„Wer zu stehen glaubt, sehe zu, daß er nicht falle.“

Geliebte Gottes!

Wenn auf einem Schienenstrang der Bahn eine Weiche falsch gestellt ist, so braucht an dieser Stelle noch lange kein Zugunglück passieren. Wahrscheinlich wird der ankommende ICE-Expreß glatt über die falsch gestellte Weiche hinweggleiten und in voller Geschwindigkeit weitersausen – von da ab freilich auf falschem Gleis. Je länger er so in vollkommener Arglosigkeit weiterfährt, desto größer wird die Gefahr, daß er irgendwo ganz unverhofft und plötzlich auf ein Hindernis aufprallt; und sowohl der Schaden als auch der Jammer werden riesig groß sein. Wie gesagt, das katastrophale Zugunglück kann weit weg passieren, aber die Entscheidung darüber fiel an der falsch gestellten Weiche.

Das Unglück Jerusalems

Das große Unglück brach über die Stadt Jerusalem herein im Jahre 70 n. Chr. Vier römische Legionen, die 5., die 10., die 12. und die 15. Legion, begleitet von Kavallerie, Pionieren und Hilfstruppen, fast 80.000 Mann unter dem Kommando des Feldherrn Titus, des Sohnes des Kaisers Vespasian, schlossen Jerusalem ein. Aus Erdwerken entstand ein Wall in Tag- und Nachtarbeit; ein mächtiger, hoher Wall, der die Davidsstadt umgab, damit niemand unbemerkt fliehen konnte. In Jerusalem herrschten Hunger, Verzweiflung und Tod. Aber die Juden kämpften wie besessen und wehrten sich und wichen nicht. Selbst als die Lage längst aussichtslos war, wollten sie den Widerstand nicht aufgeben, weil sie auf ein wundersames Eingreifen Gottes warteten. Sie meinten, Gott könne die heilige Stadt Davids nicht untergehen lassen. Der Allmächtige müsse eingreifen, da diese ihre Stadt die „auserwählte Stadt“ war, der „Herrschaftssitz des Gesalbten“, der „Thron des Messias“, der in ihren Tagen kommen mußte. Doch sie hofften vergeblich. Die Römer bauten große Belagerungsmaschinen, um tiefe Breschen in die Stadtmauern zu schlagen und deren Erstürmung vorzubereiten. Schon während der Belagerung tobten in Jerusalem blutige Parteikämpfe, in denen sich die Verteidiger gegenseitig zerfleischten. Als die römischen Kriegshörner zum Sturm bliesen und die Legionäre in erbittertem Häuserkampf in die Stadt eindrangen, da wurde niemand mehr geschont. Auch nicht Frauen, Kinder und Alte. Im September 70 wurden die letzten Bollwerke der Davidsstadt erobert. Feuer brach aus, verzehrte alles Brennbare, auch das Herz der Stadt: den Tempel. Das alte Jerusalem existierte nicht mehr.

Die Juden hatten vergebens gehofft, weil Derjenige, den sie erwarteten, weil Derjenige, um dessen Willen Gott hätte eingreifen müssen, schon gekommen und längst wieder in den Himmel aufgefahren war. Das Massaker in Jerusalems Straßen und Gassen, der Brand und die Schleifung des Tempels, das war die Stunde des größten Unglücks, die Katastrophe für das Judentum schlechthin – bis heute. Aber die Entscheidung war schon vierzig Jahre früher gefallen, als Israels Denken eine falsche Weichenstellung aufwies.

Die Weichenstellung Jerusalems

Die Szene des heutigen Evangeliums führt uns in diese Entscheidungsstunde der Weichenstellung Israels. Es führt uns in die Stunde der Heimsuchung Gottes. Sie ereignete sich am Palmsonntag. Christus wurde jubelnd in Jerusalem willkommen geheißen. Doch der Gottessohn weint! Gott weint! Warum?

Er sah die falsche Weichenstellung im Herzen der Juden und die daraus resultierende Katastrophe. Er war gekommen, um Buße zu predigen und mit gutem Beispiel den Kreuzweg Seines Sühneleidens voranzugehen. Er forderte sie zum Umdenken auf, zur Bekehrung, zur Kreuzesnachfolge: „Wer Mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge Mir nach.“

Das auserwählte Volk aber pries ihn mit Hosanna-Rufen, weil es von Weltherrschaft träumte, weil es dachte, der Himmel auf Erden sei gekommen. Die Wunder der Brotvermehrung interpretierten sie fehl, als ob sie nun nicht mehr arbeiten müßten. Sie hielten an ihren Träumen fest, überhörten die Predigt vom Kreuz, daß Sünde wiedergut gemacht werden müsse. Sie murrten gegen die notwendige Opferteilnahme des Einzelnen mit Ihm – „diese Rede ist hart, wer kann sie ertragen?“ – und so verachteten sie auch das demütige Beispiel des durch Geißelung und Dornenkrönung zum Erlösungsopfer zubereiteten Gotteslammes. „Hinfort, hinfort! Kreuzige Ihn!“ würden sie in wenigen Tagen im Chor vor dem Prätorium des Pilatus skandieren.

In der Karwoche schlugen sie die falsche Richtung ein. Die Richtung, welche sie ins Verderben, in die Katastrophe führte. Mit voller Geschwindigkeit rasten sie dahin und hatten es nicht bemerkt. Der Herr bestätigte es unter Tränen: „Wenn doch auch du es erkannt hättest, an diesem deinem Tage, was dir zum Frieden dient! Nun aber ist es vor deinen Augen verborgen.“ Warum? „Weil du die Zeit deiner Heimsuchung nicht erkannt hast.“ (Lk. 19,42-44).

Die Zeit der Heimsuchung

Das Schicksal Jerusalems ist „zur Warnung geschrieben“ (1. Kor. 10,11). Es wurde uns „zur Warnung geschrieben“! Die Heilige Schrift ist ja nicht zum Lob oder zum Tadel geschrieben, sondern zur Belehrung der Menschen, zur Warnung oder zur Ermunterung der künftigen Geschlechter – je nachdem.

Jerusalems Schicksal kann sich wiederholen und es scheint sich zu wiederholen – an den Völkern, am neutestamentlichen Gottesvolk und an jedem Einzelschicksal.

Gott will das Heil aller Menschen. Jeder ist in dieser Hinsicht ein „Auserwählter Gottes“ und muß sich deshalb im „auserwählten Volk“ vorgebildet und u.U. widergespiegelt sehen. Jeder muß seinem Leben in den Stunden der Heimsuchung durch die göttliche Gnade eine Richtung geben.

Ja, Gott sucht jede Seele heim, aber nicht an jedem Tag! Die Heimsuchungen Gottes haben ihre Stunde. Man spricht vom „Kairos“. Kairos ist in der griechischen Mythologie der Gott des rechten Augenblicks. Nur an der Stirn trägt Kairos eine lange Haarlocke, an der er zu packen ist. Sein Hinterkopf hingegen ist kahlgeschoren. Wer zu spät zugreift, der bekommt ihn am glatten Hinterkopf nicht mehr zu fassen. Auch im christlichen Sprachgebrauch spricht man vom „Kairos“ und versteht darunter den festgesetzten Augenblick im Heilsplan Gottes, den bestimmten Zeitpunkt, an dem Gott Seine Gnade anbietet. Diese Gelegenheiten gehen vorbei. Selig, wer sie beim Schopfe packt. Zu bedauern hingegen ist der, welcher sie verpaßt.

Der Tag der Heimsuchung, das ist der Tag, an dem Gott die Seele durch die Gnade heimsuchen will. Dieser Tag kann auch eine Nacht sein. Die Nacht des Leidens nämlich, die Nacht der Not, der Prüfung, der Verunsicherung, der innerlichen Erschütterung und Dunkelheit. „Du hast mein Herz geprüft und mich des Nachts heimgesucht“ (Ps. 16,3), so betet die Kirche im göttlichen Offizium. Du hast mich des Nachts heimgesucht.

Die Heimsuchung geschieht durch äußere und durch innere Gnaden. – Was sind äußere Gnaden? Äußere Gnaden sind Ereignisse und Erlebnisse, in denen Gott zu uns spricht. Ein Unfall, den wir erleiden; eine Gefahr, aus der wir errettet werden; ein Mißerfolg in unserer Arbeit, genauso wie ein Gelingen bei unserem Bemühen; eine Krankheit, die uns überfällt, aber auch eine Genesung, auf die wir nicht zu hoffen wagten; ein Gottesdienst, der uns ergreift; ein Wort der Heiligen Schrift, das uns packt; eine Predigt, die uns anrührt. All das sind äußere Gnaden. Wir sollten sie ergreifen, denn das sind die Gnadenstunden Gottes.

Dazu treten die inneren Gnaden. Das sind die Erleuchtungen und tieferen Einsichten, die Gott in uns bewirkt; die Antriebe der Gnade, die Er uns schickt; die Einsprechungen des Gewissens, mit denen Er an unsere Seele rührt; die Mahnungen, die uns dazu anhalten, die Besserung des eigenen Lebens nicht länger aufzuschieben; die Warnungen, die Gelegenheit zur Sünde zu meiden. Das alles sind Heimsuchungen Gottes.

Dabei gilt der Grundsatz: Die Entscheidung fällt in der Stunde der göttlichen Heimsuchung. Wann sich hingegen das daraus resultierende Schicksal erfüllt und die Folgen der in der Heimsuchungsstunde getroffenen Entscheidung sich in Heil oder Unheil zeigen, das kann man im Voraus nicht so leicht sagen. Bei Jerusalem hat es vierzig Jahre gedauert. Längst war die Kreuzigung jenes Jesus von Nazareth aus dem Gedächtnis der Jerusalemer Bevölkerung gewichen. Einige von denen, die lauthals schrieen, „Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder“, waren nicht mehr am Leben. Vierzig Jahre plätscherte das Leben in Jerusalem vergnügt dahin. Die wirtschaftliche Lage und das äußere Wohlleben in der Stadt hatten sich kontinuierlich verbessert. Die Pracht ihrer Bauwerke, vor allem die Herrlichkeit des gerade wiederhergestellten herodianischen Tempels mit seinem vergoldeten Dach, in dem sich die Sonne spiegelte, war sinnbildlich für den weithin sichtbaren Glanz der Davidsstadt.

Auch das soll uns eine Warnung sein: Sorgloser Wohlstand, stabile Gesundheit und zeitliche Erfolge sind kein Indiz dafür, daß wir auf den Wegen Gottes wandeln! Eines Tages nämlich traf die stolze, unbußfertige Stadt ihr Los und ihr Schicksal wurde besiegelt. Vierzig Jahre nach der verhängnisvollen Weichenstellung!

Gelehrigkeit gegen Gottes Willen

Die Frage, die sich für uns alle stellt, ist die: Kann man verhindern, daß man auf ein falsches Gleis gerät und dann blindlings einer Katastrophe entgegenrast? Kann man verhindern, daß der Kairos vorbeieilt und unser verspäteter Versuch zuzupacken an dessen glatten Hinterkopf abgleitet? Daß man das unaufdringliche Werben der Gnade Gottes versäumt? – Hier muß man mit einem entschiedenen „Ja“ antworten. Ja, natürlich kann man das verhindern. Gott will das Heil aller Menschen.

Allerdings muß einem dann wirklich daran gelegen sein, daß man den Willen Gottes nicht nur erkennen, sondern ihn auch erfüllen will. Diese Grundeinstellung muß gegeben sein: Gottes Wille – und Sein Wille allein – ist die entscheidende Norm für mein Leben. Alle meine Wünsche und Neigungen müssen mit Seinem Gesetz in Einklang gebracht werden, müssen sich Seinem Gebot unterordnen – in allen Lebensbereichen, ohne Ausnahme! Wer sich zu diesem Standpunkt durchgerungen hat, der ist nicht so leicht in Gefahr, eine Entscheidungsstunde zu verpassen.

Ferner muß man um ein gelehriges Herz beten, wie es der junge König Salomon getan hat: „So wollest Du denn Deinem Diener ein gelehriges Herz geben, daß er zu unterscheiden wisse zwischen Gut und Böse.“ (3. Kön. 3,9). Oder wie König David zu Gott flehte: „Deine Wege zeige mir, Herr, und Deine Pfade lehre mich!“ (Ps. 24,4). Wenn wir in solch demütiger Herzensgesinnung beten, dann dürfen wir auch das Vertrauen haben, daß uns Gott Seinen Willen deutlich genug kundgibt, sodaß auch wir schwerfälligen Menschen es verstehen können.

Ein gelehriges Herz beachtet ferner auch das, was der hl. Paulus in der heutigen Epistel rät: „Wer zu stehen glaubt, der sehe zu, daß er nicht falle.“ (1. Kor. 10,11).

„Wer zu stehen glaubt, der sehe zu, daß er nicht falle.“

„Stehen“ bedeutet hier, sich im Gnadenstand befinden. Und „fallen“ bedeutet, aus der Gnade heraus in die Sünde fallen. – Der Absturz kann plötzlich erfolgen, unerwartet, scheinbar überraschend. Bei genauerer Prüfung wird sich aber herausstellen, daß das Innere schon länger morsch gewesen ist und dann nur bei passender Gelegenheit der Zusammenbruch erfolgt war. Bei anderen schmelzen Glaube und Tugend langsam, fast unmerklich dahin. Solche Christen kommen taumelnd zu Fall. Das religiöse Leben läßt nach, das Gebet wird abgekürzt, bis es schließlich unterbleibt, Gewissenserforschung und Beichtpraxis werden vernachlässigt und irgendwann eingestellt, das Streben nach Fortschritt in der Tugendübung und der Eifer in guten Werken wird immer schwächer. Mancher, der im Geiste begonnen hat, hat im Fleische geendet!

Worauf muß man achten, „daß man nicht falle“?

Erstens: Man muß ein Streiter Christi sein und bleiben. Jeder Katholik, erst recht der gefirmte Katholik, ist ein „wahrer Israelit“ (Joh. 1,47), d.h. eine Kämpfernatur. Der Name „Israel“ bedeutet so viel wie „Gotteskämpfer“. Er kämpft gegen das Fleisch, die Welt und den Teufel. Dieser Kampf kennt keinen Waffenstillstand. Denn die böse Begierlichkeit begleitet uns durch das ganze Leben, bis aufs Sterbelager. Solange wir in der Welt leben, können wir nicht ohne Versuchungen sein. Die Nachfolge Christi sagt: „Kein Stand ist so heilig, kein Ort so abgeschieden, wo es nicht Versuchungen gäbe.“ Niemand sage sich, er habe keine Versuchungen zu befürchten. Denn wer so denken würde, der verspricht sich den Frieden. Wer sich aber leichtfertig den Frieden verspricht, der bietet dem Angreifer ein dankbares Ziel. Nein, für den Streiter Christi gilt der Grundsatz der Alten: „Wenn du Frieden willst, dann bereite dich zum Krieg.“

Zweitens: Damit man nicht fällt, muß man wachsam sein. Der Herr hat ja so oft zur Wachsamkeit aufgerufen: „Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung fallet!“ „Wachet! Denn ihr wißt weder den Tag noch die Stunde, an dem der Herr kommt.“ Und der Völkerapostel gab die Mahnung des Heilandes weiter: „Laßt uns nicht schlafen wie die anderen, sondern wachen und nüchtern sein.“ „Seid wachsam, steht fest im Glauben.“ Je entschiedener man den Versuchungen schon in ihren Anfängen widersteht, desto weniger Mühe hat man damit. Haben wir die Versuchungen hingegen aus Unachtsamkeit schon in den Vorhof unserer Seelenburg eingelassen, wird es um so mühsamer, sie wieder zu vertreiben. Deshalb lautet das Sprichwort: „Wehret den Anfängen!“ Wehret den Anfängen, zu spät wird sonst das Heilmittel bereitet.

Drittens: Als wachsamer Gottesstreiter sehen, daß man nicht fällt, das heißt sodann: die Gelegenheiten meiden, die zum Fallstrick werden können. Die Volksweisheit sagt: „Wer mit dem Feuer spielt, verbrennt sich.“ „Wer sich in Gefahr begibt, der kommt darin um.“ Niemand ist vor schlimmen Gedanken sicher. Deshalb lauert schon da die Sünde. Die Sünde beginnt immer in Gedanken, in der Vorstellung, in einer gefährlichen Vorstellung, in freventlichen Urteilen. Der gefährdete Mensch findet Gefallen daran, es erhebt sich in ihm der Wunsch, das Vorgestellte zu besitzen, zu tun, zu genießen. Er faßt den Entschluß und wenn die Gelegenheit günstig ist, dann vollbringt er die schlimme Tat und sein Fall ist vollendet. Wer glaubt zu stehen, der sehe zu, daß er nicht falle, indem er die Gelegenheit zur Sünde meide.

Viertens: Ein besonders wirksames Mittel gegen den Fall ist der Gedanke an das Ende des Lebens. Der weise Jesus Sirach sagt: „Was du auch tust, bedenke das Ende, so wirst du in Ewigkeit nicht sündigen.“ (Sir. 7,36). Und Angelus Silesius dichtet: „Denk an den Tod, mein Christ, was denkst du anders viel? Man denkt nichts Nützlicheres, als wie man sterben will.“ Wer zusehen will, daß er nicht falle, der denke stets an den Tod, der ihn in jedem Augenblick ereilen kann, an die Rechenschaft, die er dann dem ewigen Richter für sein Tun und Lassen geben muß und daß eine einzige schwere Sünde hinreicht, um ihn der ewigen Seligkeit zu berauben.

Fünftens: Ein Christ darf sich zeitlebens nicht in falscher Heilssicherheit wiegen. Wir tun alles, um das Heil zu erlangen – hoffentlich! Nichtsdestotrotz können wir nie sagen: Jetzt ist genug. Jetzt bin ich genug heilig. Nein, genug ist nie genug, weil auf dem Weg zum Himmel Stillstand schon Rückschritt bedeutet.

Die geschichtliche Erfahrung zeigt, wie leicht die große Menge der Menschen verführt werden kann. Wer sich an den Lebensstil der Masse anschließt, wird mit ihr zugrunde gehen. Jedoch ist es trügerisch, sich mit dem gottlosen Verhalten der Mehrzahl der Menschen zu beruhigen. Das haben die Pharisäer getan. Sie haben sich damit beruhigt, daß sie als Gesetzestreue „nicht so sind wie die andern“. Und trotzdem fanden ihr Gottesdienst und ihre Frömmigkeit kein Wohlgefallen bei Gott. Die Gottvergessenheit vieler ist keine Bürgschaft dafür, daß wir selber stets recht handeln. Kein Katholik soll sich in falscher Heilssicherheit wiegen. Hören wir auf die Mahnungen des Apostels: „Wer zu stehen meint, der sehe zu, daß er nicht falle.“ „Wirket euer Heil mit Furcht und Zittern.“ „Täuschet euch nicht. Gott läßt seiner nicht spotten.“ „Was der Mensch sät, das wird er auch ernten.“

Dominus flevit

An der Stelle, an welcher der Herr am Palmsonntag über Jerusalem weinte, wurde eine Kirche errichtet, mit dem Titel „Dominus flevit“ – „Der Herr weinte“. Dieses kleine Gotteshaus hält heute noch das Gedächtnis an die Tränen des Heilandes gegenwärtig.

In gleicher Weise wie Jesus damals über Jerusalem weinte, so weint Er seither über jede Seele, die sündigt. Über eine jede Seele, die Gnade um Gnade zurückweist; die Tag für Tag verstreichen läßt, ohne Seine Vergebung im versöhnenden Bußgericht zu suchen, ohne durch eine ernste Lebensbesserung Seine sanfte und langmütige Liebe zu erwidern, ohne würdige Genugtuung für die begangenen Sünden zu leisten.

Trotzdem bleibt der Herr auch in einer solchen Seele nicht untätig. Wie damals im Tempel wird Er eine Geißel flechten, um den Seelentempel durch die Hiebe der Trübsal zu reinigen. Das Schlimme für unsere Seele ist nicht, wenn uns der Herr schlägt. Nicht, wenn Er Krankheiten, Schicksalsschläge, Mißerfolge oder sonstige schwere Trübsale über uns kommen läßt. Die Schläge sind nur ein Versuch, unser Herz zu reinigen, wenn wir es schon nicht freiwillig tun wollen. Derlei Heimsuchungen sind ein Zeichen der Liebe Gottes, der das säumige Menschenherz, welches zu einer Räuberhöhle geworden ist, noch nicht aufgegeben hat, sondern es für sich zurückgewinnen will. Die Schläge sind also nicht das Schlimme.

Das wahre Verhängnis einer Seele ist vielmehr darin zu sehen, wenn die Einsprechungen unseres Gewissens, d.h. die lehrende, mahnende und warnende Stimme Jesu, im Tempel unseres Herzens eines Tages verhallt. Gerade haben wir noch gehört: „Und Er lehrte täglich im Tempel.“ Aber im weiteren Verlauf der Karwoche wird vom hl. Evangelisten Johannes nach dem letzten erbitterten Streit mit den Schriftgelehrten das schreckliche Wort gesagt: „Jesus aber verbarg sich und ging hinweg aus dem Tempel.“ (Joh. 8,59). Darin besteht das Verhängnis für eine Seele, wenn Gott sie aufgibt, sich von ihr zurückzieht, sich verbirgt und sie einfach ihrem Schicksal überläßt, so wie es mit Jerusalem geschehen ist. Davor warnt der hl. Augustinus: „Fürchte den Jesus, der vorübergeht und nicht wiederkehrt.“

Die richtige Weichenstellung

Vernehmen wir heute die Botschaft des weinenden Heilandes! Verstehen wir, daß Seine Tränen uns zur Bekehrung drängen! Wir sind aufgerufen, aus eigenem Antrieb eine Tempelreinigung in unserem Herzen durchzuführen. Wie unser Herr am Palmsonntag, so müssen wir, solange uns noch Zeit bleibt, alles aus dem Heiligtum unseres Herzens hinausschaffen, was diesen Tempel des Heiligen Geistes entweiht und ihn einer Räuberhöhle gleich macht. Hinaus damit! Ein für allemal!

Flehen wir in dieser hl. Messe besonders um die dafür erforderliche Selbsterkenntnis und Entschiedenheit. Beten wir sodann um die Gnade der Wachsamkeit und Hellhörigkeit gegen den göttlichen Willen, wie er sich tagtäglich in den Geboten Gottes und der Kirche offenbart, und wie wir ihn bei der Erfüllung unserer Standespflichten umsetzen müssen, um Ihm wohlzugefallen. Prüfen wir uns dabei regelmäßig durch einen Blick in den Beichtspiegel, ob unser Gewissen tatsächlich so aussieht, wie Gott es will.

Nehmen wir schließlich unsere Zuflucht zu derjenigen, in deren unbefleckten Herzen die Weichen der Liebe stets richtig eingestellt waren. Stets hat die allerseligste Jungfrau und Gottesmutter Maria in der treuen Pflichterfüllung ihres einmal gegebenen „Fiat“ ausgeharrt.

„Siehe, ich bin die Magd des Herrn. Mir geschehe nach deinem Wort.“ (Lk. 1,38). Das war die Weichenstellung im Leben der allerseligsten Jungfrau Maria. Deshalb war Maria stets im Gnadenstand befestigt und vor jedem Fall in die Sünde gesichert (1. Kor. 10,11). Wohin sie diese treu durchgehaltene Weichenstellung getragen hat, das dürfen wir alljährlich am Höhepunkt des Sommers im Fest von der Himmelfahrt Mariens feiern.

Bitten wir deshalb die Mittlerin aller Gnaden, daß auch wir in den für unser ewiges Heil entscheidenden Augenblicken mit ihr sprechen können: „Siehe, ich bin die Magd des Herrn. Mir geschehe nach deinem Wort.“ Amen.

Kategorie:

Veröffentlicht: