. Und weil der Mensch geschaffen ist, so ist ihm notwendigerweise sein Daseinszweck und seine letzte Bestimmung von Anfang an eingeschaffen.

Ein Beispiel: Der Töpfer formt mit seinen Händen aus der weichen, formbaren Lehmmasse ein Gefäß. Wem gehört dieses Gefäß? Dem Töpfer. Wer hat zu bestimmen, wozu es dienen soll, ob es zu hohem oder niedrigem Gebrauch dienen, ob es im Haus des Töpfers bleiben, verkauft oder verschenkt werden soll? Allein der Töpfer hat das zu bestimmen. Das Gefäß ist sein Werk, sein Eigentum. Er ist sein Schöpfer.

Ja und während des Vorganges, als das Gefäß auf der Töpferscheibe geschaffen wurde, da ist ihm durch die Formgebung des Töpfers bereits sein besonderer Zweck eingeschaffen worden. Nach der Fertigstellung und dem abschließenden Brand im Töpferofen ist die Form des Gefäßes und damit auch der vom Töpfer bestimmte, ihm eingeschaffene Zweck ganz und gar unveränderlich. Hat er einen Teller geformt, so läßt sich daraus keine Vase machen. Hat er eine Vase gebildet, so kann ein Anderer keine Dachschindel mehr daraus machen. – Freilich kann eine andere Person das Werk des Töpfers zweckentfremden. Aber bereits in dem Wort „Zweckentfremdung“ steckt bereits die Aussage, daß es ein „fremder Zweck“ ist, in dem die Sache nicht ihre eigentliche Bestimmung und die Erfüllung ihres Daseinszweckes findet. Der wird ihr von ihrem Schöpfer vom ersten Moment an mitgegeben.

Gleiches geschieht, wenn ein Ingenieur eine Maschine konstruiert. Die Maschine wird genau so gebaut, daß sie den vom Ingenieur beabsichtigten Zweck, zu dem er sie ersonnen hat, erfüllen kann. So ist der Geschirrspüler anders konstruiert als eine Waschmaschine, obwohl beide der Reinigung dienen. Aber weil der Erstere das Geschirr und die Zweite die Wäsche reinigen soll, so sind sie ihrem jeweils unterschiedlichen Daseinszweck gemäß, unterschiedlich gebaut. Eine Zweckentfremdung, also ein unsachgemäßer Gebrauch, würde großen Schaden verursachen. Das wäre etwa der Fall, wenn die Waschmaschine zum Spülen des Geschirrs verwendet werden würde. Spätestens der Schleudergang würde zeigen, daß ein solches Vorhaben töricht und schädlich ist. Nicht nur das Geschirr wird ein Scherbenhaufen sein. Auch die Waschmaschine wird  bleibenden Schaden davontragen. – So gesehen gleicht der dem heutigen Zeitgeist des „Wokeismus“ erlegene Mensch einer Waschmaschine, die sich kraft ihres vermeintlichen Rechtes auf Selbstbestimmung entschließt, nun ein Geschirrspüler zu sein. Das kann nicht ohne Schaden bleiben; nicht ohne Schaden für die Umgebung eines solchen Menschen und erst recht nicht ohne Schaden für den „Woken“ selbst.

Fragen wir uns schließlich nach diesen Überlegungen. Wer hat dem Gefäß oder der Waschmaschine seine Bestimmung gegeben? Der Töpfer bzw. der Ingenieur. Sind wir nun unser eigener Töpfer? Sind wir unser eigener Ingenieur? Haben wir uns selbst entworfen? Uns selbst gestaltet? Uns selbst ins Dasein gerufen? – Gewiß nicht! Ja, wir wurden nicht einmal gefragt, ob wir überhaupt dasein wollten. Wir sind in der Frage unserer Existenz, unseres Daseins, völlig fremdbestimmt; vollkommen abhängig von einem anderen; von unserem Schöpfer. Er hat uns ersonnen. Er hat uns gewollt. Er hat uns gestaltet. Er hat uns ins Dasein gerufen; und zwar zu dem von Ihm bestimmten, unveränderlichen und in uns eingeschaffenen Zweck. Und welcher Zweck ist das nun? Durch den Propheten Isaias wurde er uns geoffenbart. Gott sprach: „Zu Meiner Ehre habe ich den Menschen geschaffen und ihn gebildet und ihn gemacht.“ (Is. 43,7).

Die Ehre Gottes

Nicht in den Gütern der Erde und nicht in der Selbstbestimmung besteht der Sinn des Lebens und die Erfüllung unserer Sehnsüchte. Die Ehre Gottes ist der Zweck unseres Daseins. Dazu ist der Mensch gemacht. Deshalb ist er so gestaltet, so ausgerüstet, so begabt, wie er ist.

Folglich müssen alle Kräfte des Menschen diesem letzten Zweck dienen. Unser Verstand muß der Ehre Gottes dienen, indem wir durch ihn Seine göttlichen Vollkommenheiten zu erkennen suchen; indem wir Gott unseren Verstand in den Dingen, die zu groß für unseren Geist sind, unterwerfen durch den Glauben. – Zudem müssen auch alle Kräfte des Leibes und der Seele Seiner Ehre dienen, indem wir den Willen Gottes, wie Er sich in Seinen Geboten äußert, zu erfüllen suchen. Die Gebote Gottes sind ja nichts anderes als die richtige „Gebrauchsanweisung“ für das Geschöpf Mensch. Sie beugen der Zweckentfremdung und Entartung des Menschen vor. Wenn diese Gebrauchsanweisungen befolgt werden, so „funktioniert“ der Mensch richtig. D.h. er findet darin die glückliche Erfüllung seines Daseins hier auf Erden und einst im Jenseits. Durch die Erfüllung der Gebote soll der Mensch die Ehre Gottes suchen und bekennen, daß wir in ihm unser letztes Ziel und unser höchstes Glück suchen. Wenn er das tut, dann bereitet der Mensch seinem Schöpfer die höchste Ehre. Denn im Gehorsam ver-HERR-lichen wir Gott. Im Gehorsam vereinigen wir uns mit Gott, weil wir mit Ihm in Seinem Willen eins werden. Das aber ist nichts anderes als Liebe. Deshalb konnte der Herr sagen: „Wer Meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der Mich liebt.“ (Joh. 14,35). Die Liebe beweist sich im Gehorsam. Darin besteht die höchste Ehre, die wir Gott erweisen können. In der Liebe aber schenkt sich der Geliebte dem Liebenden, weshalb das letzte Ziel und der allerletzte Zweck unseres Lebens im Besitz Gottes zu finden ist.

Dazu sind wir auf Erden: um Gott ewig zu besitzen. Das ist das Ziel, welches Gott der Herr einem jeden von uns gesetzt hat. Dafür ist unsere Seele gemacht. So ist sie beschaffen, daß sie nur durch den Besitz des unendlich vollkommenen Gottes zufriedengestellt werden kann, wie der hl. Augustinus in der berühmten Sentenz seiner „Bekenntnisse“ schrieb: „Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir, o Gott.“ Er ist das unendlich vollkommene Gut, welches nie langweilig wird, welches den unendlichen Durst nach Freude und Glück und Liebe, der unserem Herzen eingeschaffen ist, einzig und allein zu stillen vermag. Er ist das unendliche, unzerstörbare und unverlierbare Gut, das niemand rauben oder zerstören oder töten kann. Gott stirbt nicht und vergeht nicht. Er ist das unendlich vollkommen und ewig zugleich. Nur für dieses Gut ist unser Herz gemacht.

Um in den Besitz Gottes zu gelangen, müssen wir drei Stufen erklimmen: Wir sind auf Erden, um Gott zu erkennen, ihn zu lieben, ihm zu dienen und dadurch in den Himmel zu kommen. Gott erkennen, das ist der Anfang des Weges. Wir erkennen Gott im Glauben. – Gott lieben und Ihm dienen, das sind die Schritte, die zum Ziel führen. Das geschieht durch die Bewahrung und Erhaltung des übernatürlichen Gnadenlebens, indem wir die Gebote Gottes einhalten. In den Himmel kommen, zu Gott kommen, bei Gott leben, mit Gott leben und in Gott selig werden, das ist das Ziel. So wird Gott verherrlicht und das Geschöpf glückselig.

So betrachtet ist dieses Leben nicht das Ziel, sondern der Kampfplatz, wo der Sieg errungen werden muß; das Arbeitsfeld, wo der Lohn verdient wird; die Rennbahn, die dem Ziel entgegenführt. Laufen wir also so, daß wir den Siegeskranz erringen!

Wozu bist du gekommen?

Der Sohn Gottes ist Mensch geworden, um uns durch die Vergießung Seines kostbaren Blutes von unseren Sünden zu erlösen und uns das höchste Gut – den ewigen Besitz Gottes – wieder zu erschließen.

Im Hinblick auf die „überschwengliche, ewige, alles übersteigende Herrlichkeit“, die uns der Heiland eröffnet hat, wollen wir mit dem hl. Paulus sagen: „Darum ermüden wir nicht; sondern wenn auch unser äußerer Mensch aufgerieben wird, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert.“ (2. Kor. 4,16).

Diese Worte des Völkerapostels sollen uns eine Kraftquelle sein und uns ungeachtet der Zahl und Größe der Widerwärtigkeiten, welche uns in diesem neuen Jahr begegnen werden, zu heiligem Eifer anspornen, wie sie den hl. Bernhard von Clairvaux ermutigt haben. So oft dieser Heilige in seinem Ordensleben eine Ermattung seines Geistes, eine Anwandlung von Lauheit in sich zu verspüren meinte, so pflegte er sich sogleich wieder aufzuraffen mit der an sich selbst gestellten Frage: „Bernhard, wozu bist du gekommen?“ Wozu bist du auf Erden? Wozu bist du ins Kloster eingetreten? – Einzig dazu, um Gott, deinen Schöpfer und Herrn, zu erkennen, zu ehren, zu lieben, Ihm zu dienen und die dafür von Seiner untrüglichen Wahrheit und unendlichen Güte versprochene ewige Seligkeit des Himmels desto sicherer zu erlangen. So sagte der Heilige, wenn er verspottet und verfolgt wurde: „Lieber ist es mir, daß man gegen mich murre als gegen Gott. Wenn nur Gottes Ehre unverletzt bleibt, so achte ich den Schaden an meiner Ehre nicht.“ Gott verherrlicht jene, die nur Seine göttliche Ehre als Ziel ihres Daseins anstreben, hier und dort. Und Gott wirkte durch den hl. Bernhard so viele Wunder, wie sie die Geschichte nur von sehr wenigen Heiligen aufweist.

So sollen auch wir uns bei jeder Gelegenheit der Entmutigung diese Frage stellen, um unser Lebensziel stets im Auge zu behalten: „Wozu bist du gekommen? Wozu bist du auf Erden?“ Um auszuruhen? Um es dir sorglos wohl sein zu lassen und das Leben zu genießen? Um in Frieden gelassen zu werden? Nein! Um zu kämpfen. Um zu erdulden. Um zu überwinden. Nicht um sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen. Nicht um auszuruhen, sondern um zu arbeiten. Nicht für diese Welt, sondern für die ewige. Nicht für deine Ehre, sondern für die Ehre Gottes. „Darum ermüden wir nicht; sondern wenn auch unser äußerer Mensch aufgerieben wird, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert.“

Der Vater ist auf der Brücke

Mit dem Blick auf das letzte Ziel gerichtet wollen wir also in dieses neue Jahr eintreten – nicht mit großem „Optimismus“, denn der Optimismus ist der Trost der Schwachen, wohl aber mit festem Vertrauen, daß Gott das Schiff der Welt, aber auch das Schiff unseres Lebens steuert; mit festem Vertrauen, daß, was immer kommen mag, Seine Vorsehung nie fehlgeht. Wie sie nicht fehlging im Leben Seines göttlichen Sohnes, so auch nicht im Leben der „Kinder Gottes“. Gott macht keine Fehler! Denn die Vorsehung Gottes ist unfehlbar und unveränderlich. Unfehlbar, d.h. sie kommt immer zu ihrem Ziel. Sie kann durch keine menschliche Bemühung vereitelt werden. Unveränderlich, d.h. sie nimmt an der Unveränderlichkeit Gottes teil. Der Plan Gottes liegt fest. Und dieser Plan wird durchgeführt. Man spricht von einer allgemeinen Vorsehung für alle Geschöpfe, von einer besonderen Vorsehung für die Menschen und von einer ganz besonderen Vorsehung für die Auserwählten. Aber jeder von uns hat durch seine Mitwirkung Anteil an der Verwirklichung der Vorsehung Gottes. Jedem ist ein Maß zugemessen, an der Vorsehung Gottes mitzuwirken; das ihn, wenn er in den Willen Gottes einstimmt, zum Himmel führen wird.

Es fuhr ein Schiff von Liverpool nach New York. Der Kapitän dieses Schiffes hatte seine Familie an Bord, Kapitänen ist das ja gestattet. Mitten auf dem Ozean es erhob sich ein furchtbarer Sturm. Die Passagiere waren ängstlich und gerieten in Furcht, daß dem Schiff etwas zustoßen könnte. Auch die achtjährige Tochter des Kapitäns wurde wach und fragte, was los sei. Man erklärte ihm, daß sich ein Sturm bedrohlich erhoben habe. Dann stellte das Mädchen die Frage: „Ist der Vater auf der Brücke?“ Die Antwort lautete: „Ja.“ „Dann ist es gut!“ Es legte sich nieder und schlief weiter.

Der Vater ist auf der Brücke! Während wir in diesen stürmischen Zeiten unserer ewigen Bestimmung entgegengehen, wacht der Vater im Himmel. Er wacht über uns auch in diesem neuen Jahr. Amen.

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