Die drei Altersstufen des geistlichen Lebens

Geliebte Gottes!

Kurz vor Seinem Erlöserleiden am Kreuz hat Christus zu Seinen Jüngern gesagt: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein. Wenn es aber stirbt, bringt es viele Frucht“ (Joh. 12, 24). – Heute am Fest Allerheiligen begehen wir das österliche Erntefest. Soeben durften wir mittels der Vision des hl. Johannes einen kurzen Blick in den Himmel erhaschen. Einen Blick auf die unüberschaubare große Schar, die keiner zählen kann „aus allen Völkern und Stämmen und Nationen und Sprachen“ (Offb. 7, 9). Da sehen wir, wie sich das ewige Leben des einen Weizenkornes – Jesus Christus –, welches sich freiwillig in den Tod dahingab, um glorreich wiederaufzuerstehen, in so zahllosen Seelen fortgepflanzt hat; wie es „viele Frucht“ gebracht hat, in den unzähligen Heiligen des Himmels. Aber nicht nur in den Seelen der Heiligen! Wie wir uns in den letzten Wochen und Monaten mehrmals vergegenwärtigt haben, wurde am Tag unserer Taufe ja auch in uns der Same des ewigen Gnadenlebens hineingelegt.

Wir haben gesehen, daß der Same des Gnadenlebens einen übernatürlichen Organismus ausbildet. Die übernatürliche Liebe ist das Mark dieses Organismus. Aus ihr gehen die drei göttlichen Tugenden hervor, genauso wie die eingegossenen sittlichen Tugenden und die Sieben Gaben des Heiligen Geistes. All diese Anlagen dienen dazu, daß auch wir einst in der Lage sein werden – wie es die Heiligen des Himmels jetzt schon sind – Gott von Angesicht zu Angesicht zu schauen, wie Er sich sieht; und Gott mit göttlicher Liebe zu lieben, wie Er sich liebt. Denn in den Heiligen des Himmels ist die übernatürliche Liebe zu jener vollumfänglichen Entwicklung herangereift, wie sie vom Hauptgebot gefordert wird:_ „Du sollst den Herrn deinen Gott lieben, aus deinem ganzen Herzen, aus deiner ganzen Seele, aus deiner ganzen Kraft und aus deinem ganzen Gemüt_“ (Lk. 10, 27).

Die Entwicklung des innerlichen Lebens

Um diese Reife zu erlangen, muß das übernatürliche Leben in jeder Seele wachsen und zwar gemäß den Stufen, die uns Christus am Beginn Seiner Bergpredigt in den „Acht Seligkeiten“ vorskizziert hat. Nach und nach entfaltet sich auf diese Weise in der Seele der Organismus des ewigen Lebens. Alle eingegossenen Tugenden und auch alle Gaben wachsen dabei mit der Liebe und der heiligmachenden Gnade. Sie wachsen gleichmäßig, wie die fünf Finger einer Hand sich zusammen entwickeln; so wie die Glieder unseres Leibes zu gleicher Zeit und im gleichen Verhältnis wachsen. Es gibt keinen Teil eines gesunden, sich im Wachstum befindlichen Körpers, der sich unabhängig von den anderen schneller oder langsamer entwickeln würde. Der Zeigefinger der Hand wächst im Verhältnis nicht schnelle als der Daumen, so daß kein Kind den Zeigefinger eines Erwachsenen hat, hingegen aber den Daumen eines Säuglings behielte. Gleichfalls wird man nicht finden, daß eine Seele ein hohes Maß der übernatürlichen Liebe besitzt, und nicht auch zugleich die Tugenden und die Gaben des Heiligen Geistes in einem entsprechenden Grad. Der ganze geistliche Organismus entwickelt sich also gleichmäßig, wenn auch in verschiedenen Phasen.

Obwohl wir in den zurückliegenden Wochen, bei der eingehenden Erklärung der einzelnen Teile des übernatürlichen Organismus unserer Seele, bereits am Rande immer wieder die verschiedenen Entwicklungsstufen des „ewigen Lebens“ gestreift haben, so wollen wir uns während der Festfeier von Allerheiligen – also heute und am kommenden Sonntag – einen Gesamtüberblick, über die drei Phasen des innerlichen Lebens verschaffen, um damit auch den großen Themenkomplex des Gnadenlebens abzurunden. Dabei folgen wir vor allem der Lehre des hl. Evangeliums am Beispiel der Apostel, sowie dem hl. Thomas von Aquin und dem hl. Johannes vom Kreuz.

Die Analogie zur körperlichen Entwicklung

Der hl. Thomas hat selbst die Entwicklung des innerlichen Lebens einer Seele mit den drei Altersstufen des körperlichen verglichen. Also mit der Kindheit, der Jugend und dem reifen Alter des Erwachsenen (vgl. S.th. II-II, q. 24, a. 9). Bei eingehender Betrachtung liegt hier tatsächlich eine Entsprechung vor. Im Allgemeinen nimmt man an, daß die Kindheit bis zum Beginn der Geschlechtsreife, also bis zum Alter von ungefähr 14 Jahren dauert. Die Jugend dauert sodann vom 14. bis zum 20. Lebensjahr. Darauf folgt das Erwachsenenalter. Während dieser drei Zeitabschnitte ändert sich zugleich auch die geistige Einstellung mit den Wandlungen, die der körperliche Organismus durchmacht. Das Kind ist kein Erwachsener in Miniatur. Folglich ist auch das Tun eines Kindes nicht das eines mündigen Erwachsenen in Kleinausgabe. Das Kind unterscheidet noch nicht vernunftgemäß. Es folgt seiner Phantasie und den Eingebungen seiner Gefühlswelt. Aber auch wenn die Vernunft im Schulkindalter erwacht, so bleibt dieselbe noch sehr von den Sinnen abhängig. Der Verstand des Kindes muß sich erst nach und nach die abstrakte, vom greifbaren Einzelding losgelöste Welt der allgemeinen Begriffe erarbeiten.

Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter

Für den Stoff, mit dem wir uns befassen, muß man vor allem die beiden Übergänge von der Kindheit zur Jugend und von der Jugend zum Mannesalter hervorheben. Am Ende der Kindheit beginnt die Geschlechtsreife. Dabei geht nicht nur eine organische, sondern auch eine seelisch-intellektuelle und moralische Veränderung vor sich. Dem Jugendlichen genügt es nicht mehr, wie ein Kind, seiner Phantasie und seinen sinnlichen Empfindungen zu folgen. Er beginnt über die Dinge des menschlichen Lebens nachzudenken und sich über seinen zukünftigen Platz in der Welt Gedanken zu machen, bzw. sich hierfür auszubilden. Der Jugendliche urteilt über Familienangelegenheiten, die Gesellschaft, die Religion nicht mehr wie ein Kind. Mit dem Sinn für Ehre und für den guten Ruf beginnt sich in ihm eine moralische Persönlichkeit auszuformen. Wenn die Übernahme der Leitung durch den Verstand auf Kosten der Leidenschaften in dieser Entwicklungsphase nur mäßig erfolgt, so hat dies nachteilige Folgen. Das Kind wird launisch oder gar böse. Hier bewahrheitet sich erstmals die Gesetzmäßigkeit: „Wer nicht fortschreitet, bleibt zurück.“ Wer die Kindheit nicht in einer normalen Entwicklung durchläuft und abschließt, der entartet, der bleibt zurück. Der bleibt gleichsam ein Zwerg, ein Liliputaner. Schon in diesem Punkt wird die Analogie zum geistlichen Leben klar. Wir werden sehen, daß der Anfänger, der nicht, wie es sein soll, ein Fortgeschrittener wird, sich zum Bösen wendet, oder eine zurückgebliebene, erkaltete, laue Seele bleibt, ein geistiger Zwerg, der aus seinen Strampelhosen nicht herauswächst. Deshalb haben die Kirchenväter oft gesagt: „Wer nicht fortschreitet, bleibt zurück.“

Doch führen wir unseren Vergleich mit den drei Altersstufen weiter aus. – Wenn es sich bei der Pubertät um eine schwer durchzumachende körperliche und moralische Krise handelt, so verhält es sich ebenso mit einer anderen Krise, die man die „Krise der ersten Freiheit“ nennen könnte. Diese führt den etwa zwanzigjährigen Jugendlichen hinüber ins Erwachsenenalter. Der um diese Zeit körperlich vollkommen ausgebildete Mensch muß jetzt beginnen, seine Stellung im sozialen Leben einzunehmen. Nach seiner Berufsausbildung wird es bald Zeit sein, sich zu verheiraten und seinerseits sich auf die Aufgabe des Erziehers vorzubereiten; es sei denn Gott beruft den Jugendlichen zum Leben des geistlichen Standes. Der junge Mensch bekommt nun Rechte und Freiheiten, die er, unabhängig von der elterlichen Oberaufsicht, in rechter Weise gebrauchen soll. Die von fremder Führung losgelöste Eigenverantwortlichkeit stellt dabei eine große Herausforderung dar. Bei vielen verläuft diese „Krise der ersten Freiheit“ ungünstig. Sie entfernen sich, wie der „verlorene Sohn“ im Gleichnis des Herrn (vgl. Lk. 15, 11-32), vom Vaterhaus und verwechseln Freiheit mit Ausschweifung, Eigenverantwortung mit der Unabhängigkeit „endlich tun und lassen zu können, was ich will“. Auch hier besteht das Gesetzmäßige darin, daß man in einer normalen Entwicklung vom Jugendlichen zum Erwachsenen heranreift. Andernfalls gerät man auf die schiefe Bahn oder wird ein Zurückgebliebener; also einer von dem es heißt: „Er wird sein Leben lang ein Kind bleiben – ein ‚Kindskopf‘.“

Der gereifte Erwachsene ist mehr als ein großgewordener Jugendlicher. Er besitzt eine neue Mentalität. Ihn beschäftigen mehr allgemeine Fragen, für die sich der Heranwachsende, der noch viel zu viel mit sich selbst beschäftigt ist, noch nicht interessiert. Der Erwachsene vermag die Dinge losgelöst vom eigenen Subjekt und von den eigenen Interessen sachlich zu beurteilen und sich darüber mit anderen auszutauschen, während dem Jugendlichen stets eine starke Ichbezogenheit in seinen Ideen anhaftet. Durch die gemachten Erfahrungen und aufgrund des gewonnenen Weitblicks versteht der Erwachsene das jüngere Alter, wird aber von diesem oft noch nicht verstanden.

Im geistlichen Leben ist das Verhältnis zwischen dem Fortgeschrittenen und dem Vollkommenen ähnlich. Der Vollkommene kann und muß die Entwicklungsstufen, die er selber durchgemacht hat, verstehen, aber er kann nicht verlangen von jemandem ganz verstanden zu werden, der sie selbst erst durchzumachen hat.

Die beiden Krisen des geistlichen Lebens

Wir wollen an dieser Stelle vor allem festhalten, daß es wie in der körperlich-geistigen Entwicklung des Menschen, so auch im übernatürlichen Wachstumsprozeß der Seele zwei große Krisen gibt. Der sogenannten „Pubertät“, also jener mehr oder minder offenkundig auffallenden und besser oder schlechter überstandenen Krise zwischen Kindheit und Jugend, entspricht eine Krise zwischen dem „Weg der Reinigung“ der Anfänger und dem „Weg der Erleuchtung“ der Fortgeschrittenen. Der hl. Johannes vom Kreuz nennt diese erste Krise die „passive Reinigung der Sinne“ oder auch „Nacht der Sinne“. Andere sprechen hierbei von der „zweiten Bekehrung“, die auf die „erste Bekehrung“ vom Stand der Todsünde folgen muß. Um sodann zum vollen Alter des Erwachsenen heranzureifen, darf der Jugendliche in der zweiten Krise, wenn er nicht mehr unter der Aufsicht der Eltern steht, die erlangte „erste Freiheit“ nicht mißbrauchen. Eine ähnliche zweite Krise gibt es auch zwischen dem „Weg der Erleuchtung“ der Fortgeschrittenen und dem „Weg der Einigung“ der Vollkommenen, die vom hl. Johannes vom Kreuz „passive Reinigung des Geistes“ bzw. „Nacht des Geistes“ genannt wird. Es ist also noch eine „dritte Bekehrung“ erforderlich, welche eine Seele gut durchlaufen muß, ehe sie jene übernatürliche Reife und Lauterkeit der Liebe erreicht, die es ihr erlauben würde mit dem Tod unmittelbar in den Himmel einzugehen, ohne einer Läuterung durch das Fegfeuer zu bedürfen.

Denn das Fegfeuer besteht nach dem Abbüßen „zeitlicher Strafen“ insbesondere darin, den zu Lebzeiten erreichten Grad der Liebe aufzureinigen. Das Fegfeuer ist mit einem Brutkasten vergleichbar. Wie eine Frühgeburt aufgrund ihrer noch unzureichenden Entwicklung nicht lebensfähig ist, so ist eine abgeschiedene Seele, deren übernatürliche Liebe noch mit Unvollkommenheiten befleckt ist, noch nicht fähig ein Leben im Himmel zu führen. Denn unmöglich kann etwas Unreines in den Himmel eingehen (vgl. Offb. 21,27). Folglich wird das Fegfeuer die zu Lebzeiten schlecht ertragenen und versäumten Läuterungen nachholen, um unsere Liebe zu reinigen und uns für den Himmel lebensfähig zu machen.

Die Altersstufen im Leben der Apostel

Alle drei Altersstufen, samt den dazwischen liegenden Krisenzeiten, finden wir im Evangelium am Beispiel der hl. Apostel aufscheinen. Die Apostel begannen den „Weg der Anfänger“ am Tag ihrer Berufung in die Nachfolge Christi. (Wie bei uns, so stand auch bei ihnen am Anfangspunkt ein Täufer.) Ihre geistliche Kindheit fand ein Ende in der „zweiten Bekehrung“ der Apostel. Diese ereignete sich am Ende der Passion unseres Herrn. Die Kreuzigung Christi stürzte die Apostel in eine tiefe Krise, offenbarte doch der Karfreitag, daß sie bisher zu „fleischlich“, zu diesseitig gedacht haben und nicht viel von dem verstanden hatten, was ihnen Christus dreieinhalb Jahre hindurch beizubringen versucht hat. Alle ihre falschen Erwartungen vom Gottesreich und ihr eitles Selbstvertrauen, die beide von einer tief verhafteten Selbstsucht und einem großen Geltungsbedürfnis herrührten, wurde in der tiefsten Finsternis des Karfreitags zermalmt. Erst das österliche Licht des Auferstandenen konnte die Apostel nach und nach aus der „Nacht der Sinne“ herausführen.

In den vierzig Tagen nach Ostern wurden die Zwölf sodann von dem körperlich unter ihnen weilenden Heiland, der ihnen in Seiner verklärten Gestalt gleichsam als Fackel der Einsicht diente, auf den „Weg der Erleuchtung“ eingeführt. Christus belehrte die Apostel über die „Geheimnisse des Reiches Gottes“ (vgl. Apg. 1, 3), wobei sie jetzt besser als in den dreieinhalb Jahren zuvor in der Lage waren, die Unterweisungen des Herrn zu fassen. Trotzdem bedurften sie einer „dritten Bekehrung“. Glaube und Liebe der Apostel waren noch zu stark an die anschauliche Gegenwart Christi gebunden. Ihr Glaube und ihre Liebe mußten vollkommen vergeistigt werden. Diese letzte Bekehrung begann für die Apostel am Tag der Himmelfahrt, als sich Christus den Sinnen der Jünger für immer entzog. Sie durchlebten die „Nacht des Geistes“, in der sie Christus im Glaubensdunkel zurückgelassen hatte. In dieser geistigen Finsternis konnten sie sich nur im Abendmahlsaal um Maria versammeln, um sich gleichsam an der Gottesmutter festzuhalten.

Erst nach dieser letzten Läuterung hatten sie jene vollkommene Reife erlangt, um das Liebesfeuer des Heiligen Geistes am Pfingsttag in Seiner ganzen Fülle zu empfangen. Mit erleuchtetem Glauben und glühender Liebe betraten sie den „Weg der Vereinigung“ der Vollkommenen. Schließlich wurden alle Apostel auch der achten Seligkeit gewürdigt, die nach dem hl. Augustinus die übrigen sieben in sich schließt – „Selig, die Verfolgung leiden, um der Gerechtigkeit willen, denn ihrer ist das Himmelreich.“ – und gingen einige Jahre später mit ihrem Tod, der bei fast allen durch das Blutzeugnis gekrönt war, unmittelbar in den Himmel ein.

Nachdem wir nun die Ähnlichkeit der Entwicklung des körperlich-geistigen Lebens mit der des übernatürlichen Organismus der Gnade aufgezeigt und seine tatsächliche Entsprechung im Evangelium am Beispiel der Apostel kurz umrissen haben, wollen wir heute wenigstens noch versuchen, die erste der drei Altersstufen des geistlichen Lebens zu beschreiben – das Alter der Anfänger.

Das Alter der Anfänger

Die „erste Bekehrung“ ist der Übergang vom Zustand der Todsünde zum Stand der Gnade. Sie ereignet sich entweder durch die Taufe, oder durch Reue und Lossprechung, wenn die Taufunschuld nicht bewahrt wurde. Die Sünde wird getilgt. Das Gnadenleben wird in die Seele eingesenkt und mit ihr auch die übernatürlichen Kräfte der eingegossenen Tugenden und der Sieben Gaben des Heiligen Geistes. Oft vollzieht sich diese „erste Bekehrung“ nach einer mehr oder minder schmerzlichen Krise, in der sich der Sünder gleich dem „verlorenen Sohn“ erst allmählich vom Weltgeist lossagt, um zu Gott zurückzukehren. Das quälende Ringen mit der Todsünde und ihren lockenden Gelegenheiten, sind die Geburtswehen zum ewigen Leben. Gott geht der Seele dabei den ersten Schritt entgegen. Er gibt ihr durch Seine helfende Gnade die erste gute Anwandlung ein; jenen guten Willen, welcher der Anfang des Heiles ist. Gott zieht auf dem Acker der Seele erstmals die Furche, die er dann später noch viel tiefer ziehen wird, um auch die Wurzeln des Unkrautes auszurotten. Wenn die im Zustand der Gnade befindliche Seele nicht neuerdings fällt, oder sich wenigstens unverzüglich wieder von ihrem Fall erhebt, um weiter voranzuschreiten, so befindet sie sich auf dem Reinigungsweg der Anfänger.

Die Seelenverfassung des Anfängers kann man dadurch beschreiben, daß er die übernatürlichen Güter, die ihm zuteil geworden sind – die Gotteserkenntnis, die Selbsterkenntnis und die Gottesliebe – nach und nach immer mehr betätigt und zu mehren sucht. Gewiß gibt es besonders begnadete Anfänger, wie es viele der großen Heiligen gewesen sind, die bei Beginn ihres Strebens einen höheren Grad der Gnade besitzen als die übrigen Anfänger. Ebenso gibt es ja auch auf dem natürlichen Gebiet Wunderkinder. Aber auch Wunderkinder sind doch immer noch Kinder. Alle Anfänger kommen darin überein, daß sie damit beginnen, sich selbst zu erkennen; ihre Armseligkeit, Bedürftigkeit und Schwäche. Sie müssen dabei täglich ihr Gewissen aufmerksam erforschen, um sich nach dieser Erkenntnis zu bessern. Zugleich fangen sie an, Gott im Spiegel der sichtbaren, greifbaren Dinge zu erkennen. Sei es aus der geschaffenen Natur – etwa beim Anblick von Naturschauspielen, wie dem eines von unzähligen Sternen funkelnden Nachthimmels, der sie an Gott denken läßt – oder aus den sehr anschaulichen, biblischen Gleichnissen – etwa vom „verlorenen Sohn“, vom „guten Hirten“ und dem „verlorenen Schaf“, oder vom „barmherzigen Samariter“. In dieser Verfassung haben die Anfänger eine ihrem Zustand entsprechende Gottesliebe. Sie lieben den Herrn wirklich großmütig. Aus heiliger Furcht vor der Sünde fliehen sie die Todsünde und die überlegte läßliche Sünde. Sie greifen zur Abtötung der Sinne und der ungeordneten Leidenschaften: der Augenlust, der Fleischeslust und des Stolzes.

Nach einer gewissen Zeit dieses großmütigen Kampfes erhalten sie gewöhnlich von Gott zur Belohnung fühlbare Tröstungen beim Gebet, beim Gottesdienst und auch beim Studium göttlicher Dinge mittels der „geistlichen Lesung“. So erobert sich Gott ihr Empfindungsvermögen. Denn, gleich dem Kinde, lebt die Seele in dieser Phase hauptsächlich aus ihren religiösen Empfindungen. Gott wendet sie durch die Gabe einer fühlbaren Süßigkeit von den gefährlichen Dingen ab und zieht sie an sich. In diesem Stadium liebt der hochherzige Anfänger Gott bereits „aus ganzem Herzen“, aber noch nicht aus seiner ganzen Seele, noch nicht aus allen seinen Kräften und auch noch nicht aus seinem ganzen Gemüt (vgl. Lk. 10, 27). Die Geisteslehrer sprechen oft von der „Milch der Tröstung“, die dem Anfänger, seinem Kindheitsalter entsprechend, zuteil wird. Der hl. Paulus sagt selbst zu den Korinthern: „Ich konnte nicht zu euch reden als Geistigen, sondern als zu Fleischlichen. Als Unmündigen in Christus. Ich gab euch Milch zu trinken, nicht feste Speise, denn noch wart ihr nicht stark genug; ja, auch jetzt seid ihr es noch nicht, denn noch seid ihr fleischlich“ (1. Kor. 3, 1).

Läuterung der Sinne

Aber was geschieht dann meistens bei den Anfängern? Dasselbe, wie mit Kindern, die mit Süßigkeiten zu guten Taten gelockt werden. Fast alle Anfänger, die fühlbare Tröstungen erhalten, finden daran zu viel Gefallen, als ob die fühlbaren Tröstungen selbst ein Ziel und nicht lediglich ein Mittel wären; als ob in den fühlbaren Tröstungen die Heiligkeit selbst bestünde. So nützlich sie zu Beginn sind, um den schwachen Anfänger auf dem Weg der Gnade zu halten, werden sie doch nach und nach ein Hindernis. Sie werden eine Gelegenheit zur geistigen Naschhaftigkeit, zur Neugierde im Studium geistiger Dinge. Sie nähren einen unbewußten Hochmut, wie er gerade auch an den Aposteln während des öffentlichen Lebens Christi immer wieder zu sehen war. Nämlich dann, wenn man etwa unter dem Vorwand der Frömmigkeit gerne von geistlichen Dingen so spricht, als ob man schon Meister darin wäre. Oder wenn man sich, auf die eigenen Kräfte bauend, große Dinge zutraut, wie sich damals der hl. Petrus vor dem Leiden des Herrn zu großen und überheblichen Worten hinreißen ließ: „Mein Leben will ich für Dich einsetzen“ (Joh. 13, 37). „Herr, ich bin bereit, mit Dir auch in Kerker und Tod zu gehen“ (Lk. 22, 33). „Und wenn alle an Dir Anstoß nehmen, ich werde niemals Anstoß nehmen“ (Mt. 26, 33), als ob derlei Bekenntnisse und Liebeschwüre schon der Wirklichkeit entsprächen. Obwohl sich der Anfänger nur mit gewisser Anstrengung im Gnadenstand halten kann, neigt er aufgrund der fühlbaren Tröstungen meist stark zur Selbstüberschätzung.

Es ist daher in der Folge das für die Fortentwicklung des übernatürlichen Lebens notwendige Einsetzen der „zweiten Bekehrung“ erforderlich, die vom hl. Johannes vom Kreuz „passive Reinigung der Sinne“ genannt wird. Diese Läuterung offenbart sich durch eine langandauernde, fühlbare Trockenheit, in welcher der Anfänger der tröstenden Empfindungen, an denen er zu viel Wohlgefallen fand und daran ein falsches Selbstvertrauen aufbaute, beraubt wird. In diesem Entzug soll sich der Glaube und die Liebe der Seele beweisen und dabei auf ein höheres, von den sinnlichen Empfindungen frommer Gefühle unabhängiges Fundament gestellt werden.

Freilich können Trockenheiten im geistlichen Leben auch vom Rückfall in die Sünde, von der eigenen Nachlässigkeit oder von der Untreue gegen die Anregungen Gottes herrühren. Wenn wir aber während dieser Trockenheit ein lebhaftes verlangen nach Gott und Seiner Herrschaft in uns haben und die Furcht, Ihn zu beleidigen, dann ist dies ein Anzeichen, daß es sich bei der Trockenheit nicht um eine Strafe, sondern um eine göttliche Reinigung handelt.

Wenn die Seele diese geistige Entwöhnung vom fühlbaren Trost gut erträgt, dann unterwirft sich das Leben ihrer Empfindungen mehr und mehr dem Geist. Es verhält sich bei ihr wie bei dem Jugendlichen, der angefangen hat das Gute zu tun, nicht um der Süßigkeiten willen, mit denen er als Kind belohnt wurde, sondern weil er jetzt einsieht, daß das Gute eine Verpflichtung in sich trägt und um seiner selbst willen getan werden muß. Die Seele ist von der geistigen Naschhaftigkeit, vom Hochmut, sich als Meister zu gebärden, geheilt. Dabei hat sie gelernt, ihre Armseligkeit und Unzulänglichkeit besser zu erkennen, daß sie deshalb ihren eigenen Kräften nicht allzuviel zutrauen und daß alles bisher Erreichte, einzig der Gnade Gottes zuzuschreiben ist. Es ist ferner nicht selten, daß zur Reinigung allerhand andere Schwierigkeiten hinzukommen; sei es im Gebet, bei der Ausübung der verschiedenen Standespflichten, in den Beziehungen zu den Personen, an denen man zu sehr hing und die Gott uns plötzlich zu unserem Schmerz entfernt oder entfremdet. In dieser Prüfungsphase kommen außerdem plötzliche, ziemlich starke Versuchungen gegen die Reinheit und gegen die Geduld vor, die Gott zuläßt damit gerade diese Tugenden, die ja ihren Sitz im Bereich der Empfindungen haben, stark werden und tief einwurzeln können. Auch Krankheiten können uns zu unserer Prüfung geschickt werden. Der göttliche Sämann bearbeitet die Seele dabei von neuem. Er zieht die Furche, die er im Augenblick der Rechtfertigung oder der „ersten Bekehrung“ schon gegraben hat, noch tiefer. Er rottet die schlechten Wurzeln oder Reste der Sünde aus.

Die zurückgebliebenen Anfänger

Diese Krise ist gewiß nicht ohne Gefahr, wie auch im Reich der Natur die Pubertät zwischen vierzehn und fünfzehn Jahren für die weitere Entwicklung nicht ganz ungefährlich ist. Einige erweisen sich hier ihrem Beruf untreu. Manche machen diese Prüfung nicht so durch, daß sie den „Weg der Erleuchtung“ der Fortgeschrittenen betreten. Sie verbleiben in gewisser Lauheit. Das sind dann, richtig gesagt, keine eigentlichen Anfänger mehr, sondern zurückgebliebene oder erkaltete Seelen. An ihnen bewahrheiten sich in gewisser Weise die Worte der Heiligen Schrift: „Sie haben die Zeit ihrer Heimsuchung [durch die Gnade] nicht erkannt“ (Lk. 19, 44), nämlich die Stunde ihrer „zweiten Bekehrung“, die – wenngleich sie schmerzhaft und langwierig sein mag – eine große Gnade darstellt. Diese Seelen streben aus einem Mangel an Großmut, Opferbereitschaft, Treue und/oder Ausdauer, nicht genug nach Vollkommenheit.

Nach der Auffassung des hl. Johannes vom Kreuz „scheint diese Krise für jene, die sie mit Nutzen überstehen, so viel zu sein wie der Anfang der eingegossenen Beschauung der Glaubensgeheimnisse in Verbindung mit einem lebhaften Verlangen nach Vollkommenheit. Der Anfänger, der jetzt ein Voranschreitender wird und das Leben der Erleuchtung beginnt, erkennt nun, besonders durch die Gabe der Wissenschaft erleuchtet“ (Dunkle Nacht, 1. I, 14. Kap.), sein Elend, die Eitelkeit der Dinge dieser Welt und der Jagd nach Ehren und Würden viel besser und macht sich von diesen Hemmnissen frei. Es beginnt gleichsam ein neuer Lebensabschnitt, so wie beim Kind, das zu einem Jugendlichen geworden ist.

Organische Entwicklung

Die passive Reinigung der Sinne ist für jene, welche sie durchmachen, mehr oder weniger offensichtlich. Das hat seinen Grund darin, daß die Trockenheit und die Versuchungen von jedem nur mehr oder weniger gut ertragen werden, so daß Gott dieser Schwäche Rechnung trägt und die Läuterung häufig unterbricht, damit das zarte Gefäß nicht unter der Einwirkung der Lauge Schaden nimmt, oder gar zerbricht. Der hl. Johannes vom Kreuz sagt von denen, die sich in der Prüfung weniger hochherzig zeigen: „Für sie wird die Nacht der Trockenheit der Sinne oft unterbrochen. … Hier muß man erklären, warum so wenige diesen hohen Grad der Vollkommenheit und Vereinigung mit Gott erlangen. Es ist gewiß nicht so, daß Gott diese Gnade auf eine kleine Zahl auserlesener Seelen beschränken wollte. Sein Wunsch geht vielmehr dahin, daß die hohe Vollkommenheit gemeinsames Gut aller sei. … Er schickt einer Seele leichte Prüfungen, und sie erweist sich schwach, sie flieht sogleich jedes Leiden, will keinen Schmerz hinnehmen … Gott fährt dann nicht fort, diese Seelen zu reinigen … welche vollkommen sein wollen, ohne sich den Weg der Prüfungen, der die Vollkommenen bildet, führen zu lassen“ (Dunkle Nacht, 1. I, 9. Kap.).

Es ist wichtig zu betonen, daß es sich bei all dem Gesagten nicht um eine mechanische Aneinanderreihung automatisch, aufeinanderfolgender Vorgänge und Zustände handelt, sondern um eine organische Entwicklung des übernatürlichen Lebens, die bei jedem individuell abläuft. Ihr Verlauf hängt nämlich nicht nur vom Wirken der göttlichen Gnade ab, sondern wird wesentlich auch von unserer Mitwirkung bzw. von unserer Nachlässigkeit beeinträchtigt. Ähnlich wie unsere persönliche Entwicklung vom Kind zum Jugendlichen zwar in den wesentlichen Zügen wie bei den anderen verlief, aber eben doch einen ganz einzigartigen Hergang nahm.

An der Schwelle zum übernatürlichen Jugendalter, also am Übergang zum „Weg der Erleuchtung“, wo die Seele beginnt Gott „aus ganzem Herzen und aus ganzer Seele“ zu lieben, aber noch nicht aus allen ihren Kräften und auch noch nicht aus ganzem Gemüt, wollen wir für heute innehalten und anläßlich des hohen Festes folgende Schlußgedanken beherzigen.

Die Pflicht des Erwachsenwerdens

Alle Heiligen, deren Fest wir heute feiern, haben die drei Entwicklungsstufen des geistlichen Lebens durchlaufen, so wie jeder Mensch, der nicht in jungen Jahren aus dem Leben gerissen wird, die drei Phasen der Kindheit, der Jugend und des reifen Alters durchlebt. Jeder Heilige hat auf dem Weg der Anfänger begonnen, jeder hat ihn durchlaufen. Jeder von ihnen kann darauf zurückblicken und mit dem hl. Paulus sagen: „Ich habe den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet, den Glauben bewahrt. Nun ist mir die Krone der Gerechtigkeit hinterlegt“ (2. Tim. 4). Jeder Heilige kann daher nicht nur mit uns, die wir uns auf diesem Weg um Fortschritt bemühen, mitfühlen, sondern wird sich auch für uns als Fürsprecher bei Gott einsetzen. Insbesondere unsere heiligen Namenspatrone, sind uns zur Seite gestellt, um für uns jene Gnaden am Throne Gottes zu erflehen, derer wir bedürfen, um ihrem Beispiel folgend, zur Vollkommenheit zu gelangen, und einst in die Gemeinschaft der Heiligen des Himmels einzugehen.

Nichts destotrotz bleibt unsere persönliche Mitwirkung unerläßlich, wenn wir nicht geistlich verzwergen wollen. Unsere Großherzigkeit, unsere Treue, unsere Opferbereitschaft und Ausdauer sind an dieser Stelle aufgerufen. Die Heiligen sind uns hierbei nicht nur Fürsprecher, sondern vor allem Vorbilder. Ihr Leben zeigt uns, daß Ausreden, womit sich die Lauheit, die Trägheit und der Weltgeist häufig entschuldigen, nicht zählen. Wie es die natürlichste Aufgabe eines jeden Menschen ist, ein reifer Erwachsener zu werden, so ist auch die Heiligkeit keine Sache für wenige Auserwählte, oder allein eine Angelegenheit des geistlichen Standes. Die Vollkommenheit ist nicht nur für Ordensleute, Mönche, Nonnen, die der Welt Lebewohl gesagt haben, nicht nur für Frauen, die von ihrem Naturell aus eher zur Frömmigkeit geneigt sind; nicht nur für Kinder, die noch nicht wissen, wie die Welt aussieht und auf was verzichtet. Nein, nach Vollkommenheit zu streben, ist die Pflicht aller Christen! Der Priester, wie der Laien, der Ordensleute wie der Menschen in der Welt; der Verheirateten wie der Ledigen, der Jugend wie der Alten. Es ist nur ein Gott, ein Gebot, ein Himmel, ein Christus, ein Weizenkorn, das für uns gestorben ist, um in jeder Seele ewige Früchte zu sprossen. Das Ziel ist für alle dasselbe, wenngleich die Wege dahin einzigartig sind.

Die Vollkommenheit ist für alle dieselbe: Gott lieben über alles! Ohne diese Vollkommenheit wird niemand selig. Wenn ein Unterschied besteht, so besteht er darin, daß die Vollkommenheit im Kloster unter treuer Beobachtung der Gelübde und der Ordensregel, leichter erlangt werden kann als in der Welt – aber nicht darin, daß nur die hinter Klostermauern lebenden zur Vollkommenheit verpflichtet wären, die anderen hingegen nicht. Nein, das Hauptgebot der Liebe gilt für alle: „Du sollst den Herrn deinen Gott lieben, aus deinem ganzen Herzen, aus deiner ganzen Seele, aus deiner ganzen Kraft und aus deinem ganzen Gemüt“ (Lk. 10,27). Amen.

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