21. Sonntag nach Pfingsten
„Liebet eure Feinde!“
Geliebte Gottes!
Unser göttlicher Erlöser selbst brachte den Kern des Gleichnisses vom unbarmherzigen Knecht auf den Punkt, indem Er Seine Rede mit der Mahnung schloß: „So wird auch Mein himmlischer Vater mit euch verfahren, wenn nicht ein jeder von euch seinem Bruder von Herzen verzeiht.“ Die Lehre ist also diese: Wir müssen unseren Beleidigern verzeihen. Wir dürfen keinen Haß gegen den Nächsten in uns hegen. Wir dürfen keine Feindschaft gegen andere aufkommen lassen. So wie Gott uns verzeiht, müssen auch wir verzeihen. Deshalb lautet das Gebot Christi: „Liebet eure Feinde. Tut Gutes denen, die euch hassen, segnet die, welche euch fluchen, und betet für die, welche euch verfolgen und verleumden.“ (Lk. 6,27 f.). Und die Sanktion, mit der die Übertretung des Gebotes der Feindesliebe und der Vergebung von Unbilden bedroht ist, lautet: _„Mit dem gleichen Maß, mit dem ihr anderen ausmeßt, wird euch selbst zugemessen werden.“ _(Mt. 7,2). Kurz: Wenn ihr nicht verzeiht, dann erhaltet ihr selber auch von Gott keine Verzeihung. Somit sollte es uns die Mühe der Aufmerksamkeit wert sein, folgende Punkte zu erwägen:
- Die Ursachen der Feindschaft.
- Die Pflicht zur Feindesliebe.
- Das Vorbild Christi.
- Wie die Feindesliebe geübt werden muß.
Ursachen der Feindschaft
Welches sind die gewöhnlichen Ursachen von Haß und Feindschaft? – Die erste Ursache ist eine äußere: der böse Feind. Der Satan ist ein Geist des Unfriedens. Vom Haß gegen Gott und die Menschen angetrieben, sucht er ohne Unterlaß und überall das giftige Unkraut der Feindschaft auszustreuen, indem er die Leidenschaft des Zornes in uns erregt und unterhält. Auf diese Bedrohung weist uns der hl. Ephräm der Syrer hin, wenn er sagt: „Giftig sind Viper und Natter, aber der Zorn ist noch viel schlimmer als sie. Er richtet die Seele zugrunde und tötet sie, indem er sie von Gott entfernt. – Wenn du eine Schlange in deinem Haus erblickst, machst du Jagd auf sie und tötest sie; aber der Zorn, der dich tötet, wohnt in deiner Seele und du vertreibst ihn nicht. – Wenn du eine Schlange liegen siehst, hast du Angst vor ihr, sie könnte dich beißen; aber der Zorn, der tödliches Gift in sich trägt, darf ruhig in deinem Sinne hausen. … Wegen eines unbedachten, vom Teufel zugeflüsterten Wortes öffnest du dem Zorn die Türe angelweit, damit er in deine Seele einziehe und dort wohne.“
Eine zweite Ursache ist die allzugroße Empfindlichkeit; d.h. ein argwöhnischer, mißtrauischer Charakter, gepaart mit Stolz und Hochmut. Der Argwohn macht geneigt allem, was der Nächste in Wort oder Schrift von sich gibt, was er auch tut oder läßt, eine schlechte Absicht zu unterstellen und ihm voreingenommen und mißtrauisch zu begegnen. Jedes Wort, jede Geste, jeder Gesichtsausdruck wird auf der Goldwaage gewogen und selbstverständlich für zu leicht erfunden. Der Stolz tut dann das übrige. – Ein rasch dahingesagtes Wort, eine Vergeßlichkeit, eine kleine Verletzung des Anstandes genügen, daß sich so mancher beleidigt fühlt und bei sich sagt: „Das ist mit Absicht geschehen!“ – „Er hatte es darauf abgesehen mich zu kränken.“ – „Diese Kritik, diese verletzende Bemerkung, diese unterschwellige Andeutung hat gewiß mir gegolten.“ Darin besteht ja der Hauptreflex der stolzen Überempfindlichkeit, daß sie alles auf sich selbst bezieht. – Die Konsequenz besteht in herben Vorwürfen gegen den Nächsten – meistens gegenüber Dritten. Man zieht sich frostig zurück, bricht den Verkehr ab. So entsteht eine unheilbare Feindschaft.
Eine dritte Ursache ist die Liebe zu den irdischen Gütern. – Wie oft entbrennt nicht Streit und Feindschaft, wenn es um die Güter dieser Welt geht? Darin liegt ja die große Krux der materiellen Dinge: Sie können nur von einem besessen werden. Im Konkurrenzkampf um irdische Güter entstehen oft Zwistigkeiten und Streit. Etwa um Geld und Stellungen, um diese Beförderung oder jene Gehaltsaufbesserung, um dieses Baugrundstück, um diese Freundschaft oder jenen Ehepartner. – Ein Richter an einem bayerischen Amtsgericht rief spöttisch aus, als seine Protokollantin von der Harmonie zwischen ihren Geschwistern erzählte: „Was, Sie verstehen sich noch mit Ihren Geschwistern? Na, dann haben sie offenbar noch nicht geerbt.“ Ja, Erbstreitigkeiten sind nicht selten die Ursache von Entzweiungen unter Verwandten und Geschwistern. Aus ihnen entstehen üble Nachrede, Verleumdungen, Bitterkeiten, langwierige Gerichtsprozesse und mit ihnen Feindschaften, die bis über das Grab hinaus dauern.
Eine vierte Ursache für Feindschaften ist Neid und Mißgunst. Der Patriarch Joseph erhielt als Heranwachsender von seinem Vater Jakob ein schöneres Kleid. Der Vater liebte alle seine Söhne, doch Joseph liebte er mit Vorzug. Dafür haßten ihn seine Brüder tödlich. – Wieviele gibt es nicht, die gegen ihren Mitmenschen ebenfalls in tödlichem Haß entbrennen, weil er diese oder jene Stellung erringen konnte; irgendeinen schönen Erfolg feiern durfte; gesündere, beliebtere, erfolgreichere Kinder hat; oder einfach weil er die besondere Aufmerksamkeit und Zuneigung vieler, oder besonderer Menschen genießt? – Der Neid war es, der Kain dazu veranlaßte, die Erde erstmals mit Bruderblut zu tränken.
Als fünfter Anlaß für Haß und Feindschaft müssen tatsächliche Beleidigungen, Ungerechtigkeiten und vielleicht sogar Mißhandlungen genannt werden. Einer ist mit Absicht gekränkt, gedemütigt, herabgesetzt oder entwürdigt worden. Oder etwas Böses wird einem Menschen nachgeredet oder angedichtet. – Was ist die Reaktion auf solche böswilligen Ungerechtigkeiten? Bei den meisten ist es – Rache. Sie schnauben vor Rachedurst: „Hundertfach soll es dem Feind vergolten werden! Schaden soll er leiden an seinem Ruf, an seiner Gesundheit, an seinen Gütern! Ja, Gottes Gerechtigkeit soll ihn treffen und zermalmen!“ – Später sucht der Beleidiger einen Vergleich, will sich aussöhnen. Doch der Beleidigte will nichts davon wissen. Der Haß glüht und verzehrt sein Inneres!
Schließlich die sechste Ursache für Feindseligkeiten unter den Menschen: Das böse, lieblose Reden. „Lügnerische Lippen sind dem Herrn ein Greuel“ (Spr. 12,22), heißt es schon im Alten Testament. Warum wohl? Weil sie das Gift des Hasses verspritzen! – Klatsch und Tratsch, Ohrenbläserei und gezielte Zuträgerei, Aufdeckung oder Übertreibungen von tatsächlichen Fehlern, sodann Ehrabschneidung, Verleumdungen und sonstige Lästerreden; all das sind Schlangenbisse für den Nächsten, die seine Ehre vernichten, seinen Ruf schädigen und damit seine Möglichkeiten Gutes zu wirken schmälern. – Wieviel Kummer, Elend und Verzweiflung haben solche Schlangenbisse nicht schon über die Leidtragenden solcher Gespräche gebracht. Jahre- und Jahrzehntelange Freundschaften, ja, sogar die heiligsten Bande der Ehe vermag das Gift solchen Geflüsters zu sprengen, und in die bis dahin unbescholtenen oder glücklichen Familien und Gemeinschaften empfindlichsten Argwohn, Eifersucht, Hetze und Haß hineinzutragen, der in hellen Flammen auflodert. – Vor offenen Wölfen kann man auf der Hut sein und sich vor ihren Anfällen schützen, vor verborgenen Schlangenbissen, die ihr Gift hinterrücks in die Herzen der Mitmenschen verspritzen, leider nicht.
Die Pflicht der Feindesliebe
Egal von welcher Ursache eine Feindschaft herrührt, sowohl das natürliche Empfinden als auch der Gerechtigkeitssinn des Menschen bäumen sich gegen das erlittene Unrecht auf. Und wie oft hört man deshalb nicht sagen: „Was mir angetan worden ist, das kann ich nicht verzeihen.“ – „Das Böse, das mir zugefügt wurde, hat so tiefe Wunden geschlagen. Ich kann das einfach nicht vergeben.“
Die Versöhnung mit unseren Beleidigern, die Verzeihung erlittenen Unrechts – kurz: die Feindesliebe – ist für den Menschen keine leichte Sache! – Nichtsdestotrotz hat Gott die Feindesliebe ausdrücklich befohlen. Sie ist nicht erst eine Forderung des Evangeliums, sondern hatte schon im Gesetz des Alten Bundes bestanden: „Du sollst dich wider deines Nächsten Blut nicht erheben. Du sollst nicht Rache suchen, noch des Unrechts deiner Mitbürger gedenken.“ (Lev. 19,16.18). Im Buch Jesus Sirach heißt es: „Verzeihe deinem Nächsten, wenn er dich beleidigt hat, dann werden auch dir, wenn du bittest deine Sünden nachgelassen.“ (Sir. 28,2). Und bei den Sprichwörtern König Salomons liest man: „Wenn dein Feind hungert, so speise ihn; wenn er dürstet, so gib ihm zu trinken, denn so wirst du glühende Kohlen auf sein Haupt sammeln, und der Herr wird es dir vergelten.“ (Spr. 25,21 f.).
Die Juden hatten diese Vorschriften zunächst nur auf die eigenen Volksgenossen gedeutet, nicht auf die Angehörigen anderer Stämme und Völker. Im Neuen Bund betonte unser Herr Jesus Christus, Er sei nicht gekommen, um das Sittengesetz aufzuheben, sondern um es zu erfüllen und zu vervollkommnen. Und so sprach Er von Beginn Seiner öffentlichen Lehrtätigkeit an, daß Seine Jünger ausnahmslos jeden Menschen lieben müssen, auch alle (!) Feinde. In der Bergpredigt sagte Er: „Ihr habt gehört, daß gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.“ (Mt. 5,43). „… daß gesagt worden ist: Aug um Aug und Zahn um Zahn.“ (Mt. 5,38). „Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde, tut Gutes denen die euch hassen, und betet für die, welche euch verfolgen und verleumden.“ (Mt. 5,44). Damit verwarf Christus die irrige Auslegung der Schriftgelehrten und Pharisäer, daß man seine Feinde hassen und sich rächen dürfe. Und selbst den Aposteln und dem hl. Simon Petrus gegenüber mußte Er auf dessen Frage, ob es denn nicht schon mehr als genug sei, seinem Bruder siebenmal zu verzeihen, erst erklären: „Nicht bis zu siebenmal, sage Ich dir, sondern bis zu siebzigmal siebenmal.“ (Mt. 18,22). Und um diese Forderung zu illustrieren und ihre Begründung zu veranschaulichen, erzählte ihnen Jesus das heutige Gleichnis. Ohne Verzeihung und ohne Feindesliebe gegenüber dem Nächsten gibt es für uns keine Sündenvergebung bei Gott und folglich auch keine Seligkeit. „So wird auch mein himmlischer Vater mit euch verfahren, wenn nicht ein jeder von euch seinem Bruder von Herzen verzeiht.“ Nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal! Also unbegrenzt oft.
Wenn wir nicht verzeihen, wenn wir die Feindschaft nicht begraben, so haben wir selber keine Verzeihung zu erhoffen, mögen wir auch noch so viel beten, oder beichten, oder Messen lesen lassen. „Gehe zuvor hin“, ruft uns der Sohn Gottes zu, „versöhne dich mit deinem Bruder, und dann komm und opfere deine Gabe.“ (Mt. 5,23 f.). D.h. versöhne dich zuerst mit deinem Bruder in Christus, denn deine Gabe, deine guten Werke können Gott nicht gefallen, solange du in Haß und Feindseligkeit lebst. Gingest du mit feindseliger, haßerfüllter Gesinnung zum Tisch des Herrn, so würdest du die hl. Kommunion unwürdig empfangen.
Um die Wichtigkeit dieser Lehre zu unterstreichen und ihre Unkenntnis bei Seinen Jüngern bis zum Ende der Welt unmöglich zu machen, hat Christus dieses Gebot eigens in das Vaterunser aufgenommen. Jeder Katholik betet in der Regel mehrmals täglich: „Vergib uns unsere Schuld.“ Und das zu recht! Wiegt doch unsere Schuld vor Gott schwerer als die zehntausend Goldtalente, die der unbarmherzige Knecht seinem Herrn im Gleichnis schuldig war. „Vergib uns unsere Schuld!“ rufen wir, wie dieser. Und Gott ist bereit uns zu vergeben. Aber das Maß Seiner Vergebung bestimmen wir selbst! Wie sich der Knecht im Gleichnis selbst ein strengeres Gericht bereitet hatte, weil er die vergleichsweise geringe Schuld von ein paar Denaren seines Mitknechtes nicht nachlassen wollte, sondern unbarmherzig forderte: „Bezahle was du schuldig bist!“, genauso wählen wir uns die Gewichte des göttlichen Gerichtes selber aus. Deshalb fügte Christus der Vaterunser-Bitte „Vergib uns unsere Schuld“ die Worte bei: „Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Dazu bemerkt der hl. Augustinus: „Wenn du das Vaterunser betest, so lehrst du Gott, wie Er mit dir verfahren soll. Verzeihst du, so verzeiht dir Gott; verzeihst du nicht, so soll auch Er dir nicht verzeihen.“ Jedesmal wenn wir also das Vaterunser beten, erinnern wir Gott daran, daß Er mit uns genauso verfahren soll, wie auch wir es mit unseren Schuldigern tun.
Die Unbarmherzigen erbitten sich also selbst ein furchtbares Gericht, ein Gericht ohne Erbarmen! Ein geistlicher Autor schreibt in Anlehnung an die vom hl. Paulus im 1. Korintherbrief (6,9 ff.) gegebene Aufzählung jener Laster, die vom Himmel ausschließen, folgendes: „Du brauchst also kein Unzüchtiger, kein Götzendiener, kein Ehebrecher, kein Weichling [der Unsittliches duldet] und kein Knabenschänder; kein Dieb oder Habsüchtiger, kein Geiziger oder Trunkenbold, kein Lästerer oder Mörder gewesen zu sein, um verdammt zu werden; es genügt, daß du deinem Feinde nicht verziehen hast!“
Das Beispiel Christi
Weil unser göttlicher Erlöser wußte, welche Überwindung dieses Gebot Seinen Jüngern abverlangen würde, begnügte Er sich nicht einfach nur damit den Befehl der Feindesliebe zu erteilen, sondern Er wollte uns selber ein leuchtendes Beispiel derselben geben.
Folgen wir Christus im Geiste nach, um es zu sehen. Besteigen wir mit Ihm den Kalvarienberg. Blicken wir auf Ihn, den Gekreuzigten. – Sein ganzes Leben hindurch hatte Er Wohltaten gespendet, hat das undankbare Volk geduldig ertragen und jedem nur Gutes erwiesen. Dort liegt Er nun, Seiner Kleider beraubt, der Gewalt Seiner Peiniger ausgeliefert. Rücksichtslos wird Er auf dem Kreuzesholz ausgestreckt. Grausam treiben Seine Henker spitze Nägel durch Hände und Füße. Mit tobender Wut zerquält der Schmerz jede Faser Seines geschundenen Leibes. Das Kreuz wird aufgerichtet. Zwischen Himmel und Erde hängt Gottessohn in einem unsäglichen Meer der Schmerzen. Seine Feinde streuen gleichsam Salz in Seine Wunden, indem sie Ihn verhöhnen und verspotten: „Anderen hat Er geholfen, sich Selbst kann Er nicht helfen.“ (Mt. 27,42). Er wird verflucht als Betrüger und Gotteslästerer. Jesus schweigt zu alledem, als wäre Er taub für ihre Lästerungen. Er schweigt, als wäre Er stumm, und wisse auf ihren Spott nichts zu erwidern! – Am Kreuz erhöht reicht Sein Blick weit. Vom einen Horizont des Schöpfungsmorgens bis zum Horizont der Abenddämmerung am Ende der Welt. Von überall her schlägt Ihm von den Sünden jedes einzelnen Menschen – auch von uns – die geballte Wucht des Hasses und der Feindschaft entgegen. – Da auf einmal öffnet Er Seinen Mund. Doch statt eines Fluches ruft Er, so laut Er konnte: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lk. 23,24). Vater vergib! Jesus betet für Seine Mörder und entschuldigt sie. Er fleht für sie und für uns um Erbarmen. Jesus hätte mit vollem Recht Seine Peiniger, quer durch die Jahrhunderte hindurch, dem gerechten Gericht Gottes überantworten können. Er tut es nicht. Er will lieber beten und verzeihen.
Seither darf kein Mensch mehr sagen, Verzeihen wäre für ihn zu schwer, wäre zu viel verlangt. – Der Herr betet mit lauter Stimme um Schonung der Übeltäter, und wir sollten sie hassen dürfen? Jesus vergießt Sein heiliges Blut für Seine Feinde, und wir sollten Rache nehmen dürfen? Der Sohn Gottes gibt Sein Leben für sie hin, wie für uns, zur Vergebung der Sünden, und wir sollten nicht vergeben? – Nein, wir müssen verzeihen, nachdem Christus damals auch für uns um Gnade gefleht hat. „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ Wir müssen verzeihen, weil Er uns so oft verziehen hat! Wir müssen Schonung walten lassen, weil Er uns schonte.
Der hl. Augustinus weiß uns einige anregende Gedanken hierzu mitzuteilen: „Glaubt nicht, die Schlechten seien umsonst auf dieser Welt! Jeder Böse lebt entweder dazu, daß er gebessert werde, oder er lebt dazu, daß durch ihn ein Guter [in der Tugend] geübt werde. Möchten doch, die uns jetzt erproben, sich bekehren und mit uns erprobt werden! Solange sie uns aber erproben, wollen wir sie nicht hassen; denn wir wissen nicht, ob ein jeder von ihnen in dem, worin er jetzt böse ist, bis zum Ende verharrt. Oft, wenn du einen Feind zu hassen glaubst, hassest du ja einen Bruder und weißt es nicht. … Nun aber ist dir dieser Weg der Güte vorgezeichnet: Du sollst die Güte deines [himmlischen] Vaters nachahmen, ‚der Seine Sonne über Guten und Bösen aufgehen und über Gerechten und Ungerechten regnen läßt.‘ [Mt. 5,45]. Du also, der du an deinem Feinde unerträglich leidest – was hast du ihm gewährt? Wenn selbst Derjenige ihn zum Feinde hat, der ihm so großes gewährte, kannst da du, der weder die Sonne aufgehen noch über die Erde regnen lassen kann, deinem Feinde gegenüber nicht wenigstens dies eine wahren, daß du auf Erden in Frieden mit ihm bleibst als Mensch guten Willens? Weil dir also dieser Weg der Liebe vorgezeichnet ist, daß du in Nachahmung des Vaters den Feind liebst: wie willst du in diesem Gebot geübt werden, wenn du keinen Feind zu erleiden hättest? Siehe also: Es ist dir nützlich! – Daß Gott die Bösen schont, möge dir dazu nützen, Barmherzigkeit zu üben; denn vielleicht hast auch du, wenn du jetzt gut bist, dich aus einem Schlechten zum Guten gewandelt. Würde also Gott nicht die Bösen schonen, dann würde man auch dich heute nicht danksagend sehen. Darum möge, der deiner schonte, auch anderer schonen!“ (in exp. Ps. 54,4).
Die Übung der Feindesliebe
Bleibt noch die Frage offen, wie wir die Feindesliebe praktizieren sollen. – Christus selbst hat die einzelnen Übungen der Feindesliebe genannt: „Liebet eure Feinde, tut Gutes denen die euch hassen, und betet für die, welche euch verfolgen und verleumden.“ Daraus ergibt sich eine dreifache Pflicht: Wir sollen 1. die Feinde lieben; 2. ihnen Gutes tun; und 3. für sie beten.
a) „Liebet eure Feinde!“
Was heißt das? Wann lieben wir einen Feind? – Wir lieben ihn, wenn wir aufhören, ihm zu zürnen, und alle Gedanken der Rache, die in uns aufsteigen, bekämpfen und vertreiben. Wir lieben ihn, wenn wir bewußt die Gesinnung des Wohlwollens gegen den Feind in uns erwecken.
Aber, so mag einer einwenden, wie kann ich einem Menschen, der mich schwer verletzt, betrogen oder geschädigt hat, wohlgesonnen sein? – Dazu ist es nötig, mit den Augen des Glaubens auf diesen Menschen zu blicken. Auch er ist ein Geschöpf Gottes. Gott ist gut. Und deshalb hat Gott in jedes Geschöpf etwas Gutes hineingelegt. Ist nun dieses von Gott stammende Gute nicht wert, von uns geliebt zu werden? – Sodann will Christus auch die Seele des Feindes erlösen. Auch für ihn ist das kostbare Blut des Heilandes am Kreuzesstamm vergossen worden. Sollten wir ihn da nicht um des Blutes Christi willen lieben können? – Schließlich hat auch der Feind eine unsterbliche Seele. Ist sie nicht, wie die unsere, zur Seligkeit berufen? Sie ist es! – All diese genannten Dinge machen die Seele des Feindes in den Augen Gottes liebenswert. Gott liebt nicht das Böse, sondern das Gute im Feinde. Wenn Gott also das Gute in ihm liebt, können wir es Ihm da nicht gleichtun?
Ferner lieben wir den Feind, wenn wir ihm nichts Böses wünschen, im das Gute nicht mißgönnen und uns nicht in Schadenfreude an seinem Unglück weiden.
Hören wir kurz den hl. Ambrosius von Mailand, der die Feindesliebe anhand des sog. „Hohenliedes der Liebe“ aus dem 1. Korintherbrief, in schönen und tiefen Gedanken beschreibt: „So sehen wir denn des Apostels Wort: ‚Die Liebe ist geduldig, ist gütig, sie eifert nicht, sie bläht sich nicht auf.‘ [1. Kor. 13,4], in den (obigen) Vorschriften [der Feindesliebe] voll und ganz eingelöst. – Ist sie geduldig, schuldet sie auch dem Geduld, der sie schlägt. Ist sie gütig, darf sie die Schmähungen nicht erwidern. Sucht sie nicht das Ihrige, darf sie dem, der sie beraubt, keinen Widerstand entgegensetzen. Eifert sie nicht, darf sie den Feind nicht hassen. – Gleichwohl überbieten noch die Vorschriften der [fleischgewordenen] göttlichen Liebe die des Apostels: Denn mehr besagt ‚vergeben‘ als ‚nachgeben‘; mehr besagt ‚die Feinde lieben‘ als ‚nicht eifern‘. Dies alles hat nun der Herr sowohl gelehrt wie getan. Er schalt nicht, da Er gescholten wurde; Er gab den Schlag nicht zurück, da Er geschlagen ward; Er leistete nicht Widerstand, da Er [Seiner Kleider] beraubt ward; Er erflehte, da Er gekreuzigt wurde, selbst Seinen Verfolgern Vergebung mit der Bitte: ‚Vater, verzeih ihnen die Sünde; denn sie wissen nicht, was sie tun!‘ [Lk. 23,34].“ (in Luc. 5,73 ff.).
Auch unser Feind weiß nicht, was er tut! Er hat die Folgen seines Tuns nicht bedacht. Er hat es nicht so ernst gemeint. Er erkennt und bedenkt nicht, wie schwer er sich damit versündigt hat. Er hat uns Schaden zugefügt, doch weit mehr hat er sich selbst geschadet! „Er weiß nicht, was er tut!“ – Das Mitleid mit seinem erbärmlichen Seelenzustand, soll uns zu erbarmender Liebe zu ihm bewegen.
b) „Tut Gutes denen, die euch hassen!“
So lautet die zweite Pflicht der Feindesliebe. – Unserem Feind tun wir Gutes, wenn wir, nachdem wir ihm im Herzen verzeihen, auch äußerlich Gutes tun. Das geschieht vor allem dadurch, wenn wir versuchen, zur Aussöhnung mit ihm zu gelangen.
Wenn wir der Beleidiger sein sollten, wenn also wir den Nächsten gekränkt oder verletzt, ihm an der Ehre, an seinen Gütern oder an seiner Gesundheit geschadet haben. (Und seien wir ehrlich. Selten gibt es ja einen Streit, wo sich nur die eine Seite etwas zuschulden hat kommen lassen!) Wenn also auch wir den Nächsten verletzt, ausgenutzt oder ihn sonstwie ungerecht behandelt haben sollten, dann haben auch wir die Pflicht den ersten Schritt zur Versöhnung zu tun und eben für das, was wir unrechtes gesagt, getan oder geschehen ließen, sowohl um Verzeihung zu bitten, als auch das Unrecht und den entstandenen Schaden, nach Kräften wiedergut zu machen. – „Das kann ich nicht! Das ist zu schwer!“ behauptet einer. Ist es nicht noch schwerer, in der Ungnade Gottes zu leben und zu sterben? Ist es nicht schwerer, im Unfrieden dahinzuleben? Verhindert doch nichts so sehr den inneren Frieden und das Glück eines friedlichen Gewissens als der nagende Gedanke, daß es da jemanden gibt, mit dem ich in Feindschaft lebe.
Wenn wir den ersten Schritt zur Versöhnung tun, kann dieser auch eine Hilfe für den Gegner sein, damit er sich auch sein eigenes Fehlverhalten eingestehen kann. – Und wenn es auch nicht gelingen mag, den Nächsten damit zu gewinnen, so gewinnen wir doch an Ansehen bei Gott. Denn es ist immer ehrenvoll, wieder gut zu machen, was man selber gefehlt hat!
Sollten wir hingegen jener Teil sein, dem ein Unrecht zugefügt worden ist, dann dürfen wir die ausgestreckte Hand, welche um Verzeihung bittet, nicht zurückweisen. Im Gegenteil, müssen wir froh darüber sein, daß die Feindschaft aufhört. Es wäre nichts anderes als harte Unversöhnlichkeit, wenn wir den Gruß und sonstige Gepflogenheiten der Höflichkeit verweigern würden, wenn unser Gegner auf diesem Wege versucht, einen Brückenschlag zur Versöhnung mit uns zu wagen.
Was aber, wenn der Beleidiger den ersten Schritt nicht tut? Dann müssen wir aus gläubiger und übernatürlicher Gesinnung heraus uns selbst überwinden, trotz allem die Tugend üben, und dem Feind nach Kräften Gutes tun. Das ist freilich nicht einfach. Aber der hl. Ambrosius lehrt einen gangbaren Weg. Wenn wir auch nicht den Feind lieben können, so sollen wir doch die Tugendübung am Feinde lieben. Der hl. Kirchenvater sagt: „Ist Gegenliebe allen, auch den Sündern gemeinsam, so soll dem, der [als Katholik] einen höheren Beruf lebt, auch ein vollkommeneres Tugendstreben eigen sein, so daß er selbst Lieblosen seine Liebe zuwendet. – Macht sich einer auch keiner Liebe wert, so mag dies den Freundschaftsverkehr ausschließen, die Tugendübung darf es gleichwohl nicht ausschließen. – Wie es eine Schande wäre, einem, der dir Liebe erweist, das Wohlwollen nicht zu erwidern; und wie dir mit der Liebe des Wohlwollens, das du zu erwidern hast, die Liebe zu dem ins Herz wächst, den du vorher nicht liebtest, so sollst du auch dem gegenüber, der dir keine Liebe erweist, erst die Tugend lieben, um mit der Tugend, die du liebst, auch den zu lieben, den du nicht liebtest.“ (ebd.).
Dem Feind Gutes tun, das kann schließlich auch auf inndirekte Weise geschehen; nämlich an seinen Kindern oder Angehörigen. Auch auf diesem Wege können unüberwindliche Gräben zugeschüttet und Brücken zueinander gebaut werden.
Wenn wir all das wenigstens versuchen, so können wir zuversichtlich das Vaterunser beten: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Beten ist ja schließlich auch die dritte Pflicht.
c) „Betet für die, welche euch verfolgen und verleumden!“
Das Gebet ist der Gipfel der übernatürlichen Nächstenliebe und der höchste Ausdruck der Verzeihung. – Dabei ist es nicht einmal geboten, ausdrücklich für unsere Feinde zu beten. Das könnte nämlich für manche, die schweren Schaden von ihrem Feind erleiden mußten, durchaus ein Hindernis sein. – Es genügt, daß wir für unsere Mitmenschen im Allgemeinen beten und dabei unsere Feinde nicht absichtlich von unserem Gebet ausschließen.
Ja, die Erinnerung an die erlittenen Verletzungen soll uns jedesmal anregen, noch mehr und inniger für unsere Gegner und Feinde zu beten. Wir sollen Gott um alles Gute für sie in der Zeit bitten und ihnen vor allem das ewige Glück in der Ewigkeit erflehen. Gerade letzteres Gebetsanliegen zielt darauf ab, daß sich der Feind bekehre, seinen Fehler einsehe, um Verzeihung bitte und den Schaden wiedergutmache. Das Gebet um die Bekehrung des Feindes ist gewissermaßen die „christliche Rache“, wie sie von den Heiligen geübt wurde.
Der hl. Stephanus betete, während er gesteinigt wurde, auf Knien für seine Mörder: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an.“ (Apg. 7,60). Und gerade einer seiner Mörder, der Saulus hieß, bekehrte sich auf das Gebet des hl. Stephanus zum Völkerapostel. So hatte der hl. Stephanus durch sein Gebet gewissermaßen „christliche Rache“ geübt und dem hl. Paulus eben denselben Geist der Feindesliebe erwirkt, denn er selber besaß. Schreibt doch der hl. Völkerapostel später von sich: „Man flucht uns, und wir segnen; wir werden verfolgt, und wir leiden es geduldig; wir werden gelästert, und wir beten.“ (1. Kor. 4,12 f.). So wurde aus dem Saulus nicht einfach nur Paulus, sondern ein hl. Paulus, der seine Feinde in der gleichen Weise liebte, wie es der hl. Stephanus getan hatte, dessen Feind Saulus einst gewesen war.
d) Die Erinnerung an das erlittene Unrecht
Schließlich sagt einer: „Verzeihen will ich, aber vergessen kann ich nicht.“ – Das ist möglich. Die Erinnerung an das erlittene Unrecht taucht immer wieder auf und verursacht Seelenschmerzen. Etwa so, wie ein alter Knochenbruch beim Wetterumschwung immer wieder Probleme bereitet. Die wiederholte Erinnerung soll uns Anlaß sein, immer wieder aufs Neue zu vergeben und zu verzeihen, was uns ein um so größeres Verdienst vor Gott bescheren wird. Wäre alles sofort vergeben und vergessen, so brächte uns der einmalige Akt des Verzeihens nur den einmaligen Lohn für die Ewigkeit ein. Die schmerzhafte Erinnerung macht es hingegen notwendig immer und immer wieder zu verzeihen, was uns einen vielfachen Lohn einbringt. – Was zählt, ist nämlich allein der gute Wille! Die Erinnerung an die erlittenen Unbilden mag zurückkehren, Rachegefühle und Widerwille mögen sich in uns regen. So wir sie nicht gutheißen und sofort bekämpfen, sind die aufkeimenden Leidenschaften noch keine feindselige Gesinnung gegen den Nächsten. Wenn wir sie überwinden, nehmen wir sogar in der Tugend der Feindesliebe zu. Das ist freilich mühsam. Deshalb versucht uns der hl. Ambrosius zu diesem schwierigen Geschäft anzueifern, indem er uns zuredet: „Weil der Tugendeifer ohne Lohn erkalten würde, stellt uns der Herr einerseits Sein Beispiel vor Augen, andererseits himmlischen Lohn in Aussicht mit der Verheißung, daß jene, die Seine Nachahmer seien, ‚Kinder Gottes‘ sein werden. Wer nach Lohn trachtet, darf sich das Beispiel nicht verdrießen lassen; denn je herrlicher der Lohn ist, um so größere Mühe soll man es sich kosten lassen. Wie groß aber muß der Lohn für die Barmherzigkeit [gegen deine Feinde] sein, wenn sie zum Recht der Gotteskindschaft erhoben wird! So übe denn Barmherzigkeit, um Gnade zu verdienen.“ (ebd.).
Dein Friede komme über uns!
Abschließend wollen wir mit dem hl. Ephräm allen Entzweiten den Frieden erflehen, den unser Herr am Kreuz errungen hat, damit alle, ob Freund oder Feind, am Jüngsten Tage einem gnädigen Richter begegnen dürfen: „Herr, der Du durch das Blut, das aus Deiner Seite floß, den Höhen und den untersten Tiefen den Frieden gabst, sende Deinen Frieden unter die Zürnenden! – Der Du zwischen den beiden Parteien, den Oberen [Gott] und den Unteren [den Sündern], Frieden gestiftet hast, versöhne die Entzweiten durch Liebe und säe Deinen Frieden unter sie! … Dein Friede sei der Hüter der Seelen, die zu Dir flehen! – ‚Meinen Frieden gebe Ich euch; Meinen Frieden hinterlasse Ich euch‘, sprachst Du, Herr, zu Deinen Aposteln und fuhrst zu Deinem Vater auf. Wenn Du in großer Herrlichkeit wiederkommst und Schrecken die Schöpfung befällt; wenn die Posaune in der Höhe ruft und die Grundfesten des Erdkreises sich lösen; wenn die mächtigen Felsen sich spalten, alle Gräber sich öffnen und in einem Augenblick alle Entschlafenen unverwest auferstehen; wenn der Staub Adams gesammelt wird, so daß kein Stäubchen davon zurückbleibt; wenn in großer Angst die Vorgesetzten und die Untergebenen dastehen: dann komme Deine Versöhnung, Herr, uns entgegen, und Dein Friede begegne uns!“ Amen.