Maria, unsere Mutter

Geliebte Gottes!

Was eine Mutter ist, das erschließt sich uns am besten, wenn wir auf jene Frau blicken, die Gott zur Mutter Seines eingeborenen Sohnes berufen hat. Für Gott war es offensichtlich im Hinblick auf die Menschwerdung Seines Sohnes von wesentlicher Bedeutung, daß Er eine Mutter haben sollte. Der Sohn Gottes hätte natürlich genausogut Mensch werden können, ohne eine Mutter. Gott hätte, wie damals im Paradies, einen Leib aus Erde formen, demselben den Lebensodem einhauchen, und Jesus Christus auf dieselbe Weise erschaffen können, wie einst Adam. Doch der göttliche Vater entschied sich für eine menschliche Mutter, die Seinem ewigen Sohn einen Leib bereiten sollte.

Bei all den Gründen, die Gott zu diesem Ratschluß bewogen, gehört gewiß auch dieser; nämlich daß die Menschen, welche Er aus der Sklaverei des Teufels und der Sünde erlösen wollte, eine geistige, eine übernatürliche Mutter haben sollten, eine „Mutter der Gnade“.

Mutter der Gnade

Die göttliche Gnade – sowohl die heiligmachende, als auch die helfende Gnade – ist die größte und wichtigste Gabe, die wir von Gott empfangen. Die helfende Gnade zieht uns zu Gott empor. Nicht nur einen kurzen Augenblick lang, sondern beständig; den ganzen Tag hindurch zieht sie uns. – Wie? Durch gute Gedanken, die uns Gott eingibt; durch gute Vorsätze, welche uns die Sünde meiden und verabscheuen lassen. Durch die helfende Gnade zieht uns Gott an Sich. – Durch die heiligmachende Gnade empfangen wir das Leben Gottes. Mit dem Gnadenleben verähnlicht uns Gott mit Sich, wodurch wir Ihm wohlgefällig werden; wodurch wir Seine Kinder werden – „Gotteskinder“ eben.

Das sind die wichtigsten Gaben in diesem Leben, denn alles andere hat keinen Bestand. Alles andere vergeht nach „einer kleinen Weile“ und erst recht im Tod. Wir bitten Gott zwar zumeist um materielle, zeitliche Güter – und manche von ihnen brauchen wir auch tatsächlich, um unser Leben hier auf Erden bestreiten zu können. Doch alle zeitlichen Güter werden letztlich wie Sand zwischen unseren Fingern zerrinnen. Einzig die übernatürlichen Gaben bestehen in alle Ewigkeit fort. Mit ihnen gibt uns Gott etwas, das unvergänglichen, ewigen Wert besitzt: Sein göttliches Leben.

Gott wollte aber nun, daß wir in Ihm nicht nur einen himmlischen Vater hätten. Er wollte, daß wir, als Seine Kinder, auch eine Mutter haben, von der wir das Gnadenleben empfangen. Aus diesem Grund ist der Titel „Mutter der göttlichen Gnade“ ein besonders herausragender. Denn in der Hand Mariens liegen alle Gaben Gottes, die unser Grab überleben werden.

Gerade in jenem Augenblick, als Christus, am Kreuz verblutend, den für die Erlösung des Menschengeschlechtes entscheidenden Opferakt setzte, da hat Er in feierlicher Weise der Menschheit Seine Mutter geschenkt: „Frau, siehe, dein Sohn! – Sohn, siehe, deine Mutter!“ (vgl. Joh. 19, 26 f.). Er hätte das zu jedem anderen Zeitpunkt Seines Lebens tun können. Aber Er wählte diesen Augenblick, wenige Minuten vor Seinem Tod, um uns das große Geschenk einer Mutter – einer wahren Mutter, Seiner Mutter – zu übergeben.

Es geschah übrigens auch am Höhepunkt der Teilnahme Mariens an Seinem Erlösungsopfer. Denn aufgrund ihrer gewaltigen Liebe zu ihrem göttlichen Sohn, welche die Liebe jeder menschlichen Mutter zu irgendeinem ihrer Kinder in unermeßlicher Weise übersteigt, nahm Maria Anteil an den Qualen der Kreuzigung, als wäre sie selbst mit Jesus gekreuzigt worden. Der hl. Bernhard sagt, daß kein einziges Leid und kein Schmerz unseren Herrn treffen konnte, der nicht zuvor durch das Herz Seiner Mutter gegangen wäre.

Gott wollte uns Sein göttliches Leben mitteilen. Er wollte jedoch, daß wir nicht nur in Ihm einen Vater hätten, sondern daß wir das übernatürliche Leben, wie zuvor schon das natürliche durch die Mitwirkung einer Mutter, durch Maria, empfangen sollten.

Ein Blick auf die Tugenden, welche für die Mutterschaft erforderlich sind, eröffnet uns, warum Gott wollte, daß wir eine himmlische Mutter haben sollten.

Die mütterliche Liebe

Die erste aller mütterlichen Tugenden ist die Liebe. Wenn wir das Wort „Mutter“ hören, so denken wir zuerst genau daran, denn jede Mutter liebt ihr Kind von Natur aus.

Lieben heißt, jemandem Gutes wollen und dazu nach Kräften beizutragen und zu helfen, dieses Gute für die geliebte Person zu erlangen, zu vermehren, zu erhalten. – Liebe ist nicht nur eine Leidenschaft, nicht nur ein Gefühl. In ihrer Wurzel ist die Liebe etwas vergleichsweise kühl-rationales. Sie ist ein Willensakt. Die Liebe wünscht das Gute für den Geliebten und sie hilft nach Kräften es zu erreichen.

Die allerseligste Jungfrau und Gottesmutter Maria liebt alle Menschen als ihre Kinder, und will deshalb für jedes von ihnen nichts Geringeres als das höchste Gut überhaupt, nämlich das ewige Heil, das göttliche Gnadenleben, das ewige Leben bei Gott. Deshalb teilt sie an uns Gnaden aus, die uns genau zu diesem Ziele hin antreiben. – Es ist die allgemeine Lehre aller katholischen Theologen, daß die allerseligste Jungfrau die „Mittlerin aller Gnaden“ ist. D.h. obwohl unser Herr Jesus Christus der einzige „Ursprung aller Gnaden“ ist, so hat es Ihm gefallen Seiner Mutter ausnahmslos alle Gnaden – sowohl die helfenden, als auch die heiligmachende –, die Er während Seines irdischen Lebens und insbesondere am Kreuz, verdient hat, an Maria zur Austeilung zu übertragen.

Wie kann man sich das vorstellen? – Ein Beispiel: Wenn Sie sich ein neues Auto kaufen wollen, dann gehen Sie zum Autohändler ihres Vertrauens. Sie wenden sich nicht unmittelbar an den Hersteller, sondern an den Händler. Wie der Autohändler dasjenige verkauft, was er nicht selber hergestellt hat, so teilt die allerseligste Jungfrau alle Gnaden aus, obwohl sie dieselben nicht verdient hat. – Wenn Sie sich aber direkt an den Autobauer wenden würden, um einen Neuwagen zu erstehen, dann würde dieser Sie in aller Regel auf seine Vertragshändler verweisen: „Bitte kaufen Sie unsere Autos dort, denn wir werden sie Ihnen nicht direkt verkaufen.“ In ähnlicher Weise verhält es sich bei Jesus und Maria. Christus hat alle Gnaden verdient, dieselben gleichsam hergestellt. Maria teilt alle Gnaden aus. Und Christus will, daß wir zu Maria gehen, um sie von ihr zu erbitten und aus ihrer Hand zu empfangen. Indem Christus die allerseligste Jungfrau zur Mittlerin aller Gnaden gemacht hat, ehrt Er Seine Mutter. Und gleichzeitig lehrt Er uns wiederum, wie Er wünscht, daß Seine Mutter auch von uns geehrt werden soll.

Wie groß ist also die Liebe Gottes zu uns, daß Er selbst auf die Erde herab kam, um Sich uns im Allerheiligsten Sakrament zu schenken, um Seine Liebe zu offenbaren im heiligsten Herzen Jesu, um uns Seine Mutter zu offenbaren als die „Mutter der Gnade“, als die „Mutter der Barmherzigkeit“, als die „Zuflucht der Sünder“, als die „Mittlerin aller Gnaden“, als die „Mutter der schönen Liebe“.

Die mütterliche Fürsorge

Eine weitere Tugend der Mutter ist die Fürsorge. Mütter machen sich Sorgen. Jede Mutter ist stets besorgt. Keine Frau verdient den Titel einer Mutter, wenn sie keine Sorgen hätte. Die Sorge ist eine gewisse Ergriffenheit, eine Furcht. – Warum sorgt sich eine Mutter? Weil sie um das Wohl ihrer Kinder fürchtet. Das Leben, und insbesondere wenn es jung und unerfahren ist, ist stets gefährdet. Allenthalben lauern die verschiedensten Gefahren, die sowohl das natürliche, als auch das übernatürliche Leben des Kindes bedrohen. Deshalb kann das mütterliche Herz nie völlig frei von Sorge sein. Die Mutter fürchtet, daß ihre Kinder verletzt werden, oder in sonst irgendeiner Weise zu Schaden kommen könnten.

Diese zitternde Furcht um das Wohl ihres Kindes bleibt zeitlebens erhalten; selbst wenn die Mutter ein Alter von achtzig und das Kind ein Alter von sechzig Jahren erreicht hat. Sie wird sich fortwährend um das Wohl ihrer Kinder sorgen – bis zum Tag ihres Todes! Ja, selbst auf dem Sterbebett wird sie sich sorgen, ob die Kinder wohl ohne sie zurechtkommen werden und ob wohl die geschwisterliche Eintracht nach ihrem Tod bewahrt bleiben werde. Das ist die mütterliche Fürsorge, die aus der Liebe entspringt. Die Ursache der Sorgen ist die Liebe, die das Gute für das geliebte Kind will. Das Maß der Sorge entspricht dabei dem Maß der Liebe. Die Fürsorge um ihre Kinder ist eine Zierde der Mutterschaft.

Und wie könnte es anders sein, als daß wir natürlich auch an Maria diese Art von Fürsorge finden. – Gewiß, ihre Fürsorge ist frei von aller Unvollkommenheit, d.h. Maria sorgt sich nicht um Belanglosigkeiten, wie wir das tun. Sie fürchtet nicht die Zukunft, denn sie weiß so viele Dinge, die wir nicht wissen. Aber sie hat eine wahre Sorge um das Heil der Seelen, insbesondere für das Heil der Sünder. – Maria ist ja nicht in den Himmel eingegangen, einfach nur um dort zusammen mit den Engeln und Heiligen die Herrlichkeit Gottes zu genießen. Nein, sie selber ist Teil des ganzen Erlösungswerkes. Sie hat im Himmel weiterhin ihren Anteil an unserer Erlösung zu leisten. Ihre Aufgabe ist mit ihrem Scheiden aus diesem zeitlichen Leben noch nicht erfüllt, sondern die Tatsache ihrer Gottesmutterschaft in der Zeit, zieht notwendigerweise Konsequenzen für die Ewigkeit nach sich. Und zwar solche Konsequenzen, die sie in viel umfassenderer Weise als Mutter fordern, als wir es uns vorstellen können. – Auf Erden sorgte sie sich um den physischen Leib Christi, den sie vom Heiligen Geist empfangen, in Bethlehem geboren, in Ägypten und Nazareth aufgezogen und am Kreuz aufgeopfert hat. Vom Himmel aus aber sorgt sie sich um jedes einzelne Glied des mystischen Leibes Christi. Mehr noch, um jedes Menschenkind, das durch das Blut Christi erlöst werden und so zu einem Gotteskind werden soll.

Die mütterliche Selbstlosigkeit

Sodann findet sich in einer Mutter die Tugend der Selbstlosigkeit. Eine Mutter ist bekannt dafür, nicht auf das zu schauen, was für sie selbst herausspringt. Sie gibt alles für ihre Kinder, ohne zu erwarten etwas zurückzuerhalten. Sie gibt ihre eigenen Interessen auf. Für ihre Kinder gibt sie ihre Zeit, ihre Kräfte, all ihre Möglichkeiten hin, bis zur Selbsthingabe. Ja, in heroischer Weise ist eine Mutter sogar dazu bereit ihr Leben für das ihrer Kinder aufzuopfern, wenn nur dadurch ihre Kinder leben können. – Die Mutterschaft ist schon in der natürlichen Ordnung eine wunderbare Einrichtung. Jeder von uns kann sagen: Da ist jemand, der ohne zu zögern, sein eigenes Leben opfern würde, damit ich leben kann. Die Selbstlosigkeit ist dem weiblichen Geschlecht deshalb instinktiv, weil es von Gott zur Mutterschaft ausgestattet worden ist.

So hat sich auch die allerseligste Jungfrau in vollkommener Selbstlosigkeit ganz dem göttlichen Willen hingegeben, sich hingeopfert für das Erlösungswerk ihres Sohnes, einschließlich ihrer unvorstellbaren Leiden auf dem Kreuzweg und unter dem Kreuz. In dem einen Wort ihres „Fiat“, welches sie in Nazareth zum hl. Erzengel Gabriel sprach, hat Maria einschlußweise auch ihre Zustimmung zu allen Leiden und Entbehrungen gegeben, die ihrerseits zu unserer Erlösung notwendig waren. Als unsere übernatürliche Mutter hat sich Maria aufgeopfert, damit wir, ihre Kinder, leben; damit wir dem ewigen Tod entgehen und das ewige Glück des Himmels finden können.

Die mütterliche Aufmerksamkeit

Eine weitere Tugend der Mütter ist die Aufmerksamkeit. Ihre Liebe äußert sich in einer aufmerksamen Wachsamkeit und Einfühlsamkeit gegenüber den Bedürfnissen ihrer Kinder. Einer Wachsamkeit für das, was gut ist für das Kind, was das Kind benötigt. Selbstverständlich ist auch die mütterliche Aufmerksamkeit eine Äußerung ihrer Liebe. Die Liebe wäre unvollkommen, ohne diese Aufmerksamkeit und Einfühlsamkeit. – Wenn eine Mutter kalten Herzens nur für alles Lebensnotwendige ihrer Kinder sorgen würde, dann würden wir sie wohl kaum eine „gute Mutter“ nennen. Sie wäre keine gute Mutter, weil sie die Wärme ihres Herzens zurückbehält, und deshalb ihre Kinder nicht wirklich hingebungsvoll liebt. Dazu gehört eben auch, beständig an das Wohl des Kindes zu denken, es zu beobachten und zu beaufsichtigen.

Die allerseligste Jungfrau ist voll hingebungsvoller Aufmerksamkeit gegen uns. Wir dürfen davon ausgehen, daß sie beständig auf unsere Bedürfnisse achtet, uns in unseren Problemen Aufmerksamkeit schenkt, beständig darauf bedacht ist wie sie uns am besten helfen und fördern kann. Das Vertrauen auf ihre hilfsbereite Aufmerksamkeit ist vielleicht in keinem anderen Gebet schöner ausgedrückt, als in dem „Memorare“ des hl. Bernhard: „Gedenke, o gütigste Jungfrau Maria, es ist noch nie gehört worden, daß jemand, der zu dir seine Zuflucht nahm, deinen Beistand anrief und um deine Fürbitte flehte, von dir verlassen worden sei.“

Die mütterliche Barmherzigkeit

Mütter sind sodann barmherzig. Das ist ihr erster Instinkt für das Kind: Erbarmen für das Schwache, das Zerbrechliche, das Hilfsbedürftige. Das ist vielleicht der großartigste Aspekt der Mutterschaft. Deshalb gehört auch die Anrufung Mariens als „Mutter der Barmherzigkeit“ zu den schönsten in der Litanei.

In einer geordneten Familie ist der Vater die Verkörperung der Gerechtigkeit, die jedem das gibt, was er verdient; die also das Gute belohnt und das Böse bestraft. Die Mutter ist sodann die Verkörperung der Barmherzigkeit. Wohlgemerkt! Es gibt keine Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit. Und die Barmherzigkeit widerspricht auch niemals der Gerechtigkeit. – Der hl. Thomas sagt, daß die Barmherzigkeit über die Gerechtigkeit hinausgeht. Denn Gerechtigkeit gibt jedem genau das, was er verdient. Die Barmherzigkeit aber gibt jedem mehr, als er eigentlich verdient hätte. Gerecht ist das, was geschuldet ist. Barmherzig ist, was über das geschuldete Gut hinausgeht.

Meist sprechen wir in unserem Zusammenhang von etwas Bösem, wenn also ein Kind etwas falsch gemacht hat. Der Vater ist die Verkörperung der Gerechtigkeit, die Mutter die Verkörperung der Barmherzigkeit. Sie wirken dabei zusammen, wie es bei einem Richter der Fall ist. Ein Richter wird nur Barmherzigkeit walten lassen, wenn es einen Grund dafür gibt. Im Falle eines Verbrechens, das etwa von einem Jugendlichen begangen wurde, wird der Richter unter Umständen Barmherzigkeit walten lassen, aufgrund der Unklugheit bzw. Dummheit, die der Jugend aufgrund ihrer mangelnden Lebenserfahrung und Urteilskraft eigen ist. Hingegen wird er bei einem Erwachsenen im gleichen Falle keine Barmherzigkeit walten lassen, weil dieser es eigentlich besser wissen müßte. Der Richter könnte ferner barmherzig sein gegen einen Verbrecher, der eine aufrichtige und tiefe Reue zeigt. Hingegen wird er keine Barmherzigkeit gegen jemanden zeigen, der ein Verbrechen begangen hat und dabei auch noch stolz darauf ist. Gerechtigkeit und Barmherzigkeit müssen also geregelt sein durch die Tugend der Klugheit und die Gabe der Weisheit. Und wenn das der Fall ist, dann kann und wird die Barmherzigkeit niemals der Gerechtigkeit widersprechen.

Der Mutter ist die Neigung zur Barmherzigkeit gleichsam ins Herz gelegt. Sie empfindet schnell Mitleid mit ihrem Kind. Freilich darf sie dem Urteil ihres Mannes nicht widersprechen, denn er ist das Oberhaupt der Familie und sein Wort ist endgültig. Aber ehe der Vater das endgültige Urteil gefällt hat, wird sie mildernd auf ihn einwirken, sofern es einen mildernden Grund gibt. Die Mutter ist der Quell der Barmherzigkeit in der Familie.

Maria wird als „Mutter der Barmherzigkeit“ angerufen. Aufgrund der Anordnung Gottes ist sie die Verkörperung der Barmherzigkeit vor dem Throne Gottes. Deshalb wenden wir uns in unserer Zerknirschung über unsere Sünden an Maria und bitten sie um ihre Fürsprache, damit sie ein gutes Wort für uns einlege und dadurch die Strenge der göttlichen Gerechtigkeit abgemildert werde. Sie ist die personifizierte Barmherzigkeit. Diese Stellung kommt Maria zu, aufgrund der Anordnung Gottes. Warum?

Weil Sünder und insbesondere solche, die schwer und zahlreich gesündigt haben, zur Verzweiflung hinneigen, weil sie aufgrund ihrer schweren und zahllosen Sünden überzeugt sind, es könne für sie keine Rettung mehr geben. Sie können sich nicht vorstellen, daß Gott so barmherzig ist, daß Er sich ihrer erbarmen, ihnen ihre Sünden vergeben und sie wieder als Seine Kinder annehmen würde. Deswegen meinen sie unwiderruflich der ewigen Verdammnis verfallen zu sein. – Bei Sündern mit einem gesunden Gottesbild, das also noch um die Größe Gottes weiß und Seine Gerechtigkeit fürchtet, verhält es sich nicht selten genau so. Der Grund warum heute so viele Sünder mit selbstverständlicher Vermessenheit auf die Barmherzigkeit Gottes bauen, liegt darin, daß sie gar keine Vorstellung mehr von der Majestät Gottes haben, weil ihnen das Fundament der Gottesfurcht, das bekanntlich der Anfang der Weisheit ist, abhanden gekommen ist oder immer schon gefehlt hat. Ein Mensch aber, der sich tief in die Sünde verstrickt, sich aber ein gesundes Gottesbild bewahrt hat, schaudert angstvoll vor Gott zurück. Er nimmt sich, völlig zurecht, als strafwürdig wahr. Und diese wahre Erkenntnis kann ihn verhängnisvollerweise dazu treiben, seine Hoffnung auf die göttliche Barmherzigkeit aufzugeben. Beladen mit schweren Sünden schreckt er vor dem Beichtstuhl zurück und fährt stattdessen damit fort, Sünde auf Sünde zu häufen.

Damit der Sünder in dieser Lage nicht verzweifelt, hat uns Gott in Maria die „Mutter der Barmherzigkeit“ gegeben. Wenngleich der Sünder vor der göttlichen Gerechtigkeit zurückschreckt, weiß er daß man immer zu seiner Mutter gehen kann. Jede Mutter wird ihr Kind aufnehmen, egal was es verbrochen hat. Es ist doch ihr Kind. Das wissen wir. – Wenn nun ein Sünder auch nur einen Funken wahrer Reue in seiner Seele hat und sich damit an Maria wendet, dann wird sie mit diesem Fünklein zum Richterstuhl Gottes gehen und Fürsprache für ihn einlegen. Sie wird dort um die Gnade der Reue für ihr Kind bitten, damit sich der Sünder aufraffen kann, eine gute, reuevolle Beichte abzulegen, die hl. Kommunion zu empfangen und ein neues Leben zu beginnen. Selbst wenn jemand den größten Teil seines Lebens in der Todsünde zugebracht hätte – vierzig, fünfzig, sechzig Jahre – wird sich Maria für ihn einsetzen. Dafür ist sie da. Sie wird niemanden zurückweisen. Wir können immer zu unserer Mutter gehen. Es gehört zu ihrem Wesen, daß sie uns ihre Liebe, ihre Fürsorge, ihre Aufmerksamkeit und ihre Barmherzigkeit erweist.

Wenn wir all diese Dinge erwägen, wer könnte seine Mutter nicht lieben? Und wenn wir all das von Maria hören, wie könnten wir sie nicht als unsere himmlische Mutter lieben und ihr nicht als treue Kinder anhängen?

Deshalb verehrt die Kirche die allerseligste Jungfrau Maria so sehr. Das ist etwas, was Protestanten nicht verstehen können. Sie erblicken in Maria lediglich eine ehrenwerte Frau, die Mutter Jesu, die aber für das ewige Heil unserer Seele keine Bedeutung hat, die nicht in unsere Erlösung einbezogen ist, und die deshalb keine besonderen Privilegien besitzt, welche sie über alle Frauen hinaushebt und sie für uns besonders verehrungswürdig und liebenswert macht. Maria hat in ihren Augen nicht den Stellenwert der Mutter.

Anforderungen der Mutterschaft

Mütter haben einen sehr hohen Stellenwert. Steht die Mutter in den Augen ihrer Kinder nicht gleichsam wie auf einem hohen Sockel? Gute Kinder ehren und respektieren ihre Mutter, helfen ihrer Mutter, verehren ihre Mutter und verteidigen die Ehre ihrer Mutter. Genauso handelt die Kirche mit Maria. Mütter haben einen hohen Stellenwert! In dieser Hinsicht sind sie wie Priester. Jeder beachtet und ehrt den Priester. Wie sich aber der Priester durch einen entsprechenden Lebenswandel dieser Hochachtung würdig erweisen muß, so auch die Mutter. Auch Mütter müssen, wie die Priester, eine möglichst hohe Stufe der Tugendhaftigkeit verkörpern.

Es sind zwei Seiten einer Medaille. Es ist eine große Ehre ein Priester zu sein. Doch um ein „guter Priester“ zu sein, der die Ehre und Hochachtung, die ihm entgegengebracht wird, wirklich verdient, ist auch ein hoher Tugendgrad von ihm gefordert. Ansonsten wird man den Priester nur aufgrund seines Weihecharakters ehren, den Gott ihm durch die Handauflegung des Bischofs eingeprägt hat, den er aber selber durch seine Lauheit und Lasterhaftigkeit entehrt. Einen solchen Priester wird man eher dulden und ertragen, weil er durch die Weihe Gott verähnlicht ist. Aber man wird ihn nicht lieben und verehren.

Das gleiche gilt von der Mutter. Sie empfängt ganz natürlich die Hochachtung und Ehre von ihren Kindern, weil Gott sie unwiderruflich zum Lebensquell ihrer Kinder gemacht hat; weil sie den Kindern etwas gegeben hat, das diese ihr niemals mit einer entsprechenden Gegenleistung vergelten können. Deshalb schulden ihr die Kinder zeitlebens Hochachtung. – Aber dieser geschuldeten Ehre muß sich die Mutter auch würdig erweisen, indem sie die Tugend nicht nur in ihren Ermahnungen und Zurechtweisungen im Munde führt, sondern sie auf einer hohen Stufe auch vorlebt. Ansonsten wird sie zu dem, was wir soeben vom Priester gesagt haben: Ja, sie ist physisch gesehen eine Mutter. Aber ohne die Tugenden einer Mutter entehrt sie ihre eigene Mutterschaft. Sie ist dann eigentlich nur „Gebärerin“, aber nicht „Mutter“.

Das bedeutet, daß all das Gute, was eine Mutter ihren Kindern mitteilen muß und mitteilt, sich an ihr selber finden muß. Das ist der Preis der zu zahlen ist, um eine wahre Mutter zu sein, um ein verdienstvolles Leben einer Mutter zu führen. – Adlige und reiche Menschen bringen Kinder zur Welt und geben sie dann an eine Amme oder ein Kindermädchen ab. Vielleicht kommen sie einmal am Tag vorbei, um nach dem Kind zu sehen, um sich sodann wieder ihren Geschäften zuzuwenden. Das Kind aber wird eher im Kindermädchen die Mutter erblicken, als in seiner leiblichen Mutter, denn am Kindermädchen erfährt das Kind alle Tugenden einer Mutter. – Alles was eine Mutter an das Kind weitergibt, von der Muttermilch angefangen bis zum Tugendbeispiel bescheidener Treue, muß von ihr selber kommen. Das heißt aber, sie muß das alles selber besitzen, was sie weitergeben will, was sie weiterzugeben hat. Eine scholastische Sentenz lautet: „Nemo dat quod non habet.“ Keiner kann geben, was er selber nicht besitzt. Eine Binsenweisheit!

Nicht die Gebärerin verdient also schon den Namen Mutter. Die mütterlichen Tugenden machen eine Frau erst wirklich zur Mutter in den Augen ihrer Kinder. Und durch diese Tugenden werden die Kinder dann bewegt jene Frau, der sie ihr Leben verdanken, auch auf den Thron ihres Herzens zu heben. – Das größte, freilich was eine Mutter ihren Kindern zu geben hat, ist ihr Glaube, ihre Gebete, ihre Frömmigkeit, ihre Gottesfurcht. – Es ist ja dem weiblichen Geschlecht eigen, mehr zur Frömmigkeit geneigt zu sein, als Männer. Und zwar aus dem Grund, weil sie dazu bestimmt sind Mütter zu sein. Männern fällt der Zugang zur Frömmigkeit oft schwerer. Aber sie können ihn finden – nicht zuletzt durch das Vorbild ihrer Mütter.

Deshalb müssen die Mütter darum beten, ihre Rolle immer vollkommener zu erfassen und auszufüllen. Und auch wir alle müssen um gute Mütter beten, die das Ideal, wie wir es in unserer himmlischen Mutter erblicken, in ihrem Leben verwirklichen und vervollkommnen können. Wenn Gott also eine Frau zum Mutterberuf ausersehen hat, dann soll sie sich auf Opfer und Leid gefaßt machen, um in der Tugend zu wachsen. Sie soll für Opfer und Leid bereit sein, wie Maria unter dem Kreuz, sonst wird aus ihr nur die Gebärerin, nie die Mutter.

Der Mutterberuf der Jungfrauen und Kinderlosen

Schließlich noch ein Wort an jene Frauen, die auf den Beruf der Mutterschaft entweder freiwillig verzichtet haben, oder denen er aus welchen Gründen auch immer verwehrt blieb. Wem Gott also in Seinem weisen Ratschluß einen anderen Lebens­weg als den der leiblichen Mutterschaft bestimmt hat; wer vielleicht eine große Sehnsucht nach Ehe, Kind und Familie im Herzen getragen hätte, aber derlei Wünsche unerfüllt blieben, der soll sich an die Worte Jesu erinnern: „Wer den Willen Meines himmlischen Vaters tut … der ist Mir Mutter“ (Mk. 3, 35). Es wird einmal der Tag kommen, wo auch die Jungfrau und die Kinderlose jubelnd er­kennen wird: „Was heilig am Mutterberuf ist, das habe auch ich mir verdient, wenn ich mich nur in Gottes Willen gefügt und in opfervollem Dienen meine Mütterlichkeit auf geistige Weise betätigt habe.“ – Das ist gar nicht so schwer. Man muß nur sorgen, daß auch im jungfräulichen oder kinderlosen Leben die echte Mütterlichkeit zu ihrem Recht kommt, die Gott in das Herz einer jeden Frau gelegt hat. Diese geistig geübte Mütterlichkeit gegen den Nächsten beschenkt beide. Sie macht das Leben der Jungfrau und der Kinderlosen wertvoller und schöner, und sie beschenkt die anderen durch selbstloses Dienen. Jede Frau braucht nur die Augen aufzumachen und sie findet Gelegenheit genug, durch Linderung von Not, durch Werke der Nächstenliebe – sei es in der eigenen Verwandtschaft, in der Nachbarschaft, oder in der Gemeinde – geistige Mutterschaft auszuüben, geistige Mutterrechte über notleidende Menschen und Sünder zu erwerben.

„Jede Not ruft nach der Mutter“, sagt ein Sprichwort. Not – vor allem geistige Not – haben wir heutzutage so viel. Folglich ist auch der Ruf nach geistiger Mutterschaft, noch immer nicht verklungen. Die Mutterschaft erschöpft sich also bei weitem nicht in den eigenen Kindern. Da ist auch die Jungfrau und die Kinderlose gefordert, „Mutter“ zu sein, in heiligem, selbstlosem Dienen, Beten und Opfern, was übernatürliches Leben stiftet. So könnte jedes Frauenleben ein Abbild jener werden, die unser Glaube als „Jungfrau und Mutter“ bekennt.

Und vielleicht dürfen am Ende die Jungfrauen und Kinderlosen sogar feststellen, daß sie durch den Segen ihres Betens, Opferns, Sorgens und Arbeitens; durch ihr Flehen um Barmherzigkeit für die Sünder über mehr Menschen Mutterrechte erworben haben, als manche ihrer Schwestern, die Kinder gebären durften. Amen.

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