4. Fastensonntag
Von der läßlichen Sünde
Geliebte Gottes!
Wir haben zuletzt von der Todsünde gesprochen und ihre wesentlichen Merkmale kennengelernt. Wir haben erfahren: „Die Todsünde ist eine freiwillige Übertretung des göttlichen Gesetzes in einer wichtigen Sache.“ Drei Dinge müssen bei einer Sünde gegeben sein, damit sie eine Todsünde ist: 1. Die Übertretung eines Gebotes in einer wichtigen Sache. 2. Die klare Kenntnis des Bösen. Und 3. die volle Einwilligung in das Böse. – Bei einer Todsünde müssen alle drei Wesensmerkmale gegeben sein. Wo eines fehlt, da ist entweder nur eine läßliche Sünde oder u.U. sogar gar keine Sünde vorhanden.
Wo aber alle drei Wesensmerkmale zusammentreffen, da treten gleichzeitig mit der Todsünde auch ihre schrecklichen Folgen ein: Die übernatürliche Liebe weicht der Feindschaft mit Gott. Das Gnadenleben stirbt und damit sowohl die Gotteskindschaft als auch das Erbrecht auf den Himmel. Alle guten Werke werden ihres übernatürlichen Wertes beraubt und verlieren ihren Anspruch auf ewigen Lohn, wie Gott durch den Propheten Ezechiel verkünden ließ: „Wenn sich der Gerechte von seiner Gerechtigkeit abwendet und Böses tut, so wird all seiner Gerechtigkeit, die er geübt, nicht mehr gedacht werden.“ (Ez. 18,24).
„O wahrhaft schauerliches Ereignis!“, sagt der hl. Basilius d. Gr.: „Wenn du streng fastest, ein abgetötetes Leben führst, ohne Unterlaß betest, bitterlich weinst, stets enthaltsam lebst und dieses vielleicht zwanzig oder dreißig Jahre genau einhältst, aber eine einzige Todsünde, auch nur in Gedanken begehst, so hast du dein ganzes Verdienst auf einmal verloren; gerade wie ein Kaufmann, der ungeheure Schätze gesammelt und alle Gefahren des Meeres bestanden hat, aber im Angesicht seiner Vaterstadt, deren Hafen er sich nähert, Schiffbruch leidet und alles verliert.“ Die Todsünde ist deshalb das größte Übel, das es gibt. Sie stürzt den Menschen ins äußerste Elend, weil sie ihn all dessen beraubt, was über dieses irdische Leben hinaus von Wert ist. – Darüber hinaus bringt sie dem Sünder schon hier auf Erden das Strafgericht Gottes ein: durch die Qual des schlechten Gewissens und durch unglückliche Heimsuchungen verschiedenster Art. Nach dem Tod aber bringt sie die Verwerfung Gottes und das ewige Verdammungsurteil.
Es wäre aber nun ein Trugschluß anzunehmen: Wer keine Todsünde auf dem Gewissen hat, der ist ohne Sünde. – Nein, der hl. Apostel Johannes schreibt gleich zu Beginn seines ersten Briefes: „Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns.“ (1. Joh. 1,8). Und der hl. Apostel Jakobus behauptet sogar: „In vielen Dingen fehlen wir alle.“ (Jak. 3,2). Wir alle! In vielen Dingen!
Damit sind die täglichen Schwächen und Armseligkeiten gemeint, damit sind die läßlichen Sünden gemeint, denen wir unterworfen sind. Weil die läßliche Sünde ein so allgemeines Phänomen ist, verdient sie eine genauere Behandlung. Dazu wollen wir folgende Fragen beantworten:
- Wann begeht man eine läßliche Sünde?
- Wie sind die läßlichen Sünden zu beurteilen?
- Was ziehen die läßlichen Sünden nach sich?
Das Wesen der läßlichen Sünde
Die erste Frage, wie man die läßliche Sünde begeht, haben wir eigentlich indirekt schon beantwortet. Alle Sünden sind nämlich entweder Todsünden oder läßliche Sünden. Wenn bei der Todsünde drei Wesensmerkmale zusammentreffen müssen, so folgt daraus, daß alle übrigen Sünden, bei denen eines der drei zur Todsünde notwendigen Merkmale fehlt, läßliche Sünden sind.
D.h. „läßlich“ sind all jene Sünden, worin das Gesetz Gottes 1. nur in einer geringfügigeren Sache freiwillig übertreten wird; oder 2. wo die klare Erkenntnis des Bösen unverschuldeter Weise gefehlt hat; oder 3. wo die volle Zustimmung des Willens nicht gegeben war. Müssen für eine Todsünde alle Merkmale zusammentreffen, so genügt es für eine läßliche Sünde, wenn nur eines dieser drei genannten Merkmale gegeben ist.
Als gering gilt eine Sache, wenn sie an sich nicht bedeutend ist. An sich von geringer Bedeutung wäre es beispielsweise, wenn man das Morgen- und Abendgebet unterläßt; oder wenn man sich beim Gebet freiwillig den Zerstreuungen hingibt; wenn man dem Hang zur Bequemlichkeit etwas nachgibt; wenn man unbedacht tratscht; wenn man die Augen nicht im Zaum hält; oder wenn man seine schlechte Laune nicht beherrscht. – Jeder begreift, daß solche Dinge die gnadenhafte Freundschaft mit Gott nicht zerstören; daß sie das Band der übernatürlichen Liebe, welches uns mit Gott verbindet, nicht zerreißen. Im Vergleich zum „Balken“ der Todsünde handelt es sich dabei nur um „Splitter“ (Mt. 7,5). Das „nur“ ist freilich immer in Anführungsstriche zu setzen. Denn, wie wir noch sehen werden, sind läßliche Sünden in ihrer Gefährlichkeit nicht zu unterschätzen.
Zu den geringfügigen Dingen zählen sodann auch Angelegenheiten, die zwar an sich bedeutend sind, jedoch nur im geringen Maß übertreten werden. So ist z.B. die Trunkenheit an sich eine schwere Sünde. Wenn man sich jedoch nicht stark betrinkt, so fehlt man „nur“ läßlich. Die Ungerechtigkeit ist an und für sich schwere Sünde. Wenn man dem Nächsten jedoch nur etwas Geringfügiges vorenthält, worauf er einen Anspruch hat, oder wenn man dem Nächsten etwas von geringem Wert wegnimmt, beschädigt oder zerstört, so fehlt man „nur“ läßlich. – Der Geiz ist an und für sich eine schwere Sünde. Wenn man ihm aber nur in einer unwichtigen Angelegenheit nachgibt, so verfehlt man sich „nur“ läßlich. Das gleiche ist der Fall beim Zorn, beim Neid, beim Stolz, bei der Trägheit usw. – Eine einzige Ausnahme bildet die Unkeuschheit. Hier genügt nach der Lehre des Heilandes bereits ein unkeuscher Gedanke zur Todsünde, wenn man sich ihm mit vollkommener Erkenntnis und freiem Willen überläßt: „Jeder, der eine Frau mit Begierde nach ihr anblickt,“ sich also in Gedanken an ihr vergeht, „der hat schon im Herzen mit ihr die Ehe gebrochen.“ (Mt. 5,28).
Der läßlichen Sünde macht sich ferner schuldig, wenn man nicht die hinlängliche Erkenntnis des Bösen hat, oder wenn man nicht vollkommen einwilligt. Wenn z. B. jemand unverschuldeter Weise etwas für eine läßliche Sünde hält, obwohl es in Wirklichkeit Todsünde ist, der versündigt sich nur läßlich, wenn er darin einwilligt oder es tut.
Oder jemand weiß zwar, daß etwas Todsünde ist, aber er gibt nicht seine volle Zustimmung. – Etwa weil die freie Wahl seines Willens in dem Augenblick der sündhaften Tat gehemmt ist. Das kann der Fall sein wenn die Sünde aus einer starken, der Tat vorangehenden Leidenschaft hervorgeht, die den Willen hinreißt, seine Zustimmung zu geben. Der sündhaften Tat vorausgehende Furcht oder Zorn oder Begierlichkeit mindern die Schuldbarkeit, weil sie die Freiheit des Urteils und der freien Wahl mindern. – Demgegenüber mindert die nachfolgende oder freiwillige Leidenschaft die Schwere der Sünde nicht, sondern vermehrt sie.
An dieser Stelle wären wir wieder an dem Punkt angelangt, an dem der hl. Augustinus zu sagen pflegte: „Es ist äußerst hart zu finden, welches schwere und welches leichte Fehler sind.“ Man muß die Sache oft dem Urteil Gottes und dem des Beichtvaters überlassen.
Die unterschiedliche Gewichtung der läßlichen Sünden
Wie sind nun die läßlichen Sünden zu bewerten? Wie sind sie einzuschätzen? – Antwort: Es kommt auf die Art und Weise an, wie man sie begeht. Die läßlichen Sünden werden nämlich von ihrer Ursache her in zwei Gruppen unterschieden: Es gibt solche läßliche Sünden, die aus Schwäche unterlaufen, und solche, die mit Bedacht begangen werden.
a) Die aus Schwäche begangenen läßlichen Sünden
Wir alle haben von der Erbsünde her eine sehr hinfällige und gebrechliche Natur und begehen daher vielfach Fehltritte aus Schwachheit. Davon ist in der Heiligen Schrift öfters die Rede. So heißt es im Buch der Sprichwörter Salomons: „Selbst der Gerechte fällt siebenmal.“ (Spr. 24,16) Und an anderer Stelle: „Wer kann sagen: Mein Herz ist schuldlos, und ich bin von Sünden rein?“ (Spr. 20,9).
Jeder, der nur einen geringen Grad an ehrlicher Selbsterkenntnis besitzt, der wird dem Gesagten aus tagtäglicher Erfahrung zustimmen müssen und mit dem hl. Paulus bekennen: „Das Wollen liegt mir nahe, aber das Vollbringen des Guten vermag ich nicht. Denn nicht, was ich will, das Gute, tue ich; sondern was ich nicht will, das Böse, vollbringe ich. Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das dem Gesetz meiner Vernunft widerstreitet und mich zum Sklaven des Gesetzes der Sünde macht, das in meinen Gliedern ist. Ich unglückseliger Mensch! Wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes.“ (Röm. 7,17-18.23-24).
Wenn wir am Abend das Gewissen erforschen, so werden wir mit Gewißheit finden, daß wir während des Tages bald in dieser, bald in jener Sache übereilt gedacht, geurteilt, geredet, gehandelt oder etwas verweigert haben. Daß wir bald diesen, bald jenen Fehltritt begangen haben. Das ist sogar bei den heiligmäßigsten Personen der Fall. Bei jenen also, die bereits einen hohen Grad der Tugend erlangt haben, in denen die sieben Gaben des Heiligen Geistes weit entfaltet und wirktätig sind, und die sich aufgrund ihrer großen Gottesliebe äußerste Mühe geben, das Böse zu meiden.
Ja, die unfehlbare Kirche lehrt auf dem Konzil von Trient als Dogma, daß niemand ohne eine außerordentliche Gnade und ohne ein göttliches Privileg, wie es der unbefleckt empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria zuteil wurde, imstande ist, während dieses irdischen Lebens alle und jede läßliche Sünde zu meiden (vgl. DH 1573).
Wie sind nun solcherlei Sünden zu bewerten? Wenn die läßlichen Sünden lediglich von der menschlichen Schwäche her stammen, so sind sie milde zu bewerten. Sie sind wie der unausweichliche Straßenstaub, den wir uns tagtäglich aus dem Gesicht waschen. Gott läßt es zu, daß selbst die heiligmäßigsten Personen aus Schwachheit fehlen, um sie in der Demut zu erhalten bzw. um sie noch tiefer in diese Tugend einzuführen. Darum soll man darüber nicht mutlos und kleinmütig werden. Aufgrund der eigenen Schwäche den Mut sinken zu lassen, wäre ein gefährliches Warnzeichen des ausgewachsenen Stolzes, der die eigene Gebrechlichkeit und Hinfälligkeit nicht akzeptieren will. Durch diesen Kunstgriff stürzt der Teufel nicht selten eine Seele ins Verderben.
Stattdessen soll man sich allabendlich für die Armseligkeiten des Tages vor Gott verdemütigen, um Verzeihung bitten, dann aber ruhig sein; denn schon durch einen aufrichtigen Akt der Reue werden diese Fehler aus Schwäche nachgelassen und ausgetilgt.
Anders verhält es sich bei der zweiten Art läßlicher Sünden!
b) Die mit Bedacht begangenen läßlichen Sünden
Es gibt viele Menschen, die zwar keine Todsünde begehen wollen und auch um keinen Preis der Welt eine solche verüben würden. Jedoch mit läßlichen Sünden nehmen sie es ganz und gar nicht so genau.
Jahrein und jahraus sind sie geschwätzig, ungeduldig, unbescheiden, überheblich, naschhaft, lieblos, rücksichtslos, zornmütig, unzufrieden, rechthaberisch, eigensinnig, freventlich urteilend, unverträglich und nachtragend, ohne alle Andacht beim beten, ohne alle Sammlung beim Empfang der hl. Sakramente, unaufmerksam bei der Predigt, wählerisch bei Tisch, ohne Selbstbeherrschung usw. usf.
Diese Sünden haben diese Seelen schon hundertmal gebeichtet und immer wieder aufs Neue begangen. Sie wissen es gut, daß sie diese Fehler an sich tragen und dennoch wenden sie keine Mühe, geschweige denn die notwendigen Mittel an, um besser zu werden. Ja, sie begehen diese Fehler oftmals mit allem Bedacht und mit klarer Erkenntnis. Sie beruhigen sich mit Gedanken: „Es sei ja keine Todsünde.“ „So bin ich halt nun einmal.“ „Andere nehmen sich da noch viel mehr heraus, als ich es tue.“ – Diese Art läßlicher Sünden muß als gefährlich eingestuft werden!
„Überlegte läßliche Sünden“ töten zwar nicht das Gnadenleben stellen aber ein großes Hindernis für das Wachstum der übernatürlichen Gottesliebe dar. Demjenigen, der sie begeht, mangelt es an kindlicher Gottesliebe. Es mangelt ihm an Abscheu vor der Sünde. Es mangelt ihm an aufrichtiger Sorge für das Heil seiner Seele. Er erkennt in der Sünde nicht das größte Übel. Durch die „überlegte läßliche Sünde“ zeigt die Seele, daß sie sich selbst oder die Anhänglichkeit an ein Geschöpf, mehr liebt als Gott. Weil der „freiwilligen läßlichen Sünde“ eine Gleichgültigkeit innewohnt, die sich nicht scheut Gott in kleinen Dingen zu beleidigen, findet sich in ihr meist die Ursache, warum auch fromme, praktizierende Katholiken, die ein intensives Gebetsleben pflegen, regelmäßig beichten und häufig kommunizieren, über Jahre hinweg kaum bis gar keine Fortschritte machen.
Die mit Bedacht begangenen läßlichen Sünden, müssen unbedingt bekämpft werden, denn sie bergen große Gefahren in ihren Folgen. – Welche Folgen sind das?
Die Auswirkungen der läßlichen Sünde
Drei gefährliche Wirkungen wohnen der läßlichen Sünde inne: 1. Die Schwächung des Gnadenlebens. 2. Die Vermehrung zeitlicher Strafen. Und 3. die Stärkung der bösen Neigungen.
a) Die Schwächung des Gnadenlebens
Wenn die Todsünde das übernatürliche Leben der heiligmachenden Gnade tötet, dann ist die läßliche Sünde im Vergleich dazu eine Verwundung. Eine Wunde schwächt den Organismus.
So mancher hat vielleicht schon die Erfahrung gemacht, daß es in den ersten Tagen nach einer guten Beichte vergleichsweise leicht fällt, den Vorsatz einzuhalten, die nächste Gelegenheit zu meiden, die Versuchung sofort und konsequent zu bekämpfen. Aber je länger die letzte Beichte zurückliegt, desto mehr nimmt diese Bereitschaft, diese innere, übernatürliche Vitalität ab. Der Eifer erlahmt. Die Versuchungen werden immer behäbiger zurückgeworfen. Es fällt zunehmend schwerer sich zu überwinden. Man hört damit auf, die nächste Gelegenheit zur Sünde zu meiden. – Die Ursache hierfür findet sich meist in der „freiwilligen läßlichen Sünde“. Wiederholt schlagen wir uns Wunden, welche das Leben der Gnade in unserer Seele schwächen, bis wir gleichsam ausgeblutet sind.
Hinzukommt, daß wir Gott damit sehr mißfallen, wenn wir ihn freiwillig in kleinen Dingen beleidigen. Er entzieht uns Sein Wohlgefallen, läßt uns nicht in den Kreis Seiner trauten Freundschaft zu. Ja, noch schlimmer! Er entzieht sich der Seele – wenn auch nicht ganz – so doch in beträchtlichem Maß.
Dabei verhält sich Gott gegen den Menschen in ähnlicher Weise, wie sich der Mensch gegen Gott verhält. Ist eine Seele darauf bedacht, alles zu meiden, was Gott betrüben könnte, so wird Er die Schleusen der göttlichen Güte öffnen und die Seele mit allen Schätzen der Gnade überhäufen. Genauso, wie es Christus gesagt hat: „Wer hat, dem wird gegeben, und er wird im Überfluß haben.“ (Mt. 13,12). Wenn hingegen eine Seele gegen Gott gleichgültig wird, wenn sie ihn mit läßlichen Sünden – besonders mit „freiwilligen läßlichen Sünden“ beleidigt, dann zieht er sich von ihr zurück. Deshalb fuhr der Herr auch fort: „Wer aber nicht hat, dem wird auch noch genommen, was er hat.“ (ebd.).
b) Die zeitlichen Strafen
Das Versiegen der göttlichen Gnade ist die erste Wirkung und in gewisser Weise auch die erste Strafe für die läßliche Sünde. Sie zieht aber noch andere zeitliche Strafen nach sich. Strafen, die in diesem Leben über uns kommen oder nach dem Tod im Fegfeuer abgebüßt werden müssen.
Die Heilige Schrift ist voll von Beispielen, wie Gott kleine Sünden schon in diesem Leben gestraft hat. Klein war die Sünde der Gattin des Lot. Nur ein neugieriger Blick zurück auf das göttliche Strafgericht über Sodom und Gomorrha, aber groß war die Strafe. Sie erstarrte zur Salzsäule (vgl. Gen. 19,26).
Klein war die Sünde der Mirjam, der Schwester des Moses. Nur ein Murren. Und doch war die Strafe groß. Sie wurde mit einem entstellenden Aussatz geschlagen (vgl. Num. 12,10).
Klein war die Sünde des Moses. Ein Mißtrauen gegen Gott. Aber groß war die Strafe. Er mußte in der Wüste sterben und durfte keinen Fuß in das Gelobte Land hineinsetzen (vgl. Num. 27,13).
Klein war die Verfehlung des Oza. Eine Unehrerbietigkeit gegen die Bundeslade, die er vor Schaden zu bewahren suchte. Und überraschend groß war die Strafe. Er sank tot zu Boden (vgl. 2. Kön. 6,7).
Wie damals, so geschieht es auch jetzt. Viele Menschen begreifen es nicht, warum allerlei Unglück, Krankheit, Schmerz und Unfriede über sie selbst oder ihre Familien kommen. Nicht jedes Leid ist hierbei der einem jeden Menschen zugemessene Anteil am Kreuz Christi. Es sind oftmals Strafen für läßliche Sünden. Und obwohl diese Strafen u.U. zeitlebens schwer auf einem Menschen lasten, sind sie doch ein Segen, weil sie die Gelegenheit der Buße und des Verdienstes in sich schließen. Wer sie ergeben annimmt dem kann die Buße ein Quell reichster Verdienste für die Ewigkeit werden.
Aber nicht alle läßlichen Sünden straft Gott in diesem Leben. Wenn Gott die Seele hier verschont, so schwingt Er jenseits die Rute, jedoch mit zehnfacher Schärfe. Es ist eine Forderung der göttlichen Gerechtigkeit und sichere Lehre des katholischen Glaubens, daß die läßlichen Sünden, welche man in diesem Leben nicht getilgt hat, im Fegfeuer abgebüßt werden müssen. Wie in der flammenden Esse die Schlacken vom Gold ausgeschieden werden, ebenso werden im Fegfeuer die Sünden von den Flammen ausgeglüht. Der Prophet Malachias hat Gott bei dieser Arbeit gesehen: „Er sitzt schmelzend und reinigt das Silber und läutert sie wie Gold und Silber.“ (Mal. 3,3).
c) Stärkung der bösen Neigungen
Die dritte und gefährlichste Wirkung der läßlichen Sünde findet sich schließlich darin, daß sie in uns die schlechten Neigungen stärkt und nach und nach den Fall in die Todsünde vorbereitet. Das ist leicht begreiflich. Wenn man den Bach nicht eindämmt, gewinnt er mehr und mehr an Kraft und reißt immer mehr Ackerland mit sich. Wenn man das Unkraut nicht jätet, nimmt es überhand und erstickt die Saat.
Übung macht den Meister! Das gilt im Guten wie im Bösen. Wer immer und immer wieder dieselbe Sünde tut, dem geht sie so in Fleisch und Blut über, daß er gar nicht mehr daran denkt. So wie der Pianist nach Jahren der Übung nicht mehr überlegen muß in welcher Reihenfolge er die Tasten auf der Klaviatur drücken muß. – Stete Wiederholung bildet eine Gewohnheit. Stete Wiederholung schlechter Handlungen bildet eine schlechte Gewohnheit. Die schlechten Neigungen werden immer stärker. Wenn man ihnen nicht entgegentritt und sie bekämpft erstarken sie. Und der Mensch, der die läßliche Sünde nicht beachtet, gibt eben dadurch den bösen Neigungen nach. Sie wachsen und werden größer und stärker. Der Setzling wird zum Baum, der Funke zum Brand. Viele friedlich dahinplätschernde Bäche tun sich zusammen und bilden einen Strom, der alles mit sich reißt. So bereiten viele läßliche Sünden die Todsünde vor.
Der hl. Jakobus mahnt: „Siehe ein kleines Feuer, welch großen Wald zündet es an!“ (Jak. 3,4). Und der hl. Bernhard sagt sehr zutreffend: „Nemo repente fit pessimus.“ – „Niemand wird auf einmal ganz schlecht. Mit kleinen Sünden fangen sie an und hierauf fallen sie in die großen.“ (de ord. vit. et mor.). Gleiches führt der hl. Cassian anschaulich aus: „Die Häuser stürzen nicht in einem Augenblick ein. Der Anfang geschieht durch einen Wassertropfen, welcher allmählich das Holzwerk in Fäulnis verwandelt, dann in das Gemäuer eindringt und es mürbe macht. So kommt es dann, daß das ganze Gebäude schadhaft wird und auf einmal zusammenstürzt. Auf die nämliche Weise kommen die Menschen dahin, daß sie schwere Fehltritte tun und ihren Lebenslauf in großen Sünden beschließen. Anfänglich finden unsere kleinen Lieblingsneigungen gleich kleinen Wassertropfen Eingang, durchdringen und schwächen allmählich die Kräfte der Seele, und so wird sie endlich zugrunde gerichtet, weil man anfangs, da der Schaden noch klein war, keine Abhilfe geschaffen hat.“
Jede Sünde hat ihre Geschichte!
Jeder Fall in die Todsünde hat einen Vorlauf. Man fällt nicht plötzlich und unvermittelt in eine Todsünde! Jeder Todsünde gehen stets läßliche Sünden voran. Die eine gebiert die andere. Die eine schafft die Umstände für die nächste. Die Sünden stehen nicht isoliert für sich. Sie stehen mit einander in lebendigem Zusammenhang, bilden eine Kette, ein Geflecht. Wenn wir also in eine Todsünde fallen sollten, müssen wir das Geflecht bis an den Anfang zurückverfolgen und die Todsünde fortan in ihren läßlichen Anfängen bekämpfen. Jede Sünde hat ihre Geschichte. Auch hierfür finden sich mannigfache Beispiele in der Heiligen Schrift. Ein besonders anschauliches ist das des Königs David (2. Kön. 11).
David ist der gerechte König Israels schlechthin. Ein vom Heiligen Geist inspirierter Dichter und Sänger, ein Liebling Gottes, ein heldenhafter Krieger. In den Königsbüchern werden alle seine Nachfolger an seiner Gerechtigkeit und Gottesliebe gemessen und keiner erreichte ihn. Gott hatte ihn erwählt, ihn aus allen Nöten gerettet, ihn zum König gemacht und seine Herrschaft gefestigt. David stand auf der Höhe seines Lebens. Aber von dieser Höhe stürzte David in sittliche Tiefe. Und auch bei ihm begann der Fall langsam und unauffällig.
David sandte sein Heer aus, um Rabbath, eine Stadt der Ammoriter, zu belagern. Er erteilte dem Feldherrn Joab den Oberbefehl, in dessen Heer auch ein Hethiter namens Urias Kriegsdienst leistete.
David war in Jerusalem geblieben. Er scheute die Strapazen und Entbehrungen des Feldlagers und der Schlacht. Der Fall Davids begann mit der Bequemlichkeit, dem Müßiggang. Er vernachlässigte seine Pflichten als König und befand sich nicht an dem Ort wo er als Anführer hingehörte. – Wenn die Faulheit und der Müßiggang nicht bekämpft werden, führt das stets dazu, daß man die lästigen Standespflichten loszuwerden sucht. Nicht alle Standespflichten, sondern die lästigen! Deshalb sagt der hl. Hieronymus: „Tue immer irgend etwas nützliches, damit der Teufel dich nie müßig finde.“ (Ep. ad Rust.). Das nützlichste, das wir tun können, besteht stets in der Erfüllung unserer Standespflichten – auch und gerade der lästigen.
David war also aus Scheu vor der Mühe nicht an dem Ort wo er hingehörte, sondern zu Hause in seinem Palast in Jerusalem. Es war Sommer. Auch die Nächte waren heiß. Der König konnte nicht schlafen. Was machte er? Er ging auf seiner Dachterrasse umher, um endlich so müde zu werden, daß er schlafen konnte. Dabei ließ er unvorsichtigerweise seine Blicke schweifen. Im 2. Buch der Könige heißt es: „Dabei sah er vom Dach aus eine Frau sich baden.“ Eine Unvorsichtigkeit! Doch statt seine Augen in Zucht zu nehmen und sich abzuwenden schaute David genauer hin, denn weiter heißt es: „Die Frau war von sehr schönem Aussehen.“ Aus der Unvorsichtigkeit wurde Neugier, aus der Neugier wurde Verlangen. Er interessierte sich für diese Frau, fragte seine Diener wer das sei. Sie antworteten dem König: „Das ist Bethsabee, die Tochter des Eliam, die Frau des Hethiters Urias.“ Ah, eine verheiratete Frau also! – Doch was machte David? Weiter lesen wir: „Darauf schickte er Boten, um sie zu holen.“ Statt sich das ungeordnete Verlangen nach dieser Person, die er nicht haben konnte, aus dem Herzen zur reißen; statt seine Begierde zu bekämpfen und seine Leidenschaft in größerer Distanz zu dieser Person wieder abzukühlen, machte David alles noch schlimmer, indem er gerade die unmittelbare Nähe dieser Frau suchte! Natürlich nur, um sie ein bißchen kennenzulernen, um ihr ein paar Komplimente zu machen, nichts weiter. Sie ist ja eine verheiratete Frau. – Eine große Torheit! David überschätzte seine Kräfte. Vielleicht aus einem vermessenen Vertrauen auf Gott, der ihn bisher immer in Schutz genommen hatte. In seinem Zustand begab sich David freiwillig und ohne hinreichenden Grund in die nächste Gelegenheit zur Sünde. Er spielte mit dem Feuer. Und er verbrannte sich. Es geschah, was unter diesen Umständen geschehen mußte. Es blieb nicht bei ein paar Komplimenten. Denn weiter heißt es: „Sie kam zu ihm und er wohnte ihr bei.“ Er beging mit ihr die Sünde des Ehebruches. Unzweifelhaft eine Todsünde!
Aber bei dieser einen ist es nicht geblieben. Denn Bethsabee wurde schwanger. Da ihr Gemahl Urias weit weg auf dem Schlachtfeld kämpfte, konnte er unmöglich der Vater des Kindes sein. Der Ehebruch ließ sich also nicht verheimlichen. Und nach jüdischem Gesetz waren Ehebrecher mit Steinigung zu bestrafen. Was mit etwas Spaß begann, wurde mit einem Mal todernst.
David versuchte nun den Ehebruch zu verschleiern. Er schrieb seinem Feldherrn Joab, er wolle einen Lagebericht vom Kriegsschauplatz und zwar solle er dafür den Hethiter Urias als Berichterstatter abstellen. Urias erschien vor dem König. Er gibt ihm Auskunft über die Lage vor Rabbath. Urias mußte eigentlich damit rechnen, sofort wieder zurück ins Feldlager geschickt zu werden. Doch David gab sich besorgt, um das Wohlergehen des Soldaten. Er solle sich schonen und sich zu Hause bei seiner Frau erfrischen. Das ist die Sünde der Heuchelei, um den Urias dazu zu bewegen, zu seiner Frau zu gehen, um den Ehebruch zu vertuschen. Doch er rechnet nicht mit dem Edelmut des Urias. Dieser übernachtete im Königspalast bei den Knechten des Königs. Darüber wird David am nächsten Morgen Meldung gemacht: „Urias ist nicht in sein Haus hinabgegangen.“ Der König forderte eine Erklärung. Die Antwort des Urias, der wohlgemerkt kein Jude war, bewies einen bewundernswerten Tugendgrad: „Die Bundeslade sowie das Heer wohnen unter Laubhütten, und mein Gebieter Joab sowie die Knechte meines Gebieters lagern auf freiem Feld, und da sollte ich in mein Haus gehen, um zu essen und zu trinken und bei meiner Frau zu schlafen? So wahr Jahwe lebt und so wahr du lebst, so etwas tue ich nicht.“ – Daraufhin unternahm David einen zweiten Versuch. Er verführte den Urias zur Trunkenheit und meinte ihn im Rausch in die Arme seiner Frau lenken zu können. – Jemanden zu einer schweren Sünde zu verführen ist schwere Sünde. Aber auch dieser Versuch scheiterte. Von Urias heißt es: „Aber am Abend ging er hinaus, um sich bei den Knechten seines Herrn zur Ruhe zu legen. In sein Haus ging er jedoch nicht hinunter.“ Die soldatische Ehre erzürnte den König. Haß stieg in ihm auf; und mit dem Haß die Überzeugung, daß es besser wäre, wenn dieser Urias nicht mehr da wäre. Die Rechtschaffenheit des Urias wurde ihm unmerklich zur Ursache für sein Todesurteil. David setzte sich hin und faßte erneut einen Brief an seinen Feldherrn Joab ab. Darin befahl er: „Stelle den Urias in den heftigsten Kampf. Dann zieht euch hinter ihn zurück, so daß er getroffen wird und stirbt.“ David befiehlt den Mord an einem ehrenwerten Mann. Und dazu gesellt sich noch der Gipfel der Bosheit, nämlich der Zynismus. David bestellte den Urias ein, drückte ihm den Brief in die Hand und ließ ihn als Boten sein eigenes Todesurteil überbringen. – Der Feldherr las den Befehl, ordnete den Sturm auf die Festung an und stellte Urias in die erste Schlachtreihe. Plötzlich das Rückzugssignal. Urias fiel und wenig später heiratete David die junge Witwe. David mochte glauben, seine Tat bliebe geheim. Doch heißt es weiter in der Heiligen Schrift: „Aber die Tat, die David verübt hatte, mißfiel dem Herrn.“ – Erst nach einem Jahr sandte Gott den Propheten Nathan, um den König mit seiner Schuld zu konfrontieren. Der König bereute und gestand seine Schuld ein. Erst kleinlaut, dann mit dem Bußpsalm 50. Gott schonte das Leben Davids aufgrund seiner aufrichtigen Reue, doch strafte er ihn schwer. Das Kind mußte sterben und sein Haus sollte keinen Frieden mehr finden. Dafür, daß David die Familie des Urias zerstört hatte, sollte ihm bis zu seinem Tod aus der eigenen Familie viel Leid und Kummer, ja sogar Verfolgung durch einen seiner eigenen Söhne entstehen.
Dies ist also die lange Geschichte einer Mordsünde. Ein harmloser Beginn. Ein bißchen Trägheit und Bequemlichkeit. Man gönnt sich ja sonst nichts. Daraus erwuchs die mangelnde Wachsamkeit. Es folgen unvorsichtige Blicke. Die Neugier wird geweckt, die Neugier an etwas, was man besser nicht sehen sollte. Die Augenlust weckt die Fleischeslust, welche wiederum die Flucht vor der Gelegenheit als einzig wirksames Heilmittel vergessen macht. Aus dem sündhaften Verlangen wird die unkeusche Tat des Ehebruches. Dieser mußte vertuscht werden durch eine Lüge. Urias sollte glauben, das Kind sei sein eigenes. Dieses verlogene Vorhaben gebiert die fremde Sünde der Verführung zur Trunksucht. Schließlich fallen alle Hemmungen, und es wird aus dem Zorn über die Rechtschaffenheit des Urias der Haß; aus dem Haß wird der Mordplan; aus dem Mordplan die fremde Sünde des Mordbefehles und daraus wiederum der Mord selber geboren.
Jede Sünde hat ihren Ursprung in früheren Gedanken- und Tatsünden. Wir müssen unsere großen Sünden auf ihre Ursprungssünden zurückverfolgen. Und wir werden dort ganz am Anfang mit Gewißheit auf läßliche Sünden stoßen. Daran müssen wir erkennen, welch verderbliches Potential in den läßlichen Sünden, vor allem in den freiwilligen läßlichen Sünden liegt, und sie mit allem Eifer bekämpfen. Hüten wir uns vor der läßlichen Sünde wie vor einer Schlange. Legen wir diesen Vorsatz heute auf den Altar und fangen wir heute noch an ihn auszuführen, indem wir uns – gestärkt durch die Speise der heiligen Kommunion – bemühen in allem, auch in den kleinen Dingen, treu zu sein. Denn wie der Heiland sagt: „Wer im Geringsten treu ist, der ist auch treu im Größeren, und wer im Kleinen ungerecht ist, der ist auch ungerecht im Größeren.“ (Lk. 16,10). Amen.