Die unerforschlichen Wege Gottes

Geliebte Gottes!

Wir stehen am Beginn eines Neuen Jahres. Was wird es bringen? Was wird es nehmen? Niemand kann in die Zukunft blicken und doch versuchen die Menschen am ersten Tag des Jahres abzuschätzen, ob es wohl ein gutes Jahr werden wird. „Experten“ werden dazu um ihre Prognosen gebeten. Wahrsager werden aufgesucht oder abergläubische Silvesterbräuche werden bemüht, um die Zukunft auszuloten. Dabei wissen wir Katholiken, daß die Zukunft unerforschlich ist, weil Gott unerforschlich ist.

Gott ist unerforschlich. Wir nennen Seine Wege und Sein Walten unerforschlich, weil wir es weder im Voraus erahnen können, und weil wir es auch im Nachhinein oft nicht erklären können. Der Apostel Paulus schreibt im Brief an die Korinther: „O Gott, wie unerforschlich sind deine Wege und wie unergründlich deine Gerichte! Wer hat die Gedanken des Herrn erkannt? Wer ist sein Ratgeber gewesen?“ (1. Kor. 2, 16). Antwort: Niemand!

Die Vorsehung Gottes

Die Unerforschlichkeit Gottes ist festzuhalten, aber ebenso Seine Lenkung der Welt, Seine Leitung der Geschicke der Menschen. Der unerforschliche Gott ist nicht ein blind und blindlings handelnder Gott. Seine Unerforschlichkeit bedeutet nicht Willkür, sondern sie besagt lediglich die Unverfügbarkeit Seines Wollens und Handelns. Die Unverfügbarkeit für uns Menschen! Gott hat einen Plan mit den Menschen, und Er weiß ihn sicher zu erreichen. Nicht ein augenloses Schicksal steht über unserem Leben, sondern die Vorsehung unseres Gottes. Er lenkt mit Seiner Allmacht die Erde und das ganze Weltall von einem Ende zum anderen. Alles liegt enthüllt und offen vor Seinen Augen, auch das, was aus der freien Entscheidung des Menschen entspringt.

Gott kennt bereits jetzt alle Handlungen, die wir im kommenden Jahre vornehmen werden. Er weiß sie im Voraus, bevor sie geschehen sind. Alle Seine Wege sind vorbereitet, und Seine Ratschlüsse sind nach Seinem Vorherwissen festgesetzt. Nichts geschieht ohne den Willen des Allmächtigen. Entweder läßt Er zu, daß es geschieht, oder Er bewirkt es selbst. Der wahre Gott ist eben anders als die Götter der Heiden. Die Heiden haben an Götter geglaubt, aber sie waren davon überzeugt, daß die Götter dem Schicksal unterworfen sind. Das Schicksal throne über den Göttern. In Wahrheit ist es genau umgekehrt! Gott lenkt das Schicksal. Ja, Er selbst ist das Schicksal. Wir nennen es göttliche Vorsehung.

Nach Ansicht der Heiden konnten es die Menschen mit den Göttern aufnehmen, wie etwa Prometheus, der den Göttern das Feuer geraubt hatte. In Wahrheit kann menschliche Schwachheit die Pläne der göttlichen Allmacht nicht umstoßen. Der göttliche Baumeister vermag auch mit fallenden Steinen zu bauen und auf krummen Zeilen gerade zu schreiben. Die Wege aber, die Gott führt, sind häufig anders, als wir denken und erwarten. Seine Wege sind unerforschlich. Es ist unmöglich, in die Pläne Gottes einzudringen, und es muß unmöglich sein.

Diese Unmöglichkeit ist nämlich im Wesen Gottes begründet. Wenn der Mensch imstande wäre, Gottes Pläne und Gottes Gedanken und Gottes Wege zu erforschen, dann wäre er ja Gott gleich; dann könnte er ja Gott begreifen; dann verlöre Gott Seine über alles erhabene Transzendenz, Seine Unverfügbarkeit. Gottes Unerforschlichkeit ist ein Bestandteil Seiner Göttlichkeit. Wir können Gottes Fügungen und Lenkungen nicht durchschauen, nicht berechnen, nicht voraussehen.

„Wenn Gott will!“

Dennoch dürfen und sollen wir Pläne und Vorsätze fassen, Konzepte machen, Ziele anstreben. Gott hat uns dazu mit Verstand und Willen ausgerüstet. Aber alle unsere Projekte und Pläne stehen unter dem Vorbehalt: Wenn Gott will! Ein Sprichwort lautet: „Sorge, aber sorge nicht zuviel. Es kommt doch, wie Gott es haben will.“ Das ist wahr! Wir sollten uns also nicht wundern, nicht irre werden an Gott und auch nicht verzweifeln, wenn unsere Pläne mißlingen, wenn unsere Vorhaben scheitern, wenn unsere Absichten fehlschlagen. Manchmal sind wir ja selbst daran schuld. Aber ein andermal türmen sich eben Hindernisse vor uns auf, die wir nicht überwinden können. Da ist Gott im Spiel. Wir sind kurzsichtig, Gott hat einen weiten Blick. Unsere Augen sind gehalten. Die Augen Gottes sind frei. Wir denken an unsere zeitlichen Vorteile, Gott denkt an unser ewiges Heil! Deswegen gilt, was beim Propheten Isaias steht: „Meine Wege sind nicht eure Wege, und meine Gedanken sind nicht eure Gedanken. So hoch der Himmel über der Erde steht, so hoch sind meine Wege über euren Wegen und meine Gedanken über euren Gedanken“ (Is. 55, 8).

Die Führung Gottes

Nun gibt es bei den Fügungen Gottes gewisse Gesetze. Eines dieser Gesetze lautet: „Je herrlicher das Licht ist, in das Gott einen Menschen führen will, desto tiefer ist die Nacht, durch die er wandern muß.“ Genauso ist es. Warum? Gott erwartet vom Menschen die Bewährung, bevor Er ihn auszeichnet. Er verlangt vom Menschen Arbeit, bevor Er ihn belohnt. Er erlegt dem Menschen Kämpfe auf, bevor Er ihn zum Sieger krönt. Gott führt jene, die Er lieb hat, den Weg des Leidens. Und je größer die Liebe ist, um so härter sind die Leiden. Die Kinder der Welt beteuern ihre Liebe mit Rosen, der Herr des Himmels aber schickt Dornen als Boten Seiner Liebe. Gott hat uns versprochen, in der Ewigkeit alle Tränen abzutrocknen, die wir geweint haben. Ohne Zweifel wird der Trost um so größer sein, je mehr Tränen aus unseren Augen geflossen sind. Es ist ein unumstößliches Gesetz: Je weiter einer im übernatürlichen Leben voranschreitet, desto schwerere Kreuze werden ihm begegnen. Es ist überall ein Kreuz für uns bereitet; auch in diesem Jahr. Und umgekehrt muß man sagen: Wen Gott verderben will, dem läßt er alles glücken. Der, dem alles glückt, der wird hochmütig, der wird übermütig, der schreibt sich seine Erfolge selber zu. – Gott muß deshalb das Scheitern in unser Leben einplanen, wenn wir zum Ziele kommen sollen. In den dunklen Stunden der Versuchung wird der Heilige geboren. Wir wollen also nicht fragen: „Wie kann Gott das zulassen?“ Sondern wir sollen fragen: „Wie kann ich diese Zulassung Gottes am besten benutzen für mein Heil?“ Das nächtliche Dunkel, in das Gottes Wege gehüllt sind, macht sie uns unüberschaubar.

Die Stütze der Hoffnung

Aber das verheißene Licht läßt auch Hoffnung in uns aufblühen. Der unerforschliche Gott hat uns nicht ohne Stütze gelassen. Diese Stütze nennen wir die vom Glauben beseelte Hoffnung. Die Hoffnung ist das feste Vertrauen und das gläubige Überzeugtsein von dem, was man nicht sieht. Der Glaube ist mit der Hoffnung verschwistert. Unsere Hoffnung ruht auf dem Glauben. Wir hoffen nicht grundlos, denn unsere Hoffnung gründet in der Wahrhaftigkeit, in der Zuverlässigkeit, in der Treue Gottes. „Treu ist, der euch berufen hat“ (1. Thess. 5, 24), schreibt der hl. Apostel Paulus an die Thessalonicher. Und an einer anderen Stelle: „Laßt uns unerschütterlich festhalten am Bekenntnis unserer Hoffnung, denn getreu ist der, welcher die Verheißung gegeben hat“ (Heb. 10, 23).

Die Rätsel des Kreuzes

Freilich, es ist zwecklos und vermessen, hienieden die Rätsel der göttlichen Vorsehung lösen zu wollen oder gegen sie aufzubegehren. Gott läßt sich die Uhr von keinem Menschen stellen. Es läßt sich vieles bei Ihm erbitten, aber nichts abzwingen. Wir dürfen fragen, warum Katastrophen eintreten. Wir dürfen fragen, warum uns Krankheiten und Unfälle treffen. Aber wir sind außerstande, mit Glaubensgewißheit zu erklären, weshalb gute Menschen nicht vorankommen und Bösewichte Erfolge haben; weshalb die besten Vorhaben scheitern und das Unheil voranschreitet; weshalb Helden und Heilige vor der Zeit aus dieser Welt abgerufen werden und andere, die großes Unheil anrichten, ein hohes Alter erreichen. Es bleiben Rätsel und quälende Fragen. Wir Christen bezeichnen diese uns auferlegten Leiden als Kreuze. Warum? Weil das Kreuz das Leidenswerkzeug unseres Herrn und Erlösers war. Am Kreuze hat Er für uns gelitten, am Kreuze hat Er uns aber auch erlöst. Und deswegen, wegen dieser Doppelnatur nennen wir unsere Leiden Kreuze. Sie drücken nieder und lasten schwer, aber sie erheben auch und tragen in sich das Heil. Damit die erlösende Kraft des Kreuzes in unserem Leben wirksam werden kann, müssen wir drei Sätze, drei wohlbekannte Sätze beherzigen und sie uns gerade am Anfang des Neuen Jahres ins Herz schreiben:

  1. Wenn du dein Kreuz willig trägst, wird dich das Kreuz wiederum tragen. Das heißt: Wer sein Leiden in Ergebung gegen Gottes Willen annimmt, der erfährt, daß dieses Leiden eine Lebenshilfe ist. Er erfährt, daß durch das geduldig getragene Leiden ungeahnte Kräfte im Menschen wach werden, daß er im Leiden Tugenden ausbildet, die ohne das Leiden nicht gewonnen werden könnten, daß ihn das Leiden vor schlimmen Sünden bewahrt, in die er sonst gefallen wäre.
  2. Der zweite Satz lautet: Wenn du dein Kreuz unwillig trägst, legst du auf dein Kreuz ein zweites Kreuz. Du machst dir die Bürde noch einmal so schwer und wirst sie am Ende doch tragen müssen. Empörung und Verdrossenheit bringen uns nicht weiter. Sie machen das Leiden nicht leichter, sondern machen es nur schwerer. Ergebung in Gottes Willen macht das Leid erträglich.
  3. Der dritte Satz lautet: Wenn du dein Kreuz gewaltsam abschüttelst, wirst du ohne Zweifel wieder ein anderes finden; und dieses andere Kreuz wird vielleicht schwerer sein als das vorige. Ohne Kreuz können wir nicht auskommen in diesem Leben! Es ist also klüger, das von Gott verordnete Kreuz zu tragen, als sich selbst ein Kreuz aussuchen zu wollen.

Die große Klarheit

Einmal kommt die große Klarheit. Bis dahin geziemen uns Geduld und demütiger Glaube an Gottes Vatermacht und Weisheit. Wir werden nicht immer in Ungewißheit über Gottes Pläne, Gottes Wege, Gottes Fügungen bleiben. Wenn wir einmal Gott schauen dürfen, werden wir auch die Absichten, die Er mit uns gehabt hat, begreifen. Dann wird uns klar werden, warum Gott so manchen Wunsch unerfüllt ließ, warum unsere Arbeiten erfolglos waren, warum unser Werk ein unvollendeter Torso blieb. Schon jetzt geht uns manchmal nach geraumer Zeit auf, daß es nützlich für uns war, wenn Pläne nicht gereift sind, wenn Absichten nicht zur Durchführung kamen. Mancher von uns muß mit Scham bekennen, daß die Nichterfüllung seiner Wünsche heilsam für ihn war, daß er dadurch vor Verirrung und Schaden bewahrt blieb, daß er im Glauben gewachsen und in der Hoffnung gestärkt wurde.

Da sagt einer: „Das muß ich haben! Das und einzig das will ich haben.“ Und er kann es trotz aller Anstrengung nicht erreichen. Wenn einige Zeit verflossen ist, kann er erkennen: „Es war gut und heilsam für mich, daß ich die begehrte Sache nicht erringen konnte.“

Es ist genug Licht da, um an Gottes Vorsehung zu glauben. Es ist aber auch genug Dunkel da, um den Glauben an Gottes Vorsehung zu einer ständigen Aufgabe für uns zu machen. Erst in der Ewigkeit wird uns aufgehen, wie wohlwollend Gott andauernd an uns gehandelt hat; wie alle Seine Absichten gegen uns gut waren; wie blind wir waren, als wir einen Skorpion statt ein Ei, eine Schlange statt einen Fisch von Ihm erbeten haben (vgl. Lk. 11, 11), oder als wir uns Seinen Plänen zu entziehen suchten. Es wird uns aufgehen, wie töricht wir waren, daß wir uns gegen Gottes Vorsehung auflehnten, daß wir murrten gegen Seine Schickungen.

Gebet um Ergebenheit in Gottes Willen

Am Anfang des Neuen Jahres, wollen wir Vertrauen zu Gottes Vorsehung fassen, dieses Vertrauen in uns erneuern, dieses Vertrauen stärken. Wir wollen uns nicht an Seiner Unerforschlichkeit stoßen. Statt dessen wollen wir beten, damit wir uns ganz der Führung Seiner allweisen Vorsehung überlassen können, so wie sich die drei Weisen aus dem Morgenland der Führung des Sternes überließen. Eine zeitgenössische Dichterin vermochte dieses Anliegen in schöne Worte zu kleiden. Sie lauten:

Nun wollen wir ins Neue schreiten,
uns Seiner Gnade anvertraun.
Er, wird für uns streiten,
wenn wir nur ganz auf Ihn vertraun.

Herr, laß in diesen dunklen Zeiten
Dein Licht erstrahlen aus der Höh‘!
Nur Du kannst uns im Leben leiten.
Lenk unsre Schritte hin zu Dir.

Amen.

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