3. Fastensonntag
Die Sünde der Ehrabschneidung
Geliebte Gottes!
Im heutigen Evangelium sehen wir, wie die Pharisäer versuchen unseren Herrn Jesus Christus durch ihre Reden beim Volk unmöglich zu machen. Er hat Seine Liebe unter Beweis gestellt, als Er einen Dämon aus einem Besessenen austrieb. Und Seine Feinde schrecken nicht davor zurück, diesen göttlichen Machterweis zum Wohle eines Leidenden so hinzustellen, als sei das ein Werk des Teufels gewesen. Indem sie sagen – „Durch Beelzebub, den Obersten der Teufel, treibt Er die Dämonen aus“ (Lk. 11, 15) – versprühen sie mit ihren verleumderischen Zungen das Gift des Argwohnes und des Mißtrauens, das in den Herzen der Menschen die Liebe zu Jesus tötet. – Das soll uns Anlaß sein, uns einige Gedanken über die Zungensünden zu machen.
Einteilung der Zungensünden
Man unterscheidet drei Arten von Zungensünden, nämlich die Ehrabschneidung, die Verleumdung und die Ohrenbläserei. Diese Sünden haben zwei Gemeinsamkeiten: Sie werden (1.) allesamt in Worten begangen. Und außerdem werden sie (2.) fast immer in Abwesenheit des Nächsten, gegen den sie gerichtet sind, begangen.
Die „Sünde der Ehrabschneidung“ besteht in der Offenbarung wahrer, aber bislang verborgener Fehler des Nächsten, ohne daß hierfür eine Notwendigkeit gegeben wäre. Durch die Enthüllung der verborgenen Fehler zerstört der Ehrabschneider die Ehre, die gute Meinung oder den guten Ruf den man von dieser Person hat.
Die Sünde der Ehrabschneidung darf nicht verwechselt werden mit der „Sünde der Verleumdung“. Die Verleumdung fügt nämlich einer Ehrabschneidung zusätzlich eine absichtliche Lüge hinzu, indem der verleumdeten Person ein Fehler angedichtet wird, den sie in Wirklichkeit gar nicht hat.
Bei der Ehrabschneidung werden also wahre Fehler aufgedeckt, während durch Verleumdung Fehler behauptet werden, die gar nicht wahr sind.
Die dritte Sünde gegen die Ehre des Nächsten ist die „Sünde der Ohrenbläserei“. Die Ohrenbläserei besteht darin, daß man Zuträgerei betreibt, um Freunde zu entzweien; daß man also einem Freund Nachteiliges von einem anderen berichtet, um die Freundschaft zu zerstören.
Wir wollen uns heute nur einer dieser drei Sünden widmen, nämlich der Ehrabschneidung.
Die vier Kennzeichen der Ehrabschneidung
Vier Kennzeichen trägt die Sünde der Ehrabschneidung an sich:
Erstens: Die Ehrabschneidung offenbart nicht die eigenen, sondern die Fehler des Nächsten. Wollte jemand seine eigenen Fehler aufdecken, so würde er lediglich seiner eigenen Ehre schaden. Durch die Offenbarung der Fehler des Nächsten aber, entsteht diesem ein Schaden, indem sein guter Ruf und seine Ehre beschädigt oder gar zerstört werden.
Zweitens: Der Ehrabschneider offenbart die Fehler des Nächsten. Wenn jemand das Gute bekannt macht, das der Nächste getan hat, oder Dinge, die nicht böse sind, so würde er ihm nicht an der Ehre schaden. Im Gegenteil! Gegenstand der Ehrabschneidung sind immer die Fehler des Nächsten. Wirkliche Fehler, keine erdichteten Fehler.
Diese echten Fehler werden nun drittens: vom Ehrabschneider offenbart. Es werden Fehler bekannt gemacht, die der Nächste wirklich begangen hat, die aber bisher unbekannt oder nur wenigen Menschen bekannt waren. Der Ehrabschneider macht sie bekannt, deckt sie auf, plaudert sie aus, bringt sie, wie man zu sagen pflegt, „unter die Leute“.
Viertens: Schließlich offenbart der Ehrabschneider die Fehler des Nächsten ohne Grund, d.h. ohne vernünftige und hinreichende Notwendigkeit. Es kann nämlich, wie wir noch sehen werden, durchaus Fälle geben, wo man die Fehler des Nächsten ohne Sünde offenbaren und aufdecken darf, ja bisweilen sogar aufdecken muß.
Ursprung der Ehrabschneidung
Die Sünde der Ehrabschneidung wurzelt in einem verborgenen Stolz. Der Stolz bewirkt meist, daß man dem Nächsten mit leichtfertigem Argwohn begegnet. Nicht jeder Argwohn ist leichtfertig, sondern leichtfertig ist ein Argwohn, der ohne einen triftigen Grund Mißtrauen gegen den anderen hegt. Der leichtfertige Argwohn allein ist schon sündhaft; doch führt er auch dazu, daß man einen Reflex entwickelt über andere Personen schlecht zu urteilen; ja selbst hinter den guten und unschuldigen Handlungen des Nächsten, bisweilen eine schlechte Absicht zu vermuten. – Etwa wenn eine stolze Person einen anderen sieht, der sich demütig und bescheiden verhält, so mutmaßt sie in ihrem Herzen, das sei nur Heuchelei. Oder wenn sie wahrnimmt, daß ein anderer zurückhaltend in seinem Benehmen ist, dann wird sie diese Person als seltsam und verklemmt beurteilen. In den Augen des Stolzen erscheint ein geduldiger, langmütiger Mensch als schwach, unterwürfig und konfliktscheu. Angesichts von Genügsamkeit und Sparsamkeit unterstellt sie Geiz und Habsucht. Wenn sie sieht, wie sich einer an bestehende Regeln hält, so wird diese Person als kleinkarierter Spießer, als ängstlicher Skrupulant, oder als engstirniger Kleingeist eintaxiert.
Wie sich ein Insektenschwarm sofort auf verdorbene Früchte stürzt; wie eine Fliege um den Kothaufen kreist, so trachtet der Argwöhnische in seinem Urteil danach, in den anderen Menschen sittliche Fäulnis wahrzunehmen. – Ja, und wenn sein Auge nichts finden kann, was zu kritisieren wäre, dann treibt sie der Argwohn dazu an, auf einmal diejenigen Dinge vermeintlich im Mitmenschen zu erkennen, die sich in Wirklichkeit an ihnen selber finden.
Kurz: Das Auge des Stolzen ist geneigt stets das Schlechte zu sehen; stets das Böse im Gewand des Guten zu vermuten. Und wenn das Herz mit solchem Unrat gefüllt ist, dann wird sich derselbe bald über die Lippen ergießen, denn: „Wovon das Herz voll ist, davon fließt der Mund über“ (Lk. 6, 45). Das argwöhnische Herz ergießt sich in Reden über die wahren Fehler des Nächsten und wird ehrabschneiderisch. Zudem schwebt es in großer Gefahr sich auch über die vermeintlichen, aber nicht zutreffenden Fehler einer anderen Person auszulassen, und setzt so verleumderisch Gerüchte in die Welt. In beiden Fällen leidet die Ehre des Nächsten Schaden.
Ehre und ihre Bedeutung
Die Ehre ist die äußere Anerkennung der persönlichen Unbescholtenheit, der Vorzüge und Leistungen des Nächsten. Der gute Ruf ist eine Vorbedingung zu vielen guten Werken in dieser Welt. Denn wer nicht geachtet ist, der kann nichts wirken unter den Menschen. Der gute Ruf ist also die Basis für die moralische Autorität, für den Einfluß und damit für die Wirkungsmöglichkeiten eines Menschen innerhalb einer Gemeinschaft. Wird der gute Ruf zerstört, entsteht ein großer zwischenmenschlicher Schaden. Deshalb verlangen das Gemeinwohl und der gesellschaftliche Zusammenhalt, daß die verborgenen Fehler des Einzelnen nicht enthüllt werden, um die Einigkeit nicht zu gefährden. Daher ist die Ehre auch strafrechtlich und zivilrechtlich geschützt. Bei schuldhafter Verletzung der Ehre besteht Anspruch auf Schadenersatz.
Ferner ist die Ehre auch für den Einzelnen von großer Bedeutung. Sie ist ein Mittel zum Erhalt der Tugend. Das heißt: Wer Ehre besitzt, der wird sich hüten, sie durch unehrenhaftes Verhalten zu verspielen. Er wird darauf achten, daß er seine Ehre behält, und auf diese Weise in der Tugend befestigt. Wohingegen umgekehrt der Ehrverlust auch die Hemmungen vor der Sünde wegnimmt; wie das Sprichwort sagt: „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich‘s völlig ungeniert.“ Jeder Mensch hat daher Anspruch auf Achtung und Ehre. Deswegen muß die Ehre des Mitmenschen, sowohl aus Gründen der Gerechtigkeit geschont und geachtet, als auch aus Gründen der Liebe und des Gemeinwohls, sogar positiv gefördert werden.
Die Ehrabschneidung ist nun, sowohl eine Sünde gegen die Tugend der Gerechtigkeit als auch gegen die Tugend der Liebe. – Der hl. Thomas sagt, daß es einen großen Schaden darstellt, den guten Ruf eines anderen zu zerstören. Denn in diesem Leben gibt es für den Menschen keinen wertvolleren Besitz als seinen guten Ruf. Unter den natürlichen Gütern des Menschen ist das höchste die Ehre. Wenn der Ruf eines Menschen zerstört wurde, so ist er der Möglichkeit beraubt, viele gute, tugendhafte und verdienstliche Werke zu tun, woraus ihm nicht nur ein großer Schaden im Hinblick auf sein zeitliches Wohl entsteht, sondern auch hinsichtlich des ewigen Lohnes. Der hl. Ambrosius sagt: „Erträglicher sind die Diebe, die unser Hab und Gut plündern, als die Ehrabschneider, die unseren guten Ruf ruinieren.“
Wir halten also fest, daß die Ehre ein großes und heiliges Gut ist, das man nicht grundlos beschädigen darf.
Direkte und indirekte Ehrabschneidung
Die Sünde der Ehrabschneidung kann nun entweder auf direkte, oder auf indirekte Art und Weise begangen werden. Wer die verborgenen Fehler anderer explizit, also ausdrücklich bekannt macht, der verfehlt sich auf direkte Weise gegen die Ehre des Nächsten. Das ist offensichtlich.
Man kann aber auch indirekt die verborgenen Fehler des Nächsten aufdecken, indem man etwa Andeutungen macht, oder indem man die anderen durch auffälliges Schweigen zu der Annahme nötigt, daß da tatsächlich irgendein Fehler, ja offenbar sogar irgendetwas „Unsägliches“ vorliegt. In vielen Fällen kann die indirekte Ehrabschneidung sogar mehr Schaden anrichten, als wenn man den Fehler direkt offenbaren würde, weil vage Andeutungen die Phantasie des Zuhörers anregen und ihn nicht selten schlimmeres mutmaßen lassen, als es tatsächlich der Fall ist.
Indirekte Ehrabschneidung läge etwa vor, wenn jemand – nach einer bestimmten Person gefragt – geheimnisvoll antwortet: „Ich kann nicht alles sagen, was ich dazu weiß.“ Oder wenn ein anderer sagt: „Mit dieser Person gibt es ernste Probleme. Aber besser, wenn ich nichts dazu sage.“ Auf diese Weise wird Argwohn gesät und die Ehre des Nächsten indirekt geschädigt. Nicht selten entstehen so Gerüchte und Verleumdungen.
Sündhaftigkeit der Ehrabschneidung
Weil der gute Ruf ein wertvollerer Besitz ist als alle Reichtümer der Welt, so zieht der hl. Thomas den Schluß, daß die Ehrabschneidung an sich schwer sündhaft ist. In vielen Fällen werden jedoch die Umstände mildernd einwirken. Die Schwere der Sünde der Ehrabschneidung wird nämlich von folgenden Umständen beeinflußt: Erstens: Von der Materie, also von dem Fehler, der offenbart wurde. Zweitens: Von der Würde der Person, über die man sich ausläßt. Und drittens: Von dem Beweggrund, dem Motiv, warum man den Fehler bekannt macht.
Hinsichtlich der Materie gilt folgendes: Wenn der unnötigerweise und damit ungerechterweise bekanntgemachte Fehler des Nächsten an sich eine schwere Sünde ist, dann ist auch die Ehrabschneidung eine Todsünde. Die ungerechte Bekanntmachung von Todsünden des Nächsten ist selbst Todsünde. – Wenn etwa jemand die bislang verborgenen Alkoholexzesse einer Person in ihren Jugendtagen bekannt macht, dann begeht er mit seiner Rede eine schwere Sünde, weil die Trunkenheit selbst Todsünde ist.
Wenn jemand einen Fehler des Nächsten bekannt macht, der eine läßliche Sünde darstellt, dann wird auch die Sünde der Ehrabschneidung für gewöhnlich eine läßliche Sünde sein. Für gewöhnlich, wohlgemerkt! Denn auch die anderen beiden Umstände können der Ehrabschneidung zusätzliche Schwere verleihen.
Etwa die Würde der Person, deren Fehler offengelegt wurde. Personen, die Führungspositionen innehaben, können empfindlich Schaden an ihrem Ansehen und an ihrer moralischen Autorität leiden, wenn ihre verborgenen Fehler bekannt werden. Und zwar größeren Schaden, als Personen, die keine Autorität, keinen Einfluß auf andere auszuüben haben. Denn Fehler der Vorgesetzten werden von den anderen stets schwerwiegender gewertet, als dieselben Fehler bei Gleichgestellten oder Untergebenen. Auch die Offenbarung läßlicher Sünden von Vorgesetzten, kann den Respekt vor deren Autorität beschädigen und damit dem Ansehen der Autorität allgemein abträglich sein. – Wenn jemand beispielsweise bestimmte Fehler seines Arbeitgebers bekanntmacht; wenn er sagt: „Der Chef ist ein Lügner.“ – dann ist das schwerwiegender, als würde man von einem gleichgestellten Kollegen, oder von einem untergebenen Mitarbeiter sagen: „Er ist ein Lügner.“ Das gleiche gälte für Kinder, welche die geheimen Fehler ihrer Eltern, Lehrer oder Vorgesetzten bei ihren Geschwistern und Kameraden bekannt machen. Das gleiche gilt vom Reden über Geistliche und Gottgeweihte, deren Standesansehen und Wirkungsmöglichkeit wesentlich von ihrem tadellosen Ruf abhängt.
Der dritte Umstand, welcher die Schwere einer Ehrabschneidung bestimmt ist schließlich das Motiv, also der Beweggrund, warum man den Fehler des anderen bekanntmacht. Will man mit der Ehrabschneidung gezielt das Ansehen einer Person vor seinen Zuhörern verringern, so ist das schwerwiegender, als wenn die verborgenen Fehler durch unbedachtes Reden bekanntgemacht werden. Wenn das Motiv lediglich von dem Laster der Schwätzerei herrührt, um sich am Klatsch mit anderen zu beteiligen, dann ist das sehr wohl sündhaft, jedoch aufgrund der Unbedachtsamkeit wohl zumeist nur läßlich.
Wenn hingegen tatsächlich ein gerechter Grund oder gar eine Notwendigkeit besteht, über die verborgenen Fehler eines anderen zu sprechen, dann handelt es sich um gar keine Sünde. Im Gegenteil!
Gerechte Offenbarung der Fehler anderer
Wenn es erlaubt sein soll, die Fehler anderer aufzudecken, müssen Gründe vorhanden sein. Was können solche Gründe sein? – Nun, zum Beispiel, wenn sich jemand Rat holen will. Wenn jemand seine Not einem anderen offenbaren will, um Trost zu finden. Vor allem, wenn er Schaden abwenden will, oder wenn er sich davon einen Nutzen für den Fehlenden verspricht. Unter solchen Umständen kann es sogar Pflicht sein, die verborgenen Fehler anderer, aufzudecken, um nicht die Dinge weiterwuchern und sich verschlimmern zu lassen.
Es kann also durchaus ein gutes Werk sein, die Fehler des Nächsten denjenigen zu offenbaren, die ihm vorgesetzt sind; Personen, welche die Autorität und den Einfluß haben den Nächsten zu ermahnen, zurechtzuweisen, zu strafen, zu bessern. – Es sündigen also keineswegs die Kinder, die Schüler, die Untergebenen, wenn diese ihren Eltern, ihren Lehrern, ihren Vorgesetzten die schweren Fehler ihrer Geschwister, ihrer Mitschüler, ihrer Kameraden und Kollegen sagen, damit dieselben ermahnt und gebessert werden. Die gerechte Offenbarung geheimer Fehler hat sich dabei also an Personen zu richten, die über Einfluß und Mittel verfügen, den Fehlenden zu bessern. Bei schwerem Fehlverhalten besteht sogar eine Pflicht zur Anzeige. So hat etwa Joseph, der Sohn des Patriarchen Jakob, als Knabe seine zehn Brüder beim Vater angezeigt, weil sie sich eines sehr schlimmen Vergehens schuldig gemacht hatten (vgl. Gen. 37,2). Joseph ist damit nicht zu den Nachbarn, nicht zu seinen Kameraden oder zu den Dienern seines Vaters gegangen, sondern zu Jakob selbst. Denn dieser allein verfügte über die väterliche Autorität, über die Zuständigkeit und damit auch über den notwendigen Einfluß, um die zehn älteren Brüder zu tadeln und zu bessern.
Ein anderer Fall, wo die Aufdeckung der Fehler des Nächsten erlaubt oder gar geboten ist, liegt dann vor, wenn nur auf diesem Weg ein schwerer Schaden, ein noch größeres Übel für die eigene Person, für die Familie, für die Gemeinschaft, für die Kirche, für den Staat verhütet werden kann – etwa indem ein geheimes Verbrechen aufgeklärt, oder die Besetzung eines Amtes durch einen in Wirklichkeit inkompetenten Bewerber verhindert werden kann. Die Sünde der Ehrabschneidung besteht also nur darin, daß der geheime Fehler des Nächsten, entweder ohne Notwendigkeit oder vor solchen Menschen bekanntgemacht wird, die weder eine Zuständigkeit, noch die Möglichkeit haben den Fehler zu bessern bzw. den Schaden abzuwenden; und denen auch kein Schaden erwächst, würde ihnen der Fehler unbekannt bleiben. – In allen anderen Fällen sündigt man durch Ehrabschneidung. Es wird die Ehre des Nächsten, die er besitzt, vermindert, beschädigt oder gar zerstört.
Zahlreich, doch unbekannt
Ja, wer von uns würde fremdes Gut, auch wenn es nur eine Kleinigkeit wäre, grundlos einfach so beschädigen oder zerstören? Niemand! Daß wir fremdes Gut pfleglich behandeln müssen, ist uns in Fleisch und Blut übergegangen. Aber wie viele gibt es – auch unter guten Katholiken – die sich nichts daraus machen bei Schwätzereien, die Fehler, auch schwere Fehler des Nächsten, laut heraus zu posaunen, im kleinen Kreis zu erzählen, oder einer bestimmten Person nur unterschwellig anzudeuten. Derer sind viele, sehr viele!
Unter allen Sünden wird vielleicht die Ehrabschneidung am häufigsten begangen. Und obwohl diese Sünde am meisten begangen wird, so wird sie bei der Gewissenserforschung meist übersehen. – Oft sind Zungensünden bereits Gewohnheitssünden, also durch häufige Wiederholung eingeübte Laster. Man trinkt diese Sünde wie Wasser in sich hinein, so daß es einem schon gar nicht mehr auffällt, geschweige denn, daß man sich Rechenschaft darüber gibt. Meist werden sie sodann in ihrer Gewichtigkeit unterschätzt und für bloße Bagatellen gehalten.
Der hl. Hieronymus sagt: „Auch diejenigen, die von anderen Lastern weit entfernt sind, fallen in dieses, wie in den letzten Fallstrick.“ Und der hl. Laurentius Justiniani sagt: „Unter dem Schein des Eifers ergreift dieses Laster die Unvorsichtigen.“ – Warum ist das so? Oft geschieht es, daß die Menschen darin eine Unterhaltung finden, sich über die Fehler anderer Personen auszulassen. Gewisse Freundschaften ruhen scheinbar allein auf dem Fundament, bei Klatsch und Tratsch über andere herzuziehen.
Fadenscheinige Rechtfertigungsversuche
Wie haltlos und nichtig sind dabei die Entschuldigungen, mit denen die Sünde der Ehrabschneidung bisweilen zu rechtfertigen versucht wird.
„Ich habe nichts als die Wahrheit gesagt, und die Wahrheit wird man ja wohl noch sagen dürfen.“ Gewiß darf man niemals lügen. Aber darf man alles sagen, was wahr ist? Auch dann, wenn dadurch die Ehre des Nächsten ohne gerechten Grund verletzt oder zerstört wird? Gewiß nicht! – Mag der Nächste noch so schwer und auch noch so oft gefehlt haben; mögen seine Fehler wahr und unumstößlich gewiß sein; solange diese Fehler unbekannt sind, hat der Nächste noch seine Ehre, seinen guten Namen, sein Ansehen, dank dem er gutes Wirken kann. – Wie wäre uns zumute, wenn jemand unsere schwersten, ältesten, geheimsten, vielleicht längst vergessenen Fehltritte vor aller Welt – etwa über die sozialen Medien – bekannt machen würde? Eventuell Fehler, die wir inzwischen längst gebessert haben, oder geheime Fehler, um deren Besserung wir täglich ringen. Es wäre doch nichts, als die Wahrheit; und die Wahrheit darf man doch sagen, oder? Auch von uns …? – Nein, wenn es um uns geht, würden wir das gewiß anders sehen. Es würde uns zutiefst verletzen. Es würde uns bis ins Herz treffen. Wir würden am liebsten im Erdboden versinken. Darum: „Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem andern zu.“
Ein anderer Entschuldigungsversuch könnte lauten: „Zugegeben, ich habe die Fehler meines Nächsten weitererzählt, aber ich habe das ohne böse Absicht; allein der Unterhaltung wegen; bloß zum Scherz getan.“ – Doch ist das wahr? Geschah es nicht auch aus geheimem Neid, aus Abneigung, aus Überheblichkeit, aus falschem Ehrgeiz, aus Haß, aus Rachsucht? – Wenn es aber tatsächlich nur der launigen Unterhaltung wegen geschehen sein sollte, ist das dann ein hinreichender Grund, der zur Entschuldigung taugt? Ist es eine Entschuldigung, wenn man das Fenster am Haus des Nachbarn einschlägt und sagt, es sei nicht aus böser Absicht geschehen, sondern lediglich der Unterhaltung wegen? – Wie gesagt: Die Ehre des Nächsten ist tausendmal kostbarer, als ein paar Fensterscheiben, die der nächste Glaser ersetzen kann. Kann die einmal zerstörte Ehre denn wiederhergestellt werden? Kann das ein Gegenstand der Spielerei, des Lachens und der Unterhaltung sein, was für den Nächsten Ursache der Schande, der Tränen und des bittersten Schmerzes ist?
Ein noch viel weniger tragfähiger Entschuldigungsgrund wäre der Hinweis: „Aber das tun doch alle. Keiner macht sich etwas daraus, die Fehler und Schwächen des Nächsten kundzugeben.“ – Leider ist das wahr! Tausend und abertausend Zungen begehen die Sünde der Ehrabschneidung ohne Skrupel, ohne Scheu. Aber reicht das als Entschuldigung aus, weil sich keiner etwas dabei denkt? Keineswegs. – Was würde ein Richter sagen, wenn ein angeklagter Dieb sich damit entschuldigen wollte, daß es außer ihm noch viele andere Diebe gäbe? Der Richter würde sagen: Also muß man auch die anderen festnehmen, anklagen, verurteilen und bestrafen. Aber keineswegs wird er deshalb zugeben, diejenigen wieder freizulassen, die schon festgenommen sind. Auch der ewige Richter, dessen Urteil einzig für uns maßgeblich ist und von dessen Spruch unsere Ewigkeit abhängt, sieht das so, wenn Er uns wissen läßt: „Wahrlich, ich sage euch, am Tage des Gerichts werden die Menschen Rechenschaft ablegen müssen über jedes unnütze Wort, das sie geredet haben“ (Mt. 12, 36).
Als letztes Feigenblatt mag sich der Ehrabschneider der Ausrede bedienen, er habe die geheimen Fehler des Nächsten nur vor wenigen bekanntgemacht; nur einem Nachbarn, einem Freund, einem Vertrauten gegenüber. – Auch wenn man es nur einem gesagt hat, so hat man doch die Ehre beschädigt, die der Nächste in den Augen dieses einen besaß. Hat sodann dieser eine nicht auch seine Nachbarn, seine Vertrauten, seine guten Freunde, denen er das, was er gehört hat – selbstverständlich unter dem „Siegel der Verschwiegenheit“ – weitererzählen wird? Gewiß! Und diese? Ebenso! Bald wird also das, was anfangs unter dem „Siegel der Verschwiegenheit“ nur einem engen Vertrauten gegenüber geäußert wurde, wenn nicht gleich allen, so doch vielen bekannt sein.
Seien wir versichert: Die Menschen verschweigen am leichtesten das, was sie nicht wissen!
Wie viele Sünden werden stattdessen gegen die Ehre des Nächsten begangen und mit vorgeschobenen Entschuldigungen gerechtfertigt! Und was noch schlimmer ist: Wie wenig finden die Sünden der Ehrabschneidung bei uns Beachtung. Wie wenige werden als Sünden erkannt, bereut, gebeichtet und wiedergutgemacht!
Pflicht und Schwierigkeit der Wiedergutmachung
Ja genau, die Tugend der Gerechtigkeit fordert nach verschuldeter Ehrabschneidung nicht nur Reue und Beichte, sondern auch eine Wiedergutmachung! Es besteht die Pflicht den guten Ruf und das Ansehen der Person wiederherzustellen, die wir mit Worten geschädigt haben. Die Pflicht zur Wiederherstellung des guten Rufs der anderen Person ist eine schwere, wenn auch der entstandene Schaden schwerwiegend ist.
Wie wir gehalten sind, eine materielle Sache, die wir beschädigt haben zu ersetzen, so sind wir verpflichtet auch das sittliche Gut einer anderen Person nach Kräften wiederherzustellen. Bedenken wir noch einmal, daß die sittlichen Güter eines Menschen – sein Ansehen, sein unbescholtener Name – höher stehen als seine materiellen Güter!
Was bei der Sünde der Ehrabschneidung nun aber eine besondere Schwierigkeit darstellt, ist der Umstand, daß aus der Sünde zwar einerseits die Gerechtigkeitspflicht entsteht, den angerichteten Schaden wieder gut zu machen, und daß dies andererseits sehr schwierig wenn nicht gar unmöglich ist.
Denn wie soll der Ehrabschneider die Wunde heilen, die er der Ehre des Nächsten geschlagen hat? Soll er sagen: Das, was ich vom Nächsten erzählt habe, ist nicht wahr? – Das kann er nicht sagen, denn dann würde er lügen; hat er doch eine bislang verborgene Wahrheit bekannt gemacht.
Was soll man also tun, wenn man die Fehler des Nächsten offenbart hat? – Man soll den Nächsten, soviel es geht entschuldigen, oder auf andere erlaubte Weise seine Ehre ersetzen, indem man besonders auf seine sonstige Rechtschaffenheit, auf seine Stärken, auf seine Verdienste, auf seine Leistungen hinweist und diese lobend hervorhebt. – Hier wird der Ehrabschneider auf den Weg der Entschuldigung gewiesen. Und in der Tat! Es gibt kaum einen Menschen, der so schlecht ist, oder eine Tat, die so schlimm wäre, daß man nicht doch irgendeine Entschuldigung finden könnte. Da wären etwa Entschuldigungsgründe aufgrund der Persönlichkeit des Fehlenden: Er ist noch jung. Er ist noch unerfahren. Er hat im Zorn, aus dem Affekt heraus gehandelt. Er war gereizt. Er hatte Schmerzen. Sonst ist er ein rechtschaffener Mensch.
Sodann Entschuldigungen aufgrund der Beschaffenheit des Fehlers: Es war nicht so ernstgemeint; die Sache ist übertrieben worden; ist künstlich hochgespielt worden. Es ist gar nicht sicher, ob es sich genauso zugetragen hat. Es ist nicht bewiesen. Oder: Es ist nur einmal geschehen, ein Ausrutscher. Es ist das erste und bislang einzige Mal gewesen.
Oder es lassen sich Entschuldigungen anführen, aufgrund der Umstände, aus denen der Fehler des Nächsten hervorgegangen sein mag: Er hatte eine schwere Kindheit und Jugend; keine gute Erziehung. Er ist in schlechte Gesellschaft geraten; ist von anderen verführt worden.
Und schließlich Entschuldigungen, die auf den begangenen Fehler gefolgt sind: Er hat den Fehler zwar begangen, aber nachher hat es ihm leid getan. Er hat sich entschuldigt. Er ist bestraft worden. Er hat sich gebessert. Es ist nicht wieder vorgekommen. – Man soll den Nächsten soviel es geht, zu entschuldigen suchen, ohne natürlich dabei unwahr zu werden. Die eine oder andere Entschuldigung zugunsten des Nächsten wird sich immer finden und wahrheitsgetreu angeben lassen.
Aber auch das wird jeder zugeben müssen, daß Entschuldigungen in den meisten Fällen schwach und von geringer Wirkung bleiben werden. Die Wunde an der Ehre des Nächsten ist nun einmal geschlagen. Sie ist tief und schmerzlich. Der Entschuldigungsgrund, das Pflaster, ist nur äußerlich. Wenn Pflaster und Verbände aufgelegt oder abgenommen werden, fängt die Wunde u.U. von neuem zu bluten an. Das will heißen: Wenn diese nachträglich vorgebrachten Entschuldigungen nicht mit großer Geschicklichkeit vorgebracht werden, so dienen sie oft nur dazu, die alte Wunde – also die erfolgte Ehrabschneidung – neu aufzureißen, den aufgedeckten Fehler erneut in Erinnerung zu rufen, ihn erneut zum Gesprächsthema zu machen; ihn damit bei den Zuhörern zu vertiefen und ihn dadurch vielleicht noch schmerzlicher zu machen. Wie generell beim Reden über andere, ist insbesondere hier Klugheit und Fingerspitzengefühl gefordert.
Und trotzdem: Irgendein Schaden wir immer zurückbleiben, wie schon die Römer in der Sentenz festhielten: „Semper aliquid haeret.“ – „Irgendetwas bleibt immer hängen.“
Die Verantwortung für unsere Worte
Ja, die Zunge des Menschen ist ein scharfes Schwert, ein gefährliches Instrument, das sicher zu beherrschen die wenigsten verstehen. Sie verwundet die Seele des Sprechenden, d.h. des Rufschädigers, denn er sündigt. Sie verwundet die Seele des Zuhörers. Denn wenn dieser die Ehrabschneidung wohlgefällig anhört, sie nicht behindert, sie lobt, sie beklatscht, so sündigt auch er. Sie verwundet schließlich natürlich die Ehre und oft auch das Herz dessen, dem die Ehre abgeschnitten wird.
Wir sehen, welch hohe Verantwortung wir gegenüber dem Wort aus unserem Mund haben. Von unseren Worten werden fortwährend gute und böse Botschaften in die Welt hinausgesandt: in unsere Familie, in unsere Umgebung, in unser Berufsleben. Die Worte, die wir hinausgesandt haben, können wir nicht mehr zurückrufen. Sie sind wie losgelassene Pfeile. Sie sind wie Federn im Wind, die von anderen in alle Himmelsrichtungen weitergetragen werden. Sie wirken entweder zum Segen oder zum Schaden, entweder zum Heil oder zum Unheil.
Kein Apostel hat so eindeutig und klar über die Zunge gesprochen wie der hl. Apostel Jakobus in seinem Briefe: „Wer in keinem Worte fehlt, der ist ein vollkommener Mann“ (Jak. 3, 2). Der Apostel ist überzeugt, wenn man sich im Reden beherrschen kann, dann kann man es auch auf allen anderen Gebieten. Deswegen: Wer in keinem Worte fehlt, ist ein vollkommener Mann. Der hl. Apostel Jakobus sagt in seinem Brief ferner: „Die Zunge ist eine Welt von Ungerechtigkeit“ (Jak. 3, 6). Durch viel Reden verstricken wir uns unvermeidlich in Sünden, denn der Wortschwall hindert die Überlegung, die notwendig ist, bevor wir den Mund auftun. Mit der Vielrederei ist es wie mit der Inflation, mit der Geldentwertung. Je höher die Geldmenge wird, umso weniger wert ist es. Wo hingegen Worte selten sind, da haben sie Gewicht. Wer wenig redet, vermag mit seinem Wort Zeugnis abzulegen. Man hört auf ihn. Man weiß, was er sagt, das hat Gewicht. Es empfiehlt sich deswegen, sparsam zu sein mit dem Wort. Man soll immer weniger sagen, als man könnte. Vom Dichter Matthias Claudius stammt der bekannte Ausspruch: „Sage nicht alles, was du weißt, aber wisse immer, was du sagst!“ Man bereut selten, daß man zu wenig gesprochen hat, aber man bereut oft, daß man zu viel gesprochen hat. Der hl. Ambrosius sagt: „Vor allem sollten wir eines lernen: Schweigen, um reden zu können.“ Eine wichtige Anweisung: Schweigen lernen, um reden zu können!
„Gib eine Wache, Herr, meinem Munde!“
Wir müssen unsere Zunge hüten. Und weil wir wissen, daß es schwer ist, die Zunge richtig zu gebrauchen, müssen wir die Gnadenhilfe Gottes anrufen, damit es uns mit Seiner übernatürlichen Hilfe gelinge, unsere Zunge im Zaum zu halten und sie nur in rechter Weise zu gebrauchen: nämlich zum Lobe Gottes, zur Anerkennung des Guten am Nächsten, zur Weitergabe der wahren Lehre, zur Verteidigung der Mitmenschen und – zur Übung des Stillschweigens.
Wir würden uns vor vielen Sünden bewahren und aus dem Werkzeug der Sünde und des Todes ein Werkzeug zur Verherrlichung Gottes machen, wenn wir zu Gott unsere Zuflucht nähmen und täglich die Worte zum Himmel senden, die der Priester bei der Beweihräucherung des Altares betet: „Pone, Domine, custodiam ori meo et ostium circumstantiae labiis meis“ – „Gib eine Wache, Herr, meinem Munde und ein schützendes Tor meinen Lippen.“ Amen.