Sonntag Quinquagesima
Was ist die Sünde?
Geliebte Gottes!
Der Herr schickt sich an hinaufzuziehen nach Jerusalem, um dort alles zu erfüllen, was die Propheten von Ihm geschrieben haben. Christus tritt den Leidensweg an, weil der Mensch gesündigt hat. Er ruft die Apostel, Ihn zu begleiten, doch diese verstehen Ihn nicht. Sie bleiben teilnahmslos, weil sie nicht begreifen, was die Sünde ist. Und weil sie nicht begreifen, was die Sünde ist, deshalb können sie auch die Notwendigkeit für deren Sühne und Wiedergutmachung durch das Kreuz nicht einsehen. „Diese Rede war für sie dunkel, und sie begriffen nicht, was damit gemeint war.“ Sie waren geistig blind.
Womöglich geht es uns ähnlich wie den Aposteln. Ab Mittwoch beginnt die strenge Fastenzeit, und der Gedanke daran weckt in uns vielleicht statt Bußeifer und Opferwille eher Unlust, womöglich sogar Widerwillen. Wenn es so sein sollte, dann liegt es vor allem daran, daß wir nicht einsehen, daß wir einzig auf dem Weg der Buße zum Heil der Auferstehung gelangen können. Die Blindheit für die Notwendigkeit der Abtötung, welche uns die Fastenzeit auferlegt, rührt v.a. daher, daß wir nicht einsehen, was die Sünde ist.
Wenn also auch wir blind sein sollten wie die Apostel, so wollen wir wie der Blinde von Jericho voll Vertrauen rufen: „Jesus, Sohn Davids, erbarme Dich meiner! Herr, mach, daß ich sehe!“ Daß ich anhand der Heiligkeit und Güte Gottes die Bosheit der Sünde erkenne, sie aus tiefster Seele verabscheue und in wahrem Bußeifer Dir nachfolge, wie Du es von Deinen Jüngern forderst: „Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, der nehme sein Kreuz auf sich und folge Mir nach“ (Mt. 16,24).
Um einen größeren Abscheu vor der Sünde zu entwickeln, müssen wir verstehen was es mit dem „Geheimnis der Bosheit“ auf sich hat. Deshalb wollen wir ab heute damit beginnen, von der Sünde zu sprechen. Und zwar in einem ersten Schritt: Von der Sünde im Allgemeinen.
Wir wollen heute nur die eine Frage klären, worin das Wesen der Sünde besteht. Wir wollen fragen: Was ist die Sünde? – Im Katechismus finden wir die Antwort: „Die Sünde ist eine freiwillige Übertretung des göttlichen Gesetzes.“
Aus dieser kurzen Definition wird schon klar, daß zu jeder Sünde drei Dinge gehören:
- Ein Gesetz.
- Die Übertretung. Und
- die Freiwilligkeit.
Nur wenn diese drei Dinge zusammenkommen, liegt der Tatbestand der Sünde vor. Wo von diesen drei Dingen eines oder mehrere fehlen, da kann von Sünde keine Rede sein.
Das Gesetz
Jede Sünde setzt voraus, daß es ein Gesetz gibt. Darunter versteht man zuallererst die Gebote Gottes, die Er Selbst unmittelbar erlassen hat. Diese hat der Ewige und Allmächtige Selbst auf dem Berg Sinai dem Volk der Israeliten unter Blitz und Donner mit erschütternder Feierlichkeit gegeben.
Unser göttlicher Erlöser, Jesus Christus, hat die Gebote des Dekalogs sodann bestätigt, indem Er sprach: „Ich bin nicht gekommen das Gesetz aufzuheben, sondern es zu erfüllen.“ (Mt. 5,17). Das Evangelium unseres Herrn ist eigentlich nichts anderes, als eine nähre Erklärung und tiefere Auslegung der göttlichen Gebote. Es ist die Vollendung und Vervollkommnung des alttestamentlichen Gesetzes. Deshalb sind viele vorbereitende und damit vorläufige Gesetze des Alten Bundes weggefallen und durch das vollendete und vollkommene Gesetz des Evangeliums ersetzt worden. – Doch das Gesetz Gottes erschöpft sich nicht in den geoffenbarten Geboten.
Es erstreckt sich auch auf die Gesetze, welche von den Stellvertretern Gottes erlassen werden. Also die Gebote der von Gott gesetzten Obrigkeit. Der hl. Paulus sagt: „Jeder unterwerfe sich der obrigkeitlichen Gewalt; denn es gibt keine Gewalt, außer von Gott; und die, welche besteht, hat Gott angeordnet. Wer sich demnach der obrigkeitlichen Gewalt widersetzt, der widersetzt sich der Anordnung Gottes.“ (Röm. 13,1). – Die obrigkeitliche Gewalt ist nun aber eine zweifache: Da ist zum einen die kirchliche Gewalt. Die katholische Kirche ist die Stellvertreterin Gottes, die von Gott gestiftet wurde, um die Völker zu lehren, zu heiligen und zu leiten. Dazu wurde ihr die Autorität Gottes übertragen. Was sie befiehlt, das befiehlt der allerhöchste Herr des Himmels, der durch den Mund der Päpste und Bischöfe zur Menschheit redet. „Wer euch hört, der hört Mich.“ (Lk. 10,16). – Sodann ist da die weltliche Gewalt. Durch sie befehlen diejenigen im Namen Gottes, die im Staat die gesetzgebende, ausführende und richterliche Gewalt inne haben. „Durch Mich regieren die Könige und verordnen die Gesetzgeber“ (Spr. 8,15). Selbst der menschgewordene Gottessohn hat sich der weltlichen Obrigkeit unterworfen und dabei auch den Grund für Seine Unterwerfung erklärt, indem Er zu Pilatus sprach: „Du hättest keine Gewalt über Mich, wenn sie dir nicht von oben herab gegeben worden wäre.“ (Joh. 19,11).
Aber noch weiter senkt sich die göttliche Gesetzeskraft auf unser alltägliches Leben herab; bis in unsere Familien und in den Berufsalltag hinein. Alle Untergebenen – sei es in Familie oder im Beruf – belehrt der hl. Paulus im Epheserbrief über ihre Gehorsamspflicht: „Ihr Knechte! Gehorcht euren leiblichen Herrn mit Furcht und zittern in der Einfalt eures Herzens, so wie Christus; nicht in Augendienerei, um den Menschen zu gefallen, sondern als Diener Christi, die den Willen Gottes tun und mit gutem Willen dienen, gleichsam dem Herrn und nicht den Menschen.“ (Eph. 6,5 f.). Wenn also Kinder den Eltern, Untergebene den Vorgesetzten oder Untertanen dem Staat zuwiderhandeln, so übertreten sie zwar ein menschliches Gesetz, in Wirklichkeit aber immer auch ein göttliches Gebot – nämlich das vierte.
Die einzige Einschränkung, die bei der Gesetzeskraft der weltlichen Obrigkeit zu machen ist, besteht darin, daß ihre Gesetze nicht im Gewissen binden, wenn etwas befohlen wird, was den Geboten Gottes widerspricht. Wenn die weltliche Obrigkeit so etwas tut, dann handelt es sich dabei um einen Mißbrauch ihrer Amtsgewalt. Folglich fallen solche dem göttlichen Gebot widersprechenden Anordnungen selbstverständlich nicht unter das Gesetz Gottes. Im Gegenteil! In diesem Fall darf man ihnen sogar nicht gehorchen. Wenn die weltliche Obrigkeit etwas anordnet, was dem göttlichen Gesetz widerspricht, dann gilt, was der hl. Petrus sagte: „Man muß Gott mehr gehorchen, als den Menschen.“ (Apg. 5,29).
Das Gesetz ist etwas Heiliges, oder doch etwas Gutes, oder etwas Notwendiges, oder wenigstens etwas Erlaubtes. Es ist eine Anordnung, die Gott Selbst unmittelbar gegeben hat, oder die Er mittelbar durch Seine Stellvertreter in Kirche, Staat und Familie, durch die Pflichten des Lebens- und Berufsstandes anordnet. Jedes Gesetz sagt entweder, was wir tun sollen. Man spricht dann von einem „Gebot“. Oder es sagt, was wir nicht tun dürfen. Dann handelt es sich um ein „Verbot“. – Jede Sünde setzt also ein Gesetz voraus!
Die Übertretung
Von Sünde kann aber erst dann die Rede sein, wenn zu dem Gesetz die Übertretung hinzutritt – also die Verletzung des Gesetzes. – Bildlich gesprochen ist das Gesetz mit einem Weg vergleichbar, auf dem wir entlanggehen sollen. Ein Weg, der uns zum Frieden auf Erden und zur ewigen Seligkeit im Himmel führt. Gewiß, dieser Weg ist bisweilen steil, eng und beschwerlich. Wer nun von diesem Weg abweicht und das tut, was verboten ist, oder nicht tut, was geboten ist, der übertritt das Gesetz.
Das Gesetz stellt eine sittliche Meßlatte auf, die der Mensch reißt, wenn die Handlung des Menschen unter der gesetzlichen Forderung bleibt. – Hier müssen wir noch einmal auf das vorhin angeführte Wort Jesu zurückkommen: „Ich bin nicht gekommen das Gesetz aufzuheben, sondern es zu erfüllen.“ Eine wichtige Aussage im Hinblick auf das Wesen der Sünde! Gott verlangt von uns buchstäblich die Forderung der Gebote zu „erfüllen.“ Das heißt, die Gesetzesforderung voll zu machen „bis an den Rand“. So, wie der Wirt ein Glas am Ausschank bis zum Füllstrich voll machen muß, damit er das geschuldete Maß erfüllt hat. Das staatliche Gesetz gibt das Eichmaß vor, das der Wirt erfüllen muß, um seine Schuldigkeit dem Gast gegenüber zu erfüllen. Füllt er zu wenig ein, so ist das Glas nicht voll und der Wirt begeht eine Ungerechtigkeit gegenüber dem Kunden. Er bleibt ihm etwas schuldig.
Der Vergleich ist folgender: Das Gebot Gottes ist dem geeichten Glas vergleichbar. Das 8. Gebot etwa – „Du sollst nicht lügen“ – gebietet uns, bildlich gesprochen, das volle Maß der Wahrheit einzuschenken. Nur wenn wir nicht mehr und nicht weniger als die Wahrheit sagen, erfüllen wir dieses Gebot. Weichen wir von der Wahrheit ab, so erfüllen wir das Gebot nicht. Die Lüge bleibt unter dem geschuldeten Soll an Wahrhaftigkeit.
Was hat das mit dem Wesen der Sünde zu tun? – Durch dieses Beispiel wird uns das Wesen der Sünde veranschaulicht. Denn oft denken wir fälschlich, daß die Sünde etwas Seiendes ist, das nicht da sein sollte. Wir denken, die Sünde habe ein Dasein, das von uns bekämpft werden muß. Aber so ist es nicht! Die Sünde ist ein Mangel! Die Sünde ist ein Zuwenig. Sie ist etwas, was da sein müßte, aber in Wirklichkeit nicht da ist. Sie ist das Loch im Käse, oder eben die leere Luft zwischen dem Füllstrich am Glas und der tatsächlichen Füllhöhe eines nur zur Hälfte gefüllten Glases. Die Sünde ist ein Mangel, ein Mangel sittlicher Güte! Die Lüge etwa ist ein Mangel an Wahrhaftigkeit. Die Unkeuschheit ein Mangel an Schamhaftigkeit. Der Zorn ist ein Mangel an Sanftmut. Der Stolz ein Mangel an Demut, usw.
Das ist sehr wichtig zu begreifen. Denn nur so gelangen wir zu einer richtigen Vorstellung, wie die Sünde bekämpft werden kann. Man kann die Sünde nämlich nicht austilgen. Sie ist nicht ein Etwas, dessen Dasein zerstört werden könnte, sondern sie ist ein Mangel, der „erfüllt“ werden muß. Jede Sünde ist ein Mangel der ihr entgegenstehenden Tugend. Folglich kann die Sünde nur bekämpft werden, indem wir durch die Übung der ihr jeweils entgegengesetzten Tugend die sittliche Forderung des Gesetzes erfüllen, „bis an den Rand“.
Solange eine sittliche Handlung in ihrer Güte unter der Forderung des Gesetzes bleibt, „erfüllt“ sie das von Gott gesetzte Maß der Sittlichkeit nicht. Man übertritt das Gesetz. In der Übertretung besteht das zweite Wesensmerkmal der Sünde. Die Sünde ist eine Übertretung des Gesetzes.
Die Freiwilligkeit
Als drittes muß nun hinzukommen, daß die Übertretung freiwillig geschehen ist. Der hl. Augustinus sagt: „Die Sünde ist ein so freiwilliges Übel, daß es auf keine Weise eine Sünde ist, wenn es nicht frei gewollt geschieht.“ Da stellt sich die Frage, was dazugehört, damit die Übertretung des göttlichen Gesetzes frei gewollt ist. Zur Freiwilligkeit gehören zwei Dinge: Einmal die Erkenntnis und zum andern die Einwilligung.
a) Die Erkenntnis
Die Erkenntnis ist gegeben, wenn man weiß, oder es doch wissen könnte, es wissen sollte, ja, es wissen müßte, daß eine gewisse Verhaltensweise das göttliche Gesetz verletzt.
Ein Unwissender sündigt also keineswegs. Ein Kleinkind, das ja noch nicht über den Vernunftgebrauch verfügt, sündigt also nicht, wenn es etwa in heftigen Zorn ausbricht oder unflätige Worte nachplappert, die es irgendwo aufgeschnappt hat. Es kann ja weder seine Leidenschaften beherrschen, noch verstehen, was die schlechten Ausdrücke, die es im Munde führt, überhaupt bedeuten. – Auch geistig behinderte Personen, die den Vernunftgebrauch nicht (mehr) haben, sündigen nicht, auch wenn sie etwas an und für sich sehr Böses tun. – Bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die zum Vernunftgebrauch gelangt sind hingegen, muß die Unwissenheit eine schuldlose sein, daß das an sich sündhafte Verhalten nicht als persönliche Sünde angerechnet wird. Schuldlos ist die Unwissenheit nur dann, wenn der Mensch für seine Unkenntnis wirklich nichts kann. D.h. er hat und hatte tatsächlich keine Möglichkeit, es besser zu wissen.
In den sehr vielen Fällen ist die Unwissenheit jedoch eine verschuldete. Und diese entschuldigt nicht von der Sünde! – Menschen, welche die religiöse Weiterbildung unterlassen, bei der Predigt nicht aufpassen, ihr Gewissen nie erforschen, nie ein geistliches Buch lesen, sind selber schuld an ihrer Unkenntnis. Sie weichen dem „besseren Wissen“ aus. Sie können nicht behaupten: „Ich habe nicht gewußt, daß dieses oder jenes Sünde ist, und werde mich darum wohl nicht vor Gott verfehlt haben.“ O doch, sehr wohl hat sich ein schuldbar Unwissender verfehlt! Denn er hätte es ganz leicht wissen können, wenn er nur gewollt hätte. Eine Unkenntnis aus geistiger Trägheit und Faulheit oder gar aus Berechnung – ganz nach dem Motto „Ich will es gar nicht wissen“ – ist frei gewollt! Damit ist aber dann auch die in faktischer Unkenntnis getane Sünde frei gewollt! – Das Sprichwort: „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“ (nämlich im Fegfeuer bzw. in der Hölle), ist nur dann wahr, wenn die Unwissenheit unverschuldet ist.
Wie verhält es sich aber, wenn man das göttliche Gesetz in Unbedachtsamkeit oder in Übereilung übertritt. Das geschieht oft. Man handelt in Eile, ohne sich zunächst dabei bewußt zu sein, daß das, was man tut, falsch und sündhaft ist. Erst danach sieht man, was geschehen ist. – Man sagt ein schlechtes Wort aus dem Affekt; oder es wird einem gerade in dem Augenblick, da man das Stück Wurst in den Mund nimmt, bewußt, daß heute Freitag ist. Der Umstand der Übereilung oder der Unbedachtsamkeit kann zwar die Schuld verkleinern, wodurch eine an sich schwer sündhafte Tat lediglich eine läßliche Sünde ist. Trotzdem ist eine Sünde geschehen – nämlich eine Sünde gegen die Tugend der Klugheit – und in der Seele bleibt ein Makel zurück. Einzig ausgenommen ist der Fall, wenn die Unbedachtsamkeit oder Übereilung so groß war, daß man im Augenblick der Handlung überrumpelt oder nicht zurechnungsfähig gewesen wäre.
Kurz: Die Einwilligung setzt die Erkenntnis voraus. Je klarer die Erkenntnis, um so unentschuldbarer ist die Übertretung des Gebotes.
b) Die Einwilligung
Schließlich gehört zur Sünde wesentlich die Einwilligung. Sie besteht in der inneren Zustimmung des Willens. Man erklärt sich im Herzen mit der Übertretung des göttlichen Gesetzes einverstanden. Die Einwilligung ist der letzte entscheidende Faktor. Fehlt die Einwilligung, dann liegt keine Sünde vor.
Der Mensch wird ja oft zum Bösen versucht. Das Fleisch, die böse Welt und die Hölle stürmen heran und werfen die giftigen Pfeile ihrer Versuchungen auf ihn, entfachen flammende Gluten der niederträchtigsten Bosheit und Schwelbrände abscheulichster Leidenschaften. Solange man der Anfechtung aber widersteht und an der Sache kein freiwilliges Wohlgefallen hat, verfehlt man sich keineswegs, sondern – im Gegenteil – man gewinnt durch den Widerstand nur Verdienste für den Himmel. Sonst könnte es nicht im Brief des hl. Apostels Jakobus heißen: „Selig der Mann, welcher die Anfechtung aushält; denn wenn er bewährt worden ist, wird er die Krone des Lebens empfangen.“ (Jak. 1,12). Solange wir die Versuchung abweisen, sündigen wir nicht, sondern bewähren uns als Streiter Christi im geistlichen Kampf.
Ferner liegt keine Sünde vor, wenn man zu einer sündhaften Handlung durch physische Gewalt gezwungen wird, solange dabei der Wille nur seine innere Zustimmung in die Sache verweigert. – So ist es beispielsweise in der Verfolgungszeit geschehen, daß man die Christen vor die heidnischen Götzenbilder geschleppt hat, ihnen Weihrauch in die Hand gedrückt und diese gewaltsam über dem Kohlebecken umgekehrt hat, so daß die Körner in die Opferglut fielen. Dann sagte man ihnen: „Ihr habt geopfert und seid eben dadurch von Christus abgefallen.“ Doch das war keineswegs der Fall! Es fehlte die Einwilligung, die innere Zustimmung der Christen.
Wenn daher, um noch ein Beispiel anzuführen, eine Frau mit Gewalt angegriffen und trotz ihrer Gegenwehr zu etwas Schändlichem gezwungen wird, so kann von einer Sünde nicht die Rede sein, solange sie keinen Augenblick lang ihre innere Einwilligung gibt; solange sie die womöglich dabei entstehenden Lustgefühle innerlich abweist und so unnachgiebig ihre Zustimmung verweigert.
Wir dürfen uns jedoch nicht täuschen! Indem wir sagen, eine Sünde liegt nur dann vor, wenn eine Gesetzesübertretung freiwillig geschehen ist, so ist damit nicht gemeint, daß diese Übertretung immer „gern“ geschehen muß. Man kann sehr wohl etwas mit freiem Willen tun, was man doch nicht gern tut. – Pilatus beispielsweise willigte ein, daß Jesus gekreuzigt werden sollte. Er tat das nicht gerne, wie eindeutig aus dem Evangelium hervorgeht. Eine Zeitlang hat er dem Drängen der Hohepriester sogar löblicherweise Widerstand geleistet. Doch hat er darin nicht standgehalten, sondern nachgegeben. Um den drohenden Übeln eines Volksaufstandes und der Diskreditierung beim Kaiser zu entgehen, gab er schließlich doch seine Zustimmung zu dem Mordplan. Das war die sündhafte Einwilligung. Aufgrund der Umstände ist die Schuld des Pilatus freilich geringer, als die der Feinde Jesu, welche das Volk aufwiegelten und den römischen Statthalter nötigten, ihnen zu willfahren. Nichtsdestotrotz hat Pilatus seine freie Zustimmung zu dem ungerechten Todesurteil gegeben und Jesus der Kreuzigung überantwortet. – Wenn wir also von anderen zur Sünde gedrängt, genötigt, verführt oder überredet werden, dann können wir unsere Hände nicht von Schuld rein waschen. Denn die Zustimmung haben wir selber gegeben.
Ist nämlich die Einwilligung einmal erfolgt – und sei es auch nur für einen kurzen Augenblick – dann ist die Sünde vollbracht. Ja, die Sünde ist da, selbst wenn man die Einwilligung in den bösen Gedanken sofort widerruft; selbst wenn man die Ausführung der bösen Tat unterläßt oder unterlassen muß.
Beispielsweise beschließt jemand, an seinem Feind Rache zu nehmen. Aufgrund bestimmter Umstände wird er jedoch daran gehindert, es tatsächlich zu tun. Die Tat kommt nicht zustande. Trotzdem hat er gesündigt, weil er die Tat – an deren Ausführung er zwar gehindert wurde – beabsichtigt und frei gewollt hat. – Gleiches gilt von jemandem, der beschließt einen Ladendiebstahl zu begehen, doch es bietet sich ihm keine Gelegenheit die Ware ungestört zu entwenden, so daß er sich unverrichteter Dinge wieder auf den Heimweg begeben muß. Es ist kein Diebstahl erfolgt. Die Sünde des Diebstahls hingegen ist sehr wohl begangen worden. Er hatte nämlich seine Einwilligung in die Sünde schon gegeben, noch bevor er das Kaufhaus überhaupt betreten hatte.
Die Sünde ist immer schon vor der äußeren Tat vorhanden. Ob es zur tatsächlichen Ausführung kommt, ist zur Klärung der Frage, ob gesündigt wurde, zweitrangig. Wie gesagt: Das entscheidende ist die Einwilligung! Der Wille ist bereits von diesem Augenblick von der Sünde verdorben, auch wenn die Ausführung derselben, wie in den genannten Fällen, lediglich aufgrund hinderlicher Umstände unterbleibt.
Nach all diesen Abgrenzungen und Erläuterungen wissen wir nun genau, was mit der kurzen Definition gemeint ist: „Die Sünde ist die freiwillige Übertretung eines göttlichen Gesetzes.“
„Sogleich sah er, pries Gott und folgte Ihm nach.“
Wir wissen, daß die Sünde wesentlich in der mangelhaften Erfüllung der Forderung des göttlichen Sittengesetzes besteht. Wir wissen, wie man sie begeht. – Fassen wir deshalb den festen Vorsatz, uns nach Kräften vor der Sünde zu hüten, wie es die Heilige Schrift fordert: „Fliehe vor der Sünde, wie vor einer Schlange.“ (Sir. 21,2).
Lassen Sie uns während der letzten Tage der Vorfastenzeit unser Denken und Reden, unser Tun und Lassen ernsthaft prüfen: Habe ich das göttliche Gesetz erfüllt? Habe ich das Gesetz Gottes freiwillig übertreten, in die Sünde eingewilligt? Auf welche Weise habe ich gesündigt?
Schon bei dem heutigen allgemeinen Überblick über das Wesen und die verschiedenen Gattungen der Sünde mag es dem einen oder anderen vielleicht schon aufgegangen sein, wie häufig und womöglich sogar, wie schwer wir allein schon in den zurückliegenden zwölf Monaten – seit der letzten Fastenzeit – gefehlt haben, indem wir Gutes unterlassen und Böses getan haben. Vielleicht sind uns schon die Augen für die Notwendigkeit der Buße aufgegangen.
Bitten wir die allerseligste Jungfrau Maria, die Sündenlose, die Unbefleckte Empfängnis, als die sie sich in Lourdes geoffenbart hat, um ihre Fürsprache bei ihrem Sohn. Er möge uns von der Blindheit gegenüber der Sünde heilen, wie Er jenen Priester geheilt hat, den einst der hl. Alfons Maria v. Liguori zu sich ins bischöfliche Palais zitieren mußte. Der Priester hatte durch seinen Lebensstil Ärgernis gegeben. Als er in das Audienzzimmer des hl. Kirchenlehrers eintreten sollte, hielt er plötzlich inne. Erstaunt sah er vor sich auf der Türschwelle ein großes Kruzifix liegen, das ihm den Weg versperrte. Da kam ihm auch schon der Bischof entgegen und sprach: „Treten Sie nur auf das Kruzifix. Es ist ja nicht das erstemal, daß Sie den Heiland mit Füßen getreten haben. Leider haben Sie das schon sehr oft getan.“ Diese Worte trafen den Priester wie ein Donnerschlag. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Er bereute seine Laster, tat Buße und änderte sein Leben.
Welche Gnade, wenn es uns ähnlich erginge! Dann wären auch wir sehend geworden. Die Worte Christi von der Notwendigkeit des Kreuzes wären für uns dann nicht mehr dunkel und unverständlich. Wir würden die heilsame Einrichtung der Fastenzeit erkennen und Gott dafür lobpreisen. Ja, wir würden, wie der sehend gewordene Blinde von Jericho, unserem Herrn Jesus Christus, voll Elan und Eifer auf Seinem Kreuzweg nachfolgen, der hinauf führt bis ins himmlische Jerusalem. Dann würden die Worte am Ende der heutigen Perikope auch von uns gelten: „Sogleich sah er, pries Gott und folgte Ihm nach.“ Amen.