9. Sonntag nach Pfingsten
Wenn doch auch du es erkennen wolltest, was dir zum Frieden dient.
Geliebte Gottes!
Der hl. Evangelist Lukas versetzt uns heute an das Ende des irdischen Lebens unseres Herrn. Jesus war wenige Wochen vor Seinem Tod, anläßlich des bevorstehenden Osterfestes nach Jerusalem hinaufgezogen. Doch betrat Er die Stadt selbst noch nicht, sondern blieb in einem nahegelegenen Ort namens Bethanien, ca. eine ¾ Stunde von Jerusalem entfernt. Dort wirkte unser Herr eines Seiner größten Wunder. Er erweckte Seinen seit vier Tagen im Grab liegenden und bereits von der Verwesung befallenen Freund Lazarus durch Seinen allmächtigen Befehl von den Toten wieder auf. Dieses Wunder sprach sich mehr und mehr herum und die Begeisterung der Festpilger wurde so groß, daß sie Jesus als ihren Messias-König in feierlichem Triumphzug in die Königsstadt Jerusalem geleiten wollten.
Obwohl sich Jesus sonst solchen Huldigungen immer entzogen hatte, ging Er dieses Mal darauf ein und fügte sogar aus eigener Motivation etwas hinzu. Die alten Könige Israels pflegten sich bei ihrer Thronbesteigung auf das königliche Maultier – einen Esel – zu setzen und so in ihrer Residenzstadt feierlich Einzug zu halten. An diese alte Gepflogenheit knüpfte Jesus an jenem Tage an, um die Worte des Propheten Zacharias in Erfüllung gehen zu lassen: „Sagt der Tochter Sion: Siehe, dein König kommt zu dir, sanftmütig; Er sitzt auf einer Eselin, auf einem Füllen, dem Jungen eines Lasttieres.“ (Zach. 9,9). Jesus sandte die Apostel aus, um im Nachbardorf einen jungen Esel auszuleihen, auf dem bislang noch niemand geritten war. Die Jünger legten statt eines Prunksattels ihre Kleider darauf. Jesus bestieg den Esel und es begann die königliche Prozession. Die begeisterte Menge brach Zweige von den Palm- und Ölbäumen, breitete ihre Kleider auf den Weg und setzten zu Jubelrufen an: „Hosanna, dem Sohne Davids! Hochgelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!“ (Mt. 21,9).
Der Zug ging von Bethanien über den Ölberg nach Jerusalem. Bis dahin war Jerusalem durch den höheren Ölberg verdeckt. Als nun der Zug über die Kuppe des Ölberges kam, lag auf einmal die prächtige Stadt, mit den mächtigen Wehranlagen der Burg Antonia und der kolossalen Tempelanlage mit dem vergoldeten Tempeldach, in dem sich die Sonne glänzend spiegelte, zu ihren Füßen. Wir können uns vorstellen, wie die Festpilger in Jubelrufe ausbrachen, denn sie liebten diese Stadt und den Tempel, den Palast Gottes inmitten ihres Volkes. Sie waren am Ziel ihrer österlichen Wallfahrt angekommen. Und mit sich führten sie den König der Juden, den seit Jahrtausenden erwarteten Messias.
Der Blick auf die Gottesstadt
Angesichts dieser überschwenglichen Freudenstimmung des Palmsonntags verwundern uns die Worte des Evangelisten mit denen die heutige Sonntagsperikope einsetzt: „Als Jesus sich Jerusalem näherte und die Stadt sah, weinte Er über sie.“ Jesus jubelte nicht, im Gegenteil! Kummer befiel Ihn und Tränen liefen Ihm über die Wangen. Dann rief Er der Stadt traurig zu: „Wenn doch auch du es erkennen wolltest, und zwar an diesem deinen Tage, was dir zum Frieden dient. Nun aber ist es vor deinen Augen verborgen.“
Was war der Grund für diese Traurigkeit in dem großen Moment Seines triumphalen Einzugs? Es war das zukünftige Schicksal der so prächtig daliegenden Stadt, welches der Gottessohn durch Seinen allwissenden Blick vorhersah. Die ganze Herrlichkeit Jerusalems würde vernichtet werden! – Er sieht vor sich diese Paläste, die Burg, Er sieht den wunderbaren Tempel, den Herodes der Große in noch nie dagewesener Pracht errichtet hatte. Aber Er sieht weiter und tiefer. Er sieht die Zerstörung voraus, welche die Truppen des römischen Feldherrn Titus im Jahre 70 anrichten würden. Am 3. September des Jahres 70 drangen die Römer in die Stadt ein, metzelten nieder was noch lebendig war, zerstörten, was noch zu zerstören war, zündeten den Tempel an, und die ganze Herrlichkeit Jerusalems versank in Schutt und Asche. Das alles sah Jesus vor sich, und Er weinte. „Sie werden dich samt deinen Kindern in deinen Mauern zu Boden schmettern und keinen Stein in dir auf dem anderen lassen.“ Und warum das alles? „Weil du die Zeit deiner Heimsuchung nicht erkannt hast.“
Welches ist die Zeit der Heimsuchung für Jerusalem gewesen? Es war die Zeit, in der Christus selbst die Juden ermahnt und Wunderzeichen in der heiligen Stadt gewirkt hatte, ohne daß sie sich jedoch hat bekehren und Buße tun wollen. Zwei Jahrtausende lang hat das Volk auf den Erlöser geharrt, und jetzt, als Er kam, hat es Ihn verworfen. – Aber schon zuvor war für Jerusalem die Zeit der Heimsuchung gekommen, als so viele Propheten von Gott zu ihr gesandt worden waren, die sie verlacht und verspottet (2. Chron. 36,16), ja sogar gesteinigt und getötet hatten (vgl. Mt. 23,34). – Jesus hat Jerusalem in Sanftmut und Bescheidenheit heimgesucht. Er hat gelehrt, wie kein anderer vor Ihm gelehrt hat: „Und sie staunten über Seine Lehre; denn Er lehrte sie wie einer, der Macht hat, und nicht wie die Schriftgelehrten.“ (Mk. 1,22). – Jesus hat geheilt, wie niemand vor Ihm geheilt hat: „Es ging eine Kraft von Ihm aus und heilte alle.“ (Lk. 6,19). – Jesus hat die Dämonen besiegt wie keiner vor Ihm: „Da kam Schrecken über alle, und sie redeten untereinander, und sprachen: Was ist das für ein Wort, daß Er mit Gewalt und Kraft den Dämonen gebietet, und sie ausfahren?“ (Lk. 4,36). Das alles haben die Menschen erlebt. Sie haben es mit ihren eigenen Augen gesehen. Und was war die Wirkung? Mit dem Propheten Isaias mußte der Heiland klagen: „Ich halte meine Arme ausgestreckt den ganzen Tag nach einem widerspenstigen Volke, das seinen eigenen Gedanken nachgeht auf unheilvollen Wegen.“ (Is. 65,2) – „Mein Volk, was habe Ich dir getan? Womit habe Ich dich betrübt? Antworte Mir!“, so heißt es in den Improperien des Karfreitags. „Was hätte Ich dir noch mehr tun sollen und habe es nicht getan? Ich habe dich gepflanzt als Meinen Weinberg, du aber hast Mich mit Essig getränkt und Mir mit einer Lanze Mein Herz durchbohrt.“
Der tiefste Schmerz, den es geben kann, ist der Schmerz der verschmähten, der mißachteten, der zertretenen Liebe. Das ist der tiefste Schmerz, den es geben kann. Die Liebe, die erlösen wollte und nicht erlösen konnte, weil sie verschmäht wurde.
Die Tränen Jesu
Die Tränen unseres Herrn sind der Beweis Seiner Liebe; Beweis der zurückgestoßenen Liebe, die – obwohl selbst zutiefst verletzt – nicht aufhört zu lieben und die schrecklichen Folgen beweint, die denen erwachsen, welche Ihn von sich zurückstoßen. – Gott will den Tod des Sünders nicht! Das hat Er schon im Alten Bund durch die Propheten mehrmals verkünden lassen: „Wenn aber der Gottlose Buße tut für alle seine Sünden, die er begangen und alle Meine Gebote bewahrt, und Recht und Gerechtigkeit übt, so soll er leben und nicht sterben. Ich will all seiner Sünden, die er begangen, nicht mehr gedenken; um seiner Gerechtigkeit willen, die er geübt, soll er leben. Sollte Ich etwa am Tod des Gottlosen Wohlgefallen haben, spricht Gott der Herr, und nicht vielmehr daran, daß er sich von seinen Wegen bekehre und lebe?“ (Ez. 18,21-23). Und an anderer Stelle: „Sprich zu ihnen: So wahr Ich lebe, spricht Gott der Herr, Ich will nicht den Tod der Gottlosen, sondern daß der Gottlose sich bekehre von seinem Wege, und lebe. Bekehret euch, bekehret euch von euren sehr schlimmen Wegen! Denn warum wollt ihr des Todes sterben, Haus Israel?“ (Ez. 33,11). Gott will den Tod des Sünders nicht! Die Tränen Jesu beweisen, daß Er diese gottlose Stadt nur gezwungenermaßen strafte; weil Jerusalem „die Stunde seiner Heimsuchung nicht erkannt“ hat und statt sich zu bekehren auf seine Unbußfertigkeit bestand, wodurch die Stadt selber das Strafgericht und den Tod für sich wählte. – Aber Christi Traurigkeit rührte in diesem Augenblick nicht nur von dem entsetzlichen Schicksal, das den Söhnen Israels bevorstand. Er betrauerte auch all das, was sie Ihm zufügen würden. Er beweinte den entsetzlichen Undank für all die Wohltaten Seiner Lehre und Seiner Wundertaten, die sie Ihm mit Verleumdung, Spott und der haßerfüllten Forderung nach Seinem Tod vergelten würden. Und schließlich wurde unser Herr gewiß auch in jenem Augenblick von dem Gedanken zu Tränen gerührt, daß all Seine Leiden, das vergossene Blut und Sein Opfertod am Kreuz, an dieser Stadt verloren sein werden.
„Wenn doch auch du es erkennen wolltest, und zwar an diesem deinen Tag, was dir zum Frieden dient. Nun aber ist es vor deinen Augen verborgen.“ – Warum war es ihren Augen verborgen? Hat sich Gott von den Juden zurückgezogen? Verbirgt Gott die ewigen Dinge den Gottlosen? Nein, es verhält sich umgekehrt. Durch ihr sündiges und unbußfertiges Leben verursachen die Gottlosen, daß die Einsprechungen Gottes bei ihnen keinen Eingang finden und nicht verstanden werden. So kommt es, daß sie selbst sich die ewigen Dinge verbergen; verblendet und zuletzt verstockt werden.
Die Tempelreinigung
Das Evangelium berichtet uns, daß der Zug am Palmsonntag zum Tempel führte, zum geistlichen Herzen Israels. Es war der Ort, wo stellvertretend und im Namen des ganzen Volkes, Gott das Opfer dargebracht wurde. Dort trieb der Herr mit einer aus Stricken geflochtenen Geißel die Käufer und Verkäufer aus dem Tempel, weil sie den Wohnort Gottes mit ihrer Geschäftemacherei und Profitgier zu einer Räuberhöhle gemacht hatten. Mit letztem Eifer und brennender Liebe versucht unser Herr durch die Geißelhiebe dieses Heiligtum Gottes zu reinigen und durch seine Lehre das Herz des Volkes zurückzuerobern – doch vergebens.
Jerusalem war seiner hohen Berufung untreu geworden indem es den Erlöser verwarf. Durch diese Untreue, wurde die Stadt nutzlos für die Vorsehung Gottes. Weil sie sich ihrer Bestimmung verweigerte, wurde sie von Gott verworfen. Das ist das große Drama, die Tragödie, welches Jesus in dem Moment, als Er auf Jerusalem, Seine Stadt, die Stadt Gottes, herabblickte, in Tränen ausbrechen ließ.
Für uns zur Warnung geschrieben
Zweifelsohne handelt es sich um ein düsteres Kapitel, das uns die Kirche heute aufgeschlagen hat. Doch wir sollen es aufmerksam lesen, denn auch dieses Evangelium „wurde für uns, die wir in den letzten Zeiten leben, zur Warnung geschrieben“, wie der hl. Paulus in der Epistel im Hinblick auf die Untreue Israels nach dem Auszug aus Ägypten mahnt. Die ganze Szene um den Einzug Jesu in Jerusalem verweist nämlich auf geheimnisvolle Weise auf uns. Jerusalem ist das Bild unserer Seele.
Wie Jerusalem ist unsere Seele zu Hohem berufen. Sie soll der Wohnort und Herrschaftssitz Gottes sein. – Wie Jerusalem die mit Prachtbauten geschmückte Stadt Gottes ist, so ist auch unsere Seele durch die heiligmachende Gnade, die eingegossenen Tugenden und die sieben Gaben des Heiligen Geistes prächtig geschmückt. – Wie Gott im Tempel von Jerusalem mitten unter Seinem Volke wohnte, so wohnt Gott seit unserer Wiedergeburt im Bad der hl. Taufe geheimnisvoll in uns, durch die Gnade. – Bei jeder heiligen Kommunion, hält der Sohn Gottes – zwar nicht sanftmütig auf einem Eselfüllen, sondern bescheiden unter den Gestalten von Brot und Wein – mit Leib und Blut, mit Gottheit und Menschheit in unserem Herzen Einzug, wie damals am Palmsonntag. – Im Jerusalemer Tempel stand der Opferaltar, von dem unentwegt die Brandopfer Israels zu lieblichem Wohlgeruch vor das Angesicht Gottes aufstiegen. Unsere Seele ist ebenfalls ein gottgeweihtes Heiligtum, ein Tempel des Heiligen Geistes, von dem aus der liebliche Wohlgeruch unserer Opfer und Gebete aus der Kohlenglut unserer übernatürlichen Gottes- und Nächstenliebe zu Gott emporsteigt. – Wie Jerusalem, so ist auch unserer Seele eine „Zeit der Heimsuchung“ beschieden. Es gilt jeden Tag die leise Stimme Gottes zu hören; sie nicht zu überhören; zu fragen wie Saulus vor Damaskus gefragt hat: „Herr, was willst Du, daß ich tun soll?“ (Apg. 9,6). Es gilt, auf Gottes leises Werben zu hören. In der Litanei vom heiligsten Namen Jesu gibt es die Anrufung: „Von der Vernachlässigung Deiner Einsprechungen erlöse uns, o Herr.“ Eine Anrufung von nicht zu überschätzender Bedeutung! Von der Vernachlässigung Deiner Einsprechungen erlöse uns, o Herr!
Wieviel hat Gott für jeden von uns getan! Wir haben zu Ihm gerufen, und Er hat uns gehört. Wir haben gefleht, und Er hat uns Hilfe zuteil werden lassen. Wir haben um Gnade gebeten, und Er hat uns mit Gnadengaben und Wohltaten überhäuft. – Haben wir uns seiner Hilfe und Fürsorge würdig erwiesen? Haben wir Ihm den Dank abgestattet, den er dafür erwarten darf? Haben wir uns in Seiner Gnade zu dem Grad der Heiligkeit emporgeschwungen, den Er an uns sehen will? Wir werden einmal gefragt werden: „Verwalter, gib Rechenschaft von deiner Verwaltung!“ (Lk. 16,2). Gib Rechenschaft von den Gaben und Gnaden, die du empfangen hast! Gib Rechenschaft von den Gebeten, die andere für dich verrichtet haben! Was hast du mit den Gnaden getan, die andere für dich durch ihre Opfer erwirkt haben? Was haben wir damit gemacht? Haben wir die Gnaden genutzt? Der Apostel Paulus ermahnt uns, daß wir nicht vergeblich die Gnade Gottes empfangen. Er schreibt an seinen Schüler Timotheus: „Vernachlässige nicht die Gnadengabe in dir, die dir gegeben worden ist!“ (1. Tim. 4,14).
Aus dem Gefängnis mahnt er die Philipper: „Wirket euer Heil mit Furcht und Zittern!“ (Phil. 2,12) – Sind wir um unser Heil besorgt? Was tun wir dafür, es zu erlangen? Haben wir in der Sünde verharrt? Haben wir die Bekehrung aufgeschoben? Muß Gott vielleicht auch von uns sagen, was im Buch der Apokalypse der Seher von Patmos an die Gemeinde von Laodicea schreiben mußte: „Ich kenne deine Werke, daß du weder kalt noch war bist; o daß du kalt oder warm wärest! So aber, weil du lau bist, und weder kalt noch warm, werde Ich dich ausspeien aus Meinem Munde.“ (Offb. 3,16)?
Wenn wir die Gnade ungenutzt lassen und stattdessen die Sünde tun, ahmen wir das untreue Jerusalem nach, das seinen Messias verwarf und kreuzigte. Wenn wir die Sünde tun, so erkennen wir genauso wie Jerusalem nicht, was uns zum Frieden dient. Der Heilige Geist ruft uns im Psalm zu: „Heute, wenn ihr Seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht!“ (Ps. 94,8). Hören wir Gottes Stimme in der Verkündigung der Kirche? In den Heimsuchungen unseres Lebens? In den erschütternden Ereignissen des Weltgeschehens? Der heilige Pfarrer von Ars hat einmal gepredigt: „Wenn man die Verdammten in der Hölle fragen würde: Warum seid ihr in der Hölle? Dann würden sie antworten: Weil wir dem Heiligen Geist widerstanden haben. Und wenn man die Heiligen des Himmels fragen würde: Warum seid ihr im Himmel? dann würden sie antworten: Weil wir auf den Heiligen Geist gehört haben.“
Die Lehre vom Zorn Gottes
„Weißt du nicht“, fragt der Apostel Paulus im Römerbrief die Gemeinde, „daß die Güte Gottes dich zur Buße treibt?“ (Röm. 2,4). – Wie lange wird Gott noch zusehen? Wie lange wird Er noch warten, bis Er andere Mittel anwendet als Geduld und Nachsicht? Auch in Jerusalem ist dem Weinen des Herrn Sein Zorn gefolgt. Auf den weinenden Herrn folgt der zürnende Herr, der mit geschwungener Peitsche die Händler aus dem Tempel treibt. – Die Lehre vom Zorn Gottes ist eine der vielen vergessenen Wahrheiten des Evangeliums. Wer will heute noch etwas vom Zorn Gottes wissen? Und doch ist er in der Heiligen Schrift hundertfach bezeugt, hundertfach! Die Lehre vom Zorn Gottes gehört zur Heilsbotschaft.
Alle, die in der Hölle sind, werden ewig gestraft, weil sie sich die Zeit der Gnade nicht haben zunutze machen wollen. Alles kann ersetzt werden, außer die verlorene Zeit; die kann selbst Gott nicht wieder bringen.
In gleicher Weise wie Jesus über Jerusalem weinte, so weint Er über jede Seele, die sündigt; die Gnade um Gnade zurückweist; die Tag für Tag verstreichen läßt, ohne Seine Vergebung zu suchen, ohne Seine Liebe zu erwidern und ohne Buße zu tun. Indes bleibt Christus in einer für Seinen Ruf tauben Seele nicht untätig. Wie damals im Tempel, wird Er eine Geißel flechten und versuchen, den Seelentempel durch die Hiebe der Trübsal zu reinigen. Das Schlimme für unsere Seele ist nicht, wenn uns der Herr schlägt; wenn Er Krankheiten, Schicksalsschläge, Mißerfolge oder sonstige schwere Trübsale über uns kommen läßt. Die Schläge sind nur ein Versuch unser Herz zu reinigen. Derlei Heimsuchungen sind ein Zeichen der Liebe Gottes, der das Menschenherz, das zu einer Räuberhöhle geworden ist, noch nicht aufgegeben hat, sondern es für Sich zurückgewinnen will. Die Schläge sind also nicht das Schlimme. Schlimm ist es wenn die Einsprechungen unseres Gewissens, d.h. die lehrende, mahnende und warnende Stimme Jesu im Tempel unseres Herzens eines Tages verhallt, so wie es damals inmitten der Karwoche geschehen ist: „Jesus aber verbarg sich und ging hinweg aus dem Tempel.“ (Joh. 8,59). Das ist das Schlimmste für eine Seele in diesem Leben, wenn uns Gott einfach unserem Schicksal überläßt. „Fürchte den Jesus, der vorübergeht und nicht wiederkehrt“, warnt der hl. Augustinus. Wenn Er uns wie damals Jerusalem noch vierzig Jahre – vielleicht in Glück und Fröhlichkeit – laufen läßt, bis Sein unerbittliches Strafgericht folgt. Das ist das Schlimme für den Menschen in dieser Erdenzeit.
Denn der Tag wird unweigerlich kommen, an dem die Zeit des Todes anbricht; die Zeit in der die schwindenden Kräfte, die betäubenden Schmerzen, gleichsam einen engen Belagerungsring um die Seele ziehen; einen Belagerungsring, der unsere Fähigkeiten einschränkt, der uns nicht mehr durchatmen, und keinen klaren Gedanken mehr fassen läßt; die Zeit in der die höllischen Mächte noch einmal ihre ganze Macht aufbieten werden, um den Sterbenden zu ängstigen und zu bedrängen, um ihn in Verzweiflung zu stürzen. – Jene, welche Bekehrung und Buße auf diese Zeit aufschieben wollen, sind Toren! Der hl. Augustinus warnt davor, die Abkehr von der Sünde bis auf diesen Tag aufzusparen, indem er sagt, die Buße, die von einem Kranken getan wird, ist zumeist selber „krank“, und eine späte Buße ist selten eine wahre Buße. Denn: „Im Tode verläßt nicht du die Sünden, sondern die Sünden [d.h. die Kräfte zum Sündigen] verlassen dich.“ Es ist lächerlich, dann erst mit dem Sündigen aufhören zu wollen, wenn einem die Macht zu sündigen genommen wird. Und der hl. Gregor fügt hinzu: „Die mutigen Rennpferde hält bisweilen vom Laufen nicht der Reiter [d.h. der freie Wille des Menschen] ab, sondern der Ort, der sie so einschließt, daß sie ferner nicht laufen können. So lassen viele nicht aus freiem Willen vom Sündigen ab, sondern weil ihnen Zeit und Kraft zum Sündigen entzogen wird.“
Vom herannahenden Tod belagert, ist der Mensch dermaßen von seinen Schmerzen eingenommen, daß es ihm kaum gestattet ist, an etwas anderes als nur an sie zu denken. Und wenn es uns jetzt schon schwer vorkommt Buße zu tun, da wir doch gesund und bei Kräften sind, um unser Herz zu Gott zu erheben, um wieviel schwerer wird es sein, wenn unser Kopf und der ganze Leib nicht nur schwach sein, sondern vielleicht vor Schmerzen und Fieberhitze fast vergehen werden? Viele sind beim Herannahen des Todes gar nicht bei Bewußtsein. Entweder von den Schmerzmitteln sediert oder als Opfer der Demenz, bekommen sie nichts mehr mit, was um sie herum geschieht. Und erst recht sind sie außerstande, einen Akt der Reue zu erwecken. Es ist also äußerst unklug und riskant die Buße aufzuschieben. Darum müssen wir uns das Wort des Propheten Isaias um so mehr zu Herzen nehmen: „Suchet den Herrn, solange Er sich finden läßt; ruft Ihn an, während Er nahe ist!“ (Is. 55,6).
Erweiche unser Herz mit Deinen Tränen!
Fragen wir uns schließlich: Wenn Jesus heute, bei der Erhebung der hl. Hostie während der Wandlung auf mich herabblickt, wie damals auf Jerusalem, könnte Er mich mit frohen Augen anblicken oder müßte Er über mich in Tränen ausbrechen? Wollen wir so lange mit der ernsten Arbeit an uns selbst warten, bis Er mit Geißeln den Tempel unserer Seele von unseren schlechten Gewohnheiten reinigt?
Nein! Wenn uns die Versuchung zur Sünde reizen will, dann weisen wir sie entschlossen mit dem Gedanken zurück: Es könnte die letzte Sünde sein und vielleicht kann ich sie nicht mehr bereuen und sie nicht mehr beichten. Vielleicht ereilt mich gerade in dieser Sünde der Tod und meine Seele müßte ein schlimmeres Schicksal erleiden als das verworfene Jerusalem. Sie wäre ewig verdammt! – Wenn uns das Gewissen zur Beichte drängt, sagen wir uns: Ich will es nicht mehr aufschieben, sondern mich gut vorbereiten und ein aufrichtiges Sündenbekenntnis ablegen, denn vielleicht ist heute für mich die letzte Gelegenheit mein Gewissen zu reinigen. Vielleicht ist diese Beichte die letzte große Gnade, welcher das gerechte Gericht folgt.
Lassen Sie uns deshalb zum über Jerusalem weinenden Heiland beten: Ach barmherziger Jesus, der Du aus Mitleid über die schöne Stadt Jerusalem so bitterlich geweint und ihr die grausame Verwüstung vorhergesagt hast, weil sie alle Deine Wohltaten, Deine Wunder, Lehren und Ermahnungen verachtet hat. Erweiche doch mit Deinen Tränen unsere harten, verstockten Herzen, daß wir arme Sünder unseren gefährlichen Zustand erkennen. Erleuchte unser Herz, damit wir die Zeit der Heimsuchung durch Deine Gnade erkennen und sie uns zunutze machen; und was wir bisher versäumt haben, durch emsigen Fleiß wiedergutmachen. Denn jetzt ist unser Tag, solange uns noch das Licht Deiner heiligen Einsprechungen leuchtet; jetzt ist unser Tag, solange wir das Beispiel frommer, gottesfürchtiger Menschen um uns herum vor Augen haben, die uns in allem Guten voranleuchten. Ereilt uns aber die grausige Nacht des Todes und wir hätten noch keine Buße getan, so sind wir ewig verloren. Davor behüte uns, o gütigster und liebreichster Jesus! Von der Vernachlässigung Deiner Einsprechungen erlöse uns, o Herr – um Deiner Tränen und Deiner unendlichen Barmherzigkeit willen. Amen.