7. Sonntag nach Pfingsten
Die Tugend im allgemeinen
Geliebte Gottes!
Das heutige Sonntagsevangelium führt uns an das Ende der großen Bergpredigt, in welcher unser göttlicher Erlöser Jesus Christus die Kernpunkte Seiner Lehre programmatisch dargelegt hat. Von der Warnung vor den falschen Propheten, die sich wie Wölfe im Schafspelz gebärden, aber an ihren Früchten erkannt werden können, geht die Rede unseres Herrn über zu den guten und den schlechten Bäumen: „Sammelt man etwa Trauben von Dornen oder Feigen von Disteln? So bringt jeder gute Baum, gute Früchte hervor, der schlechte Baum aber bringt schlechte Früchte. Ein guter Baum kann nicht schlechte Früchte bringen, und ein schlechter Baum kann nicht gute Früchte bringen“ (Mt. 7, 16 f.). Wie der Baum anhand dessen, was er hervorbringt, zeigt, was in ihm steckt, so auch die Seele des Menschen durch ihre Werke. Ist die Seele im Stande der heiligmachenden Gnade und festgewurzelt in der Tugend, so bringt sie gute Früchte hervor. Wurzelt sie hingegen im Laster der Sünde, so wird sie schlechte Früchte hervorbringen. Dem Zustand der Seele folgen notwendigerweise entsprechende Werke. – Der Glaube allein genügt dabei nicht! Der Heiland sagt: „Nicht jeder, der zu mir sagt: ‚Herr, Herr!‘ wird in das Himmelreich eingehen“ – „Herr, Herr!“, so rufen Ihn nur die Gläubigen – , „sondern, wer den Willen meines Vaters tut, der im Himmel ist, der wird in das Himmelreich eingehen“ (Mt. 7, 21). Der Glaube ist zwar zum Heil notwendig. Er allein ist jedoch nicht hinreichend. Deshalb müssen zum Glauben gute, tugendhafte Werke hinzukommen. Wo die Werke fehlen ist der Glaube unfruchtbar; ja gleichsam tot, wie der hl. Jakobus sagt: „Denn wie der Leib ohne Geist tot ist, so ist auch der Glaube ohne Werke tot“ (Jak. 2, 26). Jeder tote Baum ist gleichsam ein schlechter Baum, weil er keine guten Früchte bringt. Deshalb heißt es: „Jeder Baum, der keine guten Früchte bringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen“ (Mt. 7, 19).
Um diesem Schicksal zu entgehen, müssen wir uns um die Tugend bemühen. Denn aus der Tugend gehen die guten Werke hervor. Die Tugend ist jener gute Baum, der nur gute Früchte und keine schlechten hervorbringen kann. Doch wie sollen wir uns um die Tugend bemühen, wenn wir vielleicht gar nicht so genau wissen, was das überhaupt ist? Deshalb müssen wir heute drei Fragen klären:
- Was ist die Tugend?
- Wie wird die Tugend eingeteilt?
- Was versteht man unter den „eingegossenen Tugenden“?
Das Wesen der Tugend
Die Definition der Tugend, welche uns der Katechismus gibt, lautet: „Die Tugend ist eine durch fortwährende Übung erworbene Fertigkeit, das Gute zu tun.“ Die Tugend ist also in ihrem Wesenskern eine „Fertigkeit“, ein „Habitus“. Eine Fertigkeit ist eine Anlage, die bis zu einer gewissen Perfektion entwickelt worden ist. – Das Auge ist angelegt, um zu sehen; das Ohr zum Hören; die Zunge zum Sprechen; der Verstand zum Denken; das Gedächtnis, sich Dinge zu merken. etc. Jeder Mensch besitzt diese Anlagen. Aber die Anlage des Verstandes heißt noch lange nicht, daß jeder schon deshalb ein großer Denker wäre. Die Gedächtnisanlage bedeutet noch lange nicht, daß jeder die Perfektion besitzt, sich alles merken zu können. Die Anlagen müssen ausgebildet werden, damit sie eine gewisse Vollendung erreichen können. – Ein Beispiel: In jedem Menschen, der zehn Finger hat, ist die Anlage zum Klavierspielen gegeben. Die Tatsache, daß nicht alle Menschen, die zehn Finger haben, Klavier spielen können beweist, daß nicht alle diese Anlage ausgebildet haben. Und wenn von denjenigen, die zwar das ein oder andere Klavierstück beherrschen, aber bei weitem nicht alle Meisterwerke, etwa von Bach, Mozart oder Chopin, spielen können, so wird dadurch angezeigt, daß es nicht alle zu der Perfektion bringen, die dafür notwendig wäre. Viele können zwar gewisse Stücke spielen, aber sie haben noch nicht die Fertigkeit, den Habitus des Klavierspiels.
Wie gelangt man zur Perfektion? Einzig durch Übung, Übung und nochmals Übung. Nicht umsonst sagt der Volksmund: „Übung macht den Meister.“ Und: „Kein Meister ist vom Himmel gefallen.“ – Als der französische Kaiser Napoleon III. während des Deutsch-Französischen Krieges von 1870 nach der Schlacht von Sedan von den Deutschen als Kriegsgefangener auf Schloß Wilhelmshöhe bei Kassel festgehalten wurde, da befand sich in seinem Gefolge ein französischer Marquis. Dieser Edelmann beauftragte einen Maler, er solle ihm das Schloß Wilhelmshöhe samt Umgebung naturgetreu und so schnell wie möglich in einem schönen Gemälde darstellen. – Schon am dritten Tag war das Bild fertig und recht gelungen ausgeführt. Der Marquis war zufrieden, bis er den Preis hörte – umgerechnet etwa 7.800 Euro. Der Franzose erwiderte: „Wie können Sie soviel verlangen, da Sie doch nur höchstens 18 Stunden daran gearbeitet haben?“ Der Maler entgegnete: „Bedenken Sie, daß ich 20 Jahre habe arbeiten müssen, um die Fertigkeit zu erlangen, in 18 Stunden dieses Gemälde fertig zu bekommen.“ Das sah der Marquis ein und zahlte. Also: Übung macht den Meister. Beharrliche Übung! Fortwährende Übung! Denn wer aufhört zu üben, der verliert die erworbene Fertigkeit wieder. Wenn sich der Konzertpianist die Hand bricht, der Profifußballer das Kreuzband reißt, der Dolmetscher für lange Zeit eine seiner Sprachen nicht spricht und liest, dann verliert er die Perfektion. Deshalb das fortwährende Üben, Trainieren, Wiederholen.
Woran erkennt man, ob jemand eine Fertigkeit besitzt? Der hl. Thomas von Aquin sagt, man erkennt es daran, daß jemand etwas Schwieriges leicht, beständig, schnell und gerne tut (vgl. Quaest. disp. De virt. in com. a.1). – 1. Leicht: Die häufige Übung bewirkt, daß es leicht wird, die erworbene Fertigkeit auszuüben. Die Gewohnheit wird gleichsam zur zweiten Natur. Es ist für den Pianisten so selbstverständlich, die schwierigsten Läufe auf dem Konzertflügel zu spielen, daß er dabei gar nicht mehr großartig nachzudenken braucht, in welcher Reihenfolge er die Finger bewegen muß. – 2. Beständig: Die Gewohnheit ist derart verinnerlicht, daß es nicht nur einmal gelingt ein schwieriges Stück zu spielen, sondern immer, wenn er sich an den Flügel setzt. Wer nur dann und wann ein schwieriges Stück fehlerfrei spielen kann, besitzt noch nicht die Perfektion. – 3. Schnell: D.h. wenn man dem Pianisten ein unbekanntes Stück vorlegt, so kann er es sofort vom Blatt richtig spielen, ohne lange Übungszeit. – Und schließlich zeigt sich die Fertigkeit 4. darin, daß man Schwieriges gerne tut. Was man kann, das tut man mit Freude. Wie das Wasser geneigt ist abwärts zu fließen; wie jeder Körper geneigt ist zu Boden zu fallen, so ist der Geübte geneigt, freudig und gern das Anspruchsvolle zu tun. Die Tugend ist jedoch nicht nur eine durch Übung erworbene Fertigkeit. Sie wird wesentlich bestimmt durch ihren Zweck. Die Tugend ist eine Fertigkeit, das Gute zu tun. – „Gut“ ist dabei all das, was dem Willen Gottes entspricht, oder was Gott wohlgefällig ist. „Wer den Willen meines Vaters, der im Himmel ist, tut“, sagt der Herr, der bringt gute Früchte hervor. Gut ist unser Tun, wenn es im Gehorsam gegen den göttlichen Willen steht.
Dadurch unterscheidet sich die Tugend wesentlich vom Laster. Denn auch das Laster ist eine Fertigkeit; eine gewisse Perfektion, leicht, beständig, schnell und gerne zu sündigen. Die Sünde ist gleichsam zur zweiten Natur geworden, so daß der Lasterhafte sündigt, ohne groß darüber nachzudenken. Dem lasterhaften Menschen ist die Sünde durch fortwährende Wiederholung derart in Fleisch und Blut übergegangen, daß er sie außerdem auch gar nicht so ohne weiteres wieder lassen kann.
Dagegen hilft nur, sich die entgegengesetzte Tugend zuzulegen. „Gewohnheit wird nur durch Gewohnheit überwunden“, sagt die Nachfolge Christi (I, 21). Die sündhafte Gewohnheit kann nur gebrochen werden durch die entgegengesetzte Tugend: Der Stolz durch die Demut. Die Unkeuschheit durch Schamhaftigkeit. Die Empfindlichkeit durch Geduld. Der Jähzorn durch Sanftmut. Der Geiz durch Freigebigkeit. Die Trägheit durch Liebe zur Pflicht. Der Neid durch Wohlwollen. etc. – Ein Mensch, dem es gelingt, ein Laster abzulegen und durch die entgegengesetzte Tugend zu ersetzen, muß sich ferner noch viel mehr bewachen, als einer, der dem Laster nie verfallen war. Denn wie ein Pianist nach einer Handgelenksverletzung vergleichsweise wenig Übungsstunden benötigt, um die verlorengegangene Perfektion zurückzuerlangen, so bedarf auch der vormals in der Sünde geübte nicht vieler Rückfälle, um wieder ganz seinem vormaligen Laster verfallen zu sein.
Umgekehrt gilt natürlich, daß die einmal erlangte Tugend als Vollkommenheit, das Gute zu tun, einen mächtigen Schutz, ein starkes Bollwerk darstellt, sowohl gegen die Sünde als auch gegen das Laster. Eine wesentliche Aufgabe der Erziehung besteht darin, die Kinder zur Tugend anzuleiten. Die Kinder müssen, vom zarten Alter angefangen und erst recht in der Jugend, insbesondere durch das persönliche Vorbild und durch unermüdliche, wenngleich angemessene Ermahnung zur Tugendübung angehalten werden, um sie davor zu bewahren, sich in ein Laster zu verstricken, gegen das sie dann womöglich ihr Leben lang anzukämpfen hätten.
Die Einteilung der Tugend
Wie der Körper des Menschen einen einheitlichen Bewegungsapparat bildet, so bildet auch die Tugend gleichsam einen einheitlichen sittlichen Bewegungsapparat, um das Gute zu tun. Man kann die Tugend wie eine Einheit betrachten, die den Menschen gegenüber Gott, den Mitmenschen und gegen sich selbst ins rechte Verhältnis setzt; und damit sowohl sein Handeln, als auch ihn selbst richtig, recht, ja, gerecht macht. Insofern nämlich das Gute in der rechten Unterordnung des ganzen Menschen unter Gott besteht, gibt es nur eine einzige Tugend, die Tugend der „allgemeinen Gerechtigkeit“ (justitia generalis). Diese ist gemeint, wenn die Heilige Schrift Gestalten wie etwa den Noe, den hl. Joseph, die hll. Zacharias und Elisabeth oder deren Sohn, den hl. Johannes den Täufer, „gerecht“ nennt. In dieser allgemeinen Gerechtigkeit sind alle Tugenden enthalten, welche nichts anderes sind, als die in den verschiedenen Seelenkräften und Beziehungen des Menschen sich offenbarende Gerechtigkeit.
Wie man am Körper des Menschen jedoch verschiedene Teile – etwa den Kopf, den Hals, den Rumpf, die oberen Extremitäten und die unteren Extremitäten – voneinander unterscheiden kann und die Einheit des Leibes in verschiedene Gliedmaßen einteilen kann, so ist es auch bei der Tugend. Im Folgenden wollen wir die einzelnen Glieder des geistigen Bewegungsapparates unserer Seele nach verschiedenen Gesichtspunkten einteilen.
Was ist ein Gesichtspunkt? Jede gute und richtige Einteilung hat einen Grund, auch wenn dieser sehr verschieden sein kann. Wenn jemand etwa das Geld einteilen wollte, so könnte man es einteilen in richtiges Geld und Falschgeld. Der Gesichtspunkt der Einteilung liegt in der Echtheit. Man könnte das Geld auch anhand seiner materiellen Beschaffenheit einteilen; nämlich in Münzgeld und Papiergeld. Man könnte es einteilen nach seinem Ursprung; in EZB-Geld oder in außereuropäisches Geld. Man könnte es einteilen nach seinem Alter. Dann bekäme man antike Münzen, Münzen des Mittelalters und die Zahlungsmittel der Neuzeit. Unter welchen Gesichtspunkten unterscheidet man die verschiedenen Tugenden? – Sie werden eingeteilt:
- Nach ihrem Sitz. Also wo sie sich in der Seele des Menschen befinden. Man unterscheidet dabei Tugenden des Verstandes (intellektuelle Tugenden) und Tugenden des Willens (moralische Tugenden), je nachdem, ob sie dem Verstand oder dem Willen des Menschen eine gewisse Leichtigkeit und Geneigtheit zum guten Tun verleihen. Diese Einteilung zeigt, wo die Tugenden in der Seele wurzeln, wo sie ihren Sitz haben.
- Werden die Tugenden unterschieden nach ihrem Zweck. Man unterscheidet göttliche Tugenden und sittliche Tugenden. Die göttlichen Tugenden (Glaube, Hoffnung, Liebe) zielen unmittelbar auf Gott und regeln die Beziehung des Menschen zu seinem Schöpfer und Herrn, während die sittlichen Tugenden (Klugheit, Gerechtigkeit, Starkmut, Mäßigkeit) auf das sittlich richtige Verhalten des Menschen selbst abzielen und seine Vermögen, Kräfte und Triebe regeln. Diese Einteilung zeigt die unterschiedliche Zielrichtung der Tugenden auf.
- Unterscheidet man die Tugenden schließlich nach ihrem Ursprung. Dabei unterscheidet man die übernatürlichen Tugenden von den natürlichen Tugenden. Die übernatürlichen Tugenden werden auch „eingegossene Tugenden“ genannt, weil sie nicht erworben werden können, sondern der Seele von Gott als ein gnadenhaftes Geschenk verliehen werden müssen. Im Gegensatz dazu stehen die natürlichen Tugenden, welche durch menschliche Tätigkeit erlangt und das Resultat beharrlicher Übung sind. Deshalb werden die natürlichen Tugenden auch „erworbene Tugenden“ genannt.
Was sind „eingegossene Tugenden“?
Gerade in die letzte Unterscheidung zwischen den eingegossenen und den erworbenen Tugenden müssen wir uns noch ein wenig vertiefen. – Bis jetzt hatten wir ja gesagt, daß die Tugenden Fertigkeiten sind, welche vom Menschen durch beharrliche Übung erworben werden. – Die eingegossenen Tugenden stellen jedoch hier offenbar eine Ausnahme dar. Was hat es mit den eingegossenen Tugenden auf sich? Und in welchem Verhältnis stehen sie zu den erworbenen Tugenden?
Wie wir schon öfters gesagt haben, ist der Mensch auf ein übernatürliches Ziel hingeordnet – auf das ewige Leben. Das ewige Leben besteht in seiner vollen Entfaltung darin, daß die Seele Gott unmittelbar, von Angesicht zu Angesicht schaut, so wie Gott selbst sich sieht; und Gott so liebt, wie Gott selbst sich liebt. Die dafür erforderliche Vereinigung mit Gott kann die menschliche Seele nicht aus eigenen Kräften leisten, denn sie ist von Natur aus nur Gott eigen. Deshalb muß dem Menschen von Gott das übernatürliche Gnadenleben geschenkt werden. Ein erster Anteil am göttlichen Leben wird dem Menschen zuteil, im Augenblick der Rechtfertigung. In dem Moment, da das Taufwasser auf den Täufling ausgegossen wird, bzw. der Priester im Beichtstuhl die Lossprechung über den Sünder spricht, wird der Seele die heiligmachende Gnade eingegossen. Das Gnadenleben durchdringt die Seele, vergöttlicht sie, gibt ihr eine übernatürliche Daseinsweise weit über die bloß menschliche hinaus und macht sie zu einem Kind Gottes. – Obwohl es sich bei der heiligmachenden Gnade, die wir am Tag unserer Taufe empfangen haben, um ein ganz gewaltiges Geschenk handelt, das wertvoller ist als die gesamte Schöpfung zusammengenommen, so ist es im Vergleich zum voll entfalteten ewigen Leben des Himmels erst ein kleiner Anteil. Das Gnadenleben ist anfangs noch unterentwickelt; gleichsam ein Samenkorn. – Gott will nun, daß der Mensch an der Entfaltung und Entwicklung des Gnadenlebens seiner Seele mitwirkt. Gott will ihm das volle Leben der ewigen Glückseligkeit nicht einfach so, ohne sein Zutun schenken, sondern ihn dasselbe als Lohn verdienen lassen. Wie soll er es sich verdienen? Wir haben es im Gleichnis gehört: Indem er, wie ein guter Baum, gute Früchte hervorbringt.
Doch muß auch hier die Ordnung gewahrt bleiben. Die verdienstliche Leistung muß der Ordnung des verheißenen Lohnes entsprechen. Wenn der Lohn, welcher dem Menschen winkt, ein übernatürlicher ist, so muß auch die Leistung, die belohnt wird, eine übernatürliche sein. – Der Mensch kann jedoch aus seinen natürlichen Kräften lediglich natürliche Tugenden erwerben und damit nur „natürliche gute Werke“ hervorbringen. Diese stehen jedoch in keinem Verhältnis zu dem verheißenen Lohn, der ein übernatürlicher ist. – Es wäre so, als wollte sich eine Person mit ihrem Geld die Fertigkeit kaufen, eine fremde Sprache sprechen zu können. Das ist nicht möglich. Beide Dinge gehören einer anderen Ordnung an. Das Geld ist materiell und kann deshalb nur materielle Dinge kaufen. Die Kenntnis einer fremden Sprache ist ein geistiger Besitz, der nicht um alles Geld der Welt erlangt, sondern einzig durch den geistigen Aneignungsprozeß des Lernens erworben werden kann. Der Mensch kann sich also noch so sehr darum bemühen Tugenden zu erwerben. Er kann sich noch so beharrlich in guten Werken üben. Selbst die edelsten und vollkommensten natürlichen Tugenden reichen nicht hin, um Werke zu tun, die den übernatürlichen Lohn des ewigen Lebens verdienen würden. Deshalb muß der Mensch von Gott im Augenblick der Rechtfertigung nicht nur mit einer übernatürlichen Daseinsform, sondern auch mit einer Palette übernatürlicher Tätigkeitsprinzipien ausstattet werden, die ihn dazu befähigen, übernatürlich gute Werke zu tun. Denn nur die übernatürlich guten Werke sind verdienstlich. Nur sie sind eines übernatürlichen, ewigen Lohnes wert. Und diese übernatürlichen Tätigkeitsprinzipien, ohne die der Mensch keine verdienstlichen Werke vollbringen kann, sind nichts anderes als die „eingegossenen Tugenden“.
Fassen wir zusammen: Die eingegossenen Tugenden sind absolut übernatürlich. Sie müssen notwendig von Gott gegeben und können durch die angestrengteste Übung der natürlichen Kräfte nicht erworben werden. Die eingegossenen Tugenden werden zusammen mit der heiligmachenden Gnade verliehen, damit die Seele in den Stand gesetzt wird, durch ihre eigene Tätigkeit das übernatürliche Ziel zu erreichen. Das kann aber nur dadurch geschehen, daß seine Tätigkeit ebenso übernatürlich, göttlich wird, wie die zu verdienende Seligkeit.
Man kann das Geschehen mit der Veredelung eines Obstbaumes vergleichen. Die natürlichen Kräfte des Menschen gleichen einem Wildbaum, dessen Früchte klein und sauer sind. Doch der göttliche Gärtner setzt dem wilden Baum ein übernatürliches Edelpfropfreis ein. Dieses erhöht und veredelt die natürlichen Kräfte des Wildbaumes und beschert ihm die seine ursprüngliche Natur übersteigende Fertigkeit, fortan immer nur schöne, große und süße Früchte hervorzubringen.
Mit der heiligmachenden Gnade gießt Gott der Seele alle übernatürlichen Tugenden ein, sowohl die göttlichen (Glaube, Hoffnung, Liebe), als auch die sittlichen (Klugheit, Gerechtigkeit, Starkmut, Mäßigkeit). Die eingegossenen Tugenden bilden somit das Gefolge der heiligmachenden Gnade. Sie fließen gleichsam wie aus einem Quellgrund aus der Gnade hervor und bleiben solange in der Seele, als dieselbe in sich das Gnadenleben bewahrt. Mit einer Todsünde geht also nicht nur das Gnadenleben verloren, sondern auch die eingegossenen Tugenden, weshalb auch alle guten Werke, die im Stande der Todsünde geübt werden, zwar an sich gut sind, aber für die Ewigkeit ohne Verdienst bleiben.
Notwendigkeit der natürlichen Tugenden
Man kann nun fragen: Wenn uns durch die heiligmachende Gnade alle übernatürlichen Tugenden eingegossen werden, warum sollen wir uns dann überhaupt noch anstrengen und durch wiederholte Übung, die natürlichen Tugenden erwerben, zumal diese ja ohnehin aus sich keinen verdienstlichen Wert für die Ewigkeit haben? – Antwort: Weil die übernatürlichen Tugenden zwar alle in der Seele im Gnadenstand vorhanden sind, jedoch nur in dem Maß aktiv werden können, als die entsprechende natürliche Tugend von der Seele erworben worden ist.
Ein Beispiel: Eine Person, hat die schlechte Gewohnheit sich zu betrinken. Sie legt mit hinreichender Reue ihre Osterbeichte ab. Durch die Lossprechung empfängt sie zugleich mit der heiligmachenden Gnade auch alle eingegossenen Tugenden, darunter auch die eingegossene Tugend der Mäßigkeit, welche die Person befähigen würde übernatürliche, verdienstvolle Werke der Entsagung zu üben. Doch bleibt die eingegossene Tugend der Mäßigkeit gewissermaßen unwirksam, sofern sie nicht durch die Akte der durch Übung erworbenen Tugend der Mäßigkeit, betätigt wird. Diese ist in der Seele des Beichtkindes aufgrund des vorherrschenden Lasters der Trunksucht äußerst schwach. Das Beichtkind muß sich also dringend darum bemühen, das Laster abzulegen, indem es die natürliche (!) Tugend der Mäßigkeit durch wiederholte Übung der Entsagung erlangt, damit die eingegossene (!) Tugend der Mäßigkeit all diese natürlichen Anstrengungen in den Stand der Übernatur erheben und für die Ewigkeit verdienstlich machen kann.
Es ist so wie in unserem Beispiel vom vorhin. Das wilde Obstbäumchen muß selbst arbeiten. Aus seinen Wurzeln muß der Saft stammen, der durch das Edelreis veredelt und zur ansehnlichen, schmackhaften Frucht vervollkommnet wird. Gott rüstet die natürlichen Kräfte des Menschen durch die eingegossenen Tugenden lediglich dazu aus, daß sie durch ihre naturhafte Tätigkeit übernatürlich fruchtbar sein können. Die eingegossenen Tugenden sind also weniger darauf berechnet, uns die Übung der Tugenden zu erleichtern und angenehm zu machen. Der Kampf und die Anstrengung sollen uns nicht erspart werden. Folglich braucht man sich auch nicht zu wundern, wenn ein Mensch in der heiligmachenden Gnade sich immer noch bemühen muß, mit sittlicher Anstrengung das Böse fernzuhalten. Das ist selbstverständlich. Nur wozu die Natur von sich aus völlig unfähig ist – das übernatürliche Wirken – soll durch die eingegossenen Tugenden begründet werden. Sie beseitigen also nicht die Sinnlichkeit, die Bequemlichkeit, die Trägheit. Das müssen die von uns erworbenen natürlichen Tugenden leisten. Die eingegossenen Tugenden ersetzen nicht das menschliche Sich-Bemühen und Sich-Anstrengen, sondern erheben es in eine höhere, übernatürliche Sphäre. Sie machen unser natürliches Tun gottförmig.
Das heißt schließlich: Die eingegossenen Tugenden machen sich in keiner Weise in uns bemerkbar. Sie müssen, wie alles Übernatürliche, geglaubt werden. Wir fühlen uns im Stand der heiligmachenden Gnade also ebenso schwach oder stark in unseren Willensentschlüssen, und ebenso sicher oder unsicher in unserem Erkennen, wie im Stande der Todsünde.
Die Schönheit der Tugend
Der Herr sagt: „Jeder gute Baum bringt gute Früchte. Es kann ein guter Baum keine schlechten Früchte tragen.“ Damit wir einer dieser guten Bäume sein können, müssen wir zwei Dinge festhalten: 1. Wir müssen unbedingt das Leben der heiligmachenden Gnade bewahren. Der Todsünder ist ein toter Baum, dem mit dem ewigen Leben der Gnade auch die eingegossenen Tugenden verlorengehen, ohne die wir keine für die Ewigkeit verdienstlichen Werke tun können. Tote Bäume sind Bäume, die keine guten Früchte bringen. Und: „Jeder Baum, der keine gute Frucht bringt, wird ausgehauen und ins Feuer geworfen.“ 2. Wir müssen nicht nur den Gnadenstand bewahren, sondern in der Gnade auch gute Werke tun, gute Früchte bringen; Früchte des Gehorsams gegen den Willen Gottes, gegen Sein Gesetz. Das bringt jeden Tag Schwierigkeiten mit sich und fordert Selbstverleugnung und Selbstüberwindung. Durch die beharrliche Übung werden wir jedoch herrliche Tugenden erlangen. Harren wir also treu im Tun des Guten aus und arbeiten wir beständig an uns. Bemühen wir uns darum, uns die verschiedenen Tugenden anzueignen. Sie sind der übernatürliche Schmuck der Seele. Sie sind das, was Gottes Auge am Menschen wohlgefällig ist. – Ein General wird aus einer Menge seiner Soldaten die stärksten und tapfersten zu Offizieren befördern, weil sie ihm am besten gefallen; genauso wie ein Gelehrter nur die begabtesten und fleißigsten Studenten promovieren wird. Ein Gärtner wird jene Bäume weiterveredeln, welche die besten Früchte zeitigen. Und wenn das allwissende und allsehende Auge des himmlischen Vaters die Menschen mustert, so findet Er an denjenigen am meisten Wohlgefallen, welche tugendhaft sind; welche in der Tugend fortgeschritten sind und nach diesen diejenigen, welche wenigstens den ernsten Willen haben sich darum zu bemühen, auf den Wegen der echten Tugend zu wandeln. Ihnen gibt Er Seine Gnade, wie der Psalmist singt: „Der Gesetzgeber wird Seinen Segen geben; sie werden wandeln von Tugend zu Tugend; sie werden schauen den Gott über alle Götter in Sion“ (Ps. 83, 7). Amen.