Die göttlichen Tugenden

Geliebte Gottes!

Wir hörten am vergangenen Sonntag, daß sämtliche christlichen Tugenden in zwei Klassen unterteilt werden können: in die göttlichen und die sittlichen Tugenden. Dabei gibt es drei göttliche Tugenden: Glaube, Hoffnung und Liebe. Ihre Namen sind fast jedem Kind bekannt. Sie heißen „göttliche Tugenden“, weil sie geradewegs auf Gott ausgerichtet sind; weil sie unmittelbar auf Gott zielen. – Sie heißen aber auch noch aus einem anderen Grund göttliche Tugenden; nämlich, weil sie durch Gottes Hand in unsere Seele gepflanzt sind, weil sie schlechthin übernatürlich sind. Sie kommen von Gott und richten sich geradewegs auf Gott. Darum heißen sie göttliche Tugenden. Wie ein Zug am Bahnhof etwa „Stuttgarter Zug“ genannt kann, sowohl, weil er aus Stuttgart kommt, als auch weil er nach Stuttgart zurückfährt, so heißen Glaube, Hoffnung und Liebe „göttliche Tugenden“, weil sie von Gott kommen und uns direkt mit Gott verbinden.

Im Folgenden richten wir nun unsere Aufmerksamkeit auf die drei göttlichen Tugenden, um 1. ihr Wesen, und 2. die Übung dieser Tugenden genauer in Augenschein zu nehmen. Das Wesen aller drei göttlichen Tugenden läßt sich kurz beschreiben, als ein unmittelbarer, lebendiger Umgang der Seele mit Gott.

Der göttliche Glaube

Dabei wird die erste göttliche Tugend, der Glaube, vom Katechismus beschrieben, als die von Gott gegebene Fertigkeit, wodurch wir alles fest für wahr halten, was Gott, die ewige, unfehlbare Wahrheit geoffenbart, und uns durch das Lehramt der katholischen Kirche zu glauben vorgelegt hat. Das Vatikanische Konzil von 1870 hat den Glauben definiert (vgl. DH 3008) als ein festes Fürwahrhalten all dessen, was Gott geoffenbart hat und was die Kirche uns zu glauben vorstellt.

Was tun wir also, wenn wir glauben? Wir halten etwas für wahr. – Was halten wir für wahr? Das, was Gott gesagt hat. – Woher wissen wir, was Gott gesagt hat? Vom Lehramt der katholischen Kirche, das Gott eingesetzt hat und dessen Oberhaupt, dem Papst, dem Er durch den Beistand des Heiligen Geistes zur Seite steht, damit es uns „alle Tage bis ans Ende der Welt“ unfehlbar, d.h. irrtumsfrei, Auskunft von dem gibt, was Gott gesagt hat und was Gott von uns will. – Wieviel glauben wir? Ausnahmslos alles, was Gott uns durch das kirchliche Lehramt zu glauben vorlegt. – Wie halten wir es für wahr? Unerschütterlich fest. Warum? Weil Gott, die ewige, unfehlbare Wahrheit ist. Der Glaube ist also ein Fürwahrhalten; ein Festhalten der lebendigen Wirklichkeit Gottes.

Das ist ein wirklicher geistiger Austausch mit Gott, und zwar auf der Ebene der Erkenntnis. Durch den Glauben wird uns ein neues Hörvermögen und ein neues Sehvermögen geschenkt. „Das Auge des Christen sieht in die Ewigkeit hinein“, hat einmal der heilige Pfarrer von Ars gepredigt. Wir erhalten mit dem Glauben gewissermaßen neue Augen, die uns befähigen die Welt, die Schöpfung und das Leben mit den Augen Gottes zu sehen. Mit dem Glauben denken und urteilen wir so, wie Gott denkt und urteilt; und zwar über die wichtigsten Fragen: Woher bin ich? Woher ist die Welt? Von Gott geschaffen. Er ist der Schöpfer. – Wohin gehe ich? Zu Gott. Er ist das Ziel des Menschen. Er ist unser Vater; unser Erlöser; unser Richter; unser Seligmacher. Welches Licht und welcher Trost liegt in diesen Sätzen für den, der sie mit felsenfester Überzeugung für wahr hält! Für den Gläubigen ist die Welt kein Rätsel. Für ihn ist das Leben nicht in Finsternis eingehüllt. Für ihn ist der Tod kein dunkles Tor, hinter dem er nichts mehr sieht. Der Gläubige nimmt bis zu einem gewissen Grade teil an dem Licht der göttlichen Erkenntnis selbst. Er sieht die Welt in gewisser Weise mit den allesdurchdringenden Augen Gottes, der diese Welt erschaffen hat, der Selbst allwissend ist, der sich nicht irren oder andere täuschen kann. Der Glaube hat also zwei Wirkungen: 1. Er weitet den Horizont. Und 2.: Er bewahrt vor Irrtum. – Er erweitert den Horizont, denn wer glaubt weiß mehr und sieht mehr. Wer nicht glaubt, ist beschränkt auf die Erfahrungswirklichkeit, und das ist ja nur ein kleiner Ausschnitt der gesamten Realität. Der Glaube bewahrt aber auch vor Irrtum. Wie nahe liegt es doch dem Menschen, wenn er die Güter dieser Welt sieht, in ihnen seine letzte Erfüllung zu erblicken. Wie leicht verfällt er dem Irrtum, daß die Erde sein ein und alles ist. Wie billig ist es, zu sagen: „Tot ist tot und aus ist aus.“ Wie leicht ist das, und wie falsch! Der Glaube befreit vom Irrtum, weil er sich ganz auf Gott, die unfehlbare Wahrheit stützt.

Durch den Glauben werden wir in eine höhere Sphäre des Sehens erhoben. Er schenkt uns eine übernatürliche Erkenntnisfähigkeit, die es uns ermöglicht Gottes Offenbarung zu erkennen und richtig zu verstehen. Aber die Tugend des Glaubens befähigt nicht nur unseren Verstand zum Erkennen der letzten und höchsten Wahrheiten. Er befähigt auch unseren Willen das Erkannte anzunehmen und zu bewahren. Zum Glauben gehört nämlich nicht nur die Erkenntnis, sondern auch die gehorsame Annahme der Offenbarung und gehorsam ist man eben mit dem Willen. Wir richten uns auf Gott hin mit dem Erkennen des Verstandes und mit der gehorsamen Zustimmung unseres Willens. So hat der hl. Paulus den Römern den Glaubensakt erklärt: „Dank sei Gott, daß ihr, die ihr Knechte der Sünde wart, von Herzen gehorsam geworden seid gegen die Vorschriften der Lehre, in die ihr eingeführt wurdet“ (Röm. 6, 17). Als die Römer gläubig wurden, da wurden sie gehorsam. Gehorsam gegen die ihnen vorgelegte Lehre Gottes. Die Beteiligung des Willens ist hervorzuheben, denn wer nicht will, dem ist überhaupt nichts zu beweisen. Wer nicht will, der kann auch die Erkenntniskraft Gottes nicht gewinnen. Der menschliche Wille muß am Glaubensakt beteiligt sein. Der Glaube ist also in seinem Kern die gehorsame Überantwortung des menschlichen Geistes an Gott. Der Mensch gibt seine Selbstherrlichkeit auf. Er verzichtet darauf, selbst bestimmen zu wollen, was er von Gottes Offenbarung gelten lassen will und was nicht. Er verzichtet darauf, selbst das letzte Wort zu behalten, in alle dem, was Gott ist, was Gott gesagt und getan hat, was Gott tut und tun wird, was Gott gebietet und verbietet.

Was ist also der Glaube? – Der Glaube ist eine übernatürliche Erkenntniskraft durch die unser Verstand unter Beteiligung des Willens mit Gewißheit für wahr hält, was Gott durch die Kirche lehrt. Und so ist der Glaube das allererste, was uns mit Gott unmittelbar verbindet. So wie die Glieder ein und derselben Familie, zunächst einmal dadurch verbunden sind, daß sie über die Familienangelegenheiten, die Erziehung, die Familiengeschäfte dieselben Kenntnisse, dieselben Gedanken und Grundsätze haben. Von zwei engverbundenen Freunden erwartet man, daß sie über Politik, über Religion, über viele und wichtige Dinge in ihren Ansichten übereinstimmen. Im Glauben denken wir so, wie Gott denkt.

Die göttliche Hoffnung

Der Glaube führt sodann zur zweiten göttlichen Tugend – der Hoffnung. Wenn Sie sich einmal die Zeit nehmen und das 11. Kapitel des Hebräerbriefs lesen, so werden sie sehen, wie angefangen von Abraham durchexerziert wird, wie das im Glauben Wirkliche aber Unanschauliche, in festem Vertrauen erhofft wird. Gleichsam als Überschrift über besagtem Kapitel findet sich der wuchtige Satz: „Es ist aber der Glaube das feste Vertrauen auf das, was man erhofft, ein Überzeugtsein von dem, was man nicht sieht“ (Heb.11, 1).

Was ist also die Tugend der Hoffnung? Die Hoffnung ist die von Gott verliehene, übernatürliche Fertigkeit, wodurch wir, um der Verdienste Christi willen, mit festem Vertrauen alles von Gott, dem allmächtigen, gütigen und getreuen Herrn, erwarten, was Gott uns verheißen hat. – Wie der Glaube, so ist auch die Hoffnung ein Überzeugtsein. Doch richtet sich die felsenfeste Überzeugung des Hoffenden nicht auf die Wahrheit einer unanschaulichen Wirklichkeit, sondern auf das zukünftige Eintreten einer von Gott gegebenen Verheißung. Wir sind überzeugt, daß wir das, was Gott versprochen hat, einst sehen, einst empfangen, einst besitzen, einst unverlierbar genießen werden. Wir sind unterwegs zu diesem Zustand. Aber die Erfüllung ist noch nicht erreicht. Dieses „noch nicht“ gehört wesentlich zur Hoffnung. Solange die Verheißung noch nicht erfüllt ist, hoffen wir darauf.

Was tun wir demnach, wenn wir die Tugend der Hoffnung haben? Wir erwarten etwas. – Was erwarten wir? Das, was Gott uns verheißen oder versprochen hat. – Was ist das? Allen Menschen, die glauben, sich taufen lassen und sich frei von Todsünde bewahren: das übernatürliche Leben der heiligmachenden Gnade. Allen reumütigen Sündern: die Vergebung der Sünden. All unseren Gedanken, Worten und Werken: den gerechten Lohn. Allen Menschen, die im Stande der heiligmachenden Gnade sterben: die ewige Herrlichkeit des Himmels. – Wie erwarten wir das? Mit festem Vertrauen. Worauf stützt sich dieses Vertrauen? Auf die Verheißung Gottes. Was macht uns so sicher, daß Gott auch hält, was Er verspricht? Der Glaube an Seine Allmacht, Güte und Treue. Gott ist allmächtig. Nichts kann Gott davon abhalten Seine Versprechungen tatsächlich wahr zu machen. Darüber hinaus ist Gott auch gütig. Gott ist voll Liebe zu uns und deshalb auch gerne dazu bereit, uns von Seinen übernatürlichen Gütern, die Er in unendlichem Maß besitzt, mitzuteilen. Ferner ist Gott getreu. Er weiß sich Seinem Wort verpflichtet. Seine Heiligkeit und Wahrhaftigkeit gebieten Ihm gewissermaßen, das einzuhalten was Er verspricht und das auszuführen, was Er androht.

Auch in der Hoffnung auf Gott findet sich ein direkter, unmittelbarer Austausch mit Ihm. Die Hoffnung ist eine gewisse Gütergemeinschaft mit Gott. Für die Kinder einer Familie ist stets der Tisch gedeckt. Was sie benötigen, das erwarten und erhalten sie von den Eltern. Was die Eltern besitzen, daran haben die Kinder schon zu Lebzeiten der Eltern Anteil. Und nach dem Tod der Eltern, wird deren Besitz ihr sicheres Erbteil. Durch die Tugend der Hoffnung nehmen wir teil an den Gütern Gottes, wie der hl. Paulus in der heutigen Epistel erklärt: „Ihr habt ja nicht den Geist der Knechtschaft empfangen, … sondern den Geist der Kindschaft, in dem wir rufen: Abba, Vater! … Wenn [wir] aber Kinder Gottes sind, … so sind wir auch Erben; Erben Gottes und Miterben Christi“ (Röm. 8, 15 ff.). Gott selbst ist das höchste Gut. Er hat Sich selbst als Lohn für die Seinigen versprochen: „Alles Meinige ist dein“ (Lk. 15, 31). „Ich bin dein übergroßer Lohn“ (Gen. 15, 1).

Wie nichtig, wie trügerisch, wie vergänglich ist im Gegensatz dazu alles, was die Erde und dieses irdische Leben zu bieten hat! Freude und Schmerz, Glück und Unglück, Leben und Tod wogen auf und ab, wie die Wellen des sturmgepeitschten Meeres. Keine Ruhe. Keine Festigkeit. Keine Sicherheit. Kein wahres Glück. Denn wie der hl. Augustinus sagt: „Ein verlierbares Glück, nenne ich kein Glück.“ Alles irdische Glück ist jedoch vergänglich. – Wer aber im Herzen die Tugend der Hoffnung hat, der findet auch trotz der Stürme des Lebens, trotz der dunklen Wolken am Horizont der Zukunft, den festen Grund, wo sein Anker Halt findet. Und dieser feste Grund seiner Hoffnung, das sind die Verheißungen Gottes. Die Tugend der Hoffnung zeigt dem Menschen einen gütigen Gott, der zum Verzeihen bereit ist. Einen freigebigen Gott, der uns mit Seinen Gnaden und Gaben reichlicher austeilt, als wir es zu wünschen wagen; ja sogar mehr, als wir überhaupt zu wünschen fähig sind. Nämlich Gott, das höchste Gut, zu erkennen, wie Er sich erkennt. Gott, das höchste Gut, zu lieben, wie Er sich liebt. Gott, das höchste Gut, zu besitzen, ohne Gefahr des Verlustes; unverlierbar, ohne Ende, bis in alle Ewigkeit. Die Hoffnung zeigt uns ein Glück ohne Grenzen; eine Seligkeit, die alles übersteigt, was wir uns ausmalen könnten. Sie stellt uns nichts Geringeres in Aussicht als Gott. – Das ist die Hoffnung: Gott verspricht. Und der Mensch vertraut darauf, zu empfangen. Das ist gleichsam die vorweggenommene Gütergemeinschaft mit Gott. In der Hoffnung besitzen wir schon im Voraus das ewige Gut.

Die göttliche Liebe

Bleibt noch die Frage nach dem Wesen der dritten göttlichen Tugend: Was ist die Liebe? – Die Liebe ist die von Gott verliehene, übernatürliche Fertigkeit, wodurch wir uns Gott, dem höchsten Gut, ganz hingeben. Die Liebe beinhaltet drei, sich steigernde Gesichtspunkte: 1. die Sehnsucht nach dem Geliebten; 2. das Wohlwollen gegen den Geliebten; und 3. das Sich-selbst-Schenken an den Geliebten. Kurz: Sehnsucht, Wohlwollen, Sich-Schenken. – Diese dreifache Liebe geht zunächst von Gott aus. Gott hat uns zuerst geliebt (vgl. 1. Joh. 4, 19). Gott hat Sehnsucht nach denen, die Er selbst geschaffen hat. Gott will denen Gutes, die Er als Geschöpfe ins Dasein gerufen hat und fortwährend belebt. Gott will sich denen die Er liebt schenken, Sich mit ihnen vereinigen in Seinem Glück. Die göttliche Liebe verwandelt die Welt. Wenn sie zusammen mit der heiligmachenden Gnade in die Seele eingegossen wird, so bewirkt sie deren Umgestaltung. Die Seele wird durch die göttliche Liebe zu einem Spiegelbild des himmlischen Vaters. Diese Verähnlichung wird erreicht durch die Gemeinschaft mit dem Gottessohn Jesus Christus. Sie besteht in der Gemeinschaft Seines Todes und Seiner Auferstehung, in die wir durch die Mitteilung des Heiligen Geistes in Taufe und Firmung hineingenommen sind. So wird die Seele in die Liebesgemeinschaft des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes hineingenommen und in ihrer Tiefe verwandelt, erhöht, vergöttlicht. Aber die Liebe, die Gott dem Menschen eingießt, verwandelt nicht nur sein Sein, sondern auch sein Tun. Die übernatürliche Liebe befähigt den Menschen, auf die Liebe Gottes zu antworten. Sie befähigt den Menschen selbst, zur Sehnsucht, zum Wohlwollen und zum Sich-selbst-Schenken an Gott.

Was tun wir also, wenn wir die Tugend der Liebe haben? Wir geben etwas. Wir schenken etwas. – Was schenken wir? Uns selbst. – Wem geben wir uns hin? Gott, unserem höchsten und liebenswertesten Herrn. – Wie sollen unsere Hingabe an Gott beschaffen sein? Das Hauptgebot formuliert sie klar und deutlich: „Du sollst den Herren, deinen Gott, lieben“ (Mt. 22, 37). Ja, aber wie? „Aus deinem ganzem Herzen, aus deiner ganzen Seele, aus deinem ganzen Gemüt und aus allen deinen Kräften“ (Mk. 12, 30). Also von ganzem Herzen; d.h. ohne Vorbehalt; ohne Rückhalt: durch die Kräfte unseres Körpers und unseres Geistes; durch unser Wollen und Urteilen; durch unser Reden und Tun. Alles in allem, durch den Dienst unseres Gehorsams, und zwar nicht nur auf der Ebene des Erkennens, wie beim Glauben, sondern in restlos all unseren Lebensvollzügen, in unserem ganzen Denken, Reden und Tun. – Deshalb muß sich die Liebe bewähren; nicht in Gefühlen. Gefühle sind ohnehin trügerisch und oft gar nicht unserem Willen unterworfen. Die Liebe muß sich bewähren in der Tat des Gehorsams gegen Gottes Willen. Die Liebe tut das, was die Stunde gebietet. Sie bringt den Willen Gottes in jeder Situation zur Anwendung. Wer Gott liebt, dessen oberstes Ziel ist die Verwirklichung des Willens Gottes; die Teilnahme am Reiche Gottes; die Durchsetzung des göttlichen Willens. Wer Gott liebt, der nimmt auch entschieden den Kampf auf. Es gibt nämlich zwei Bedrohungen, zwei ganz besonders gefährliche Bedrohungen für die Liebe zu Gott: den Mammon und den Ehrgeiz. Wer dem Irdischen, dem Sinnlichen, dem materiellen Besitz verfällt, der fällt aus der Liebe Gottes heraus, weil Gott immateriell ist, weil Gott reiner Geist ist. Und wem es um die eigene Ehre und das Ansehen bei den Menschen, um die Geltung in dieser Welt zu tun ist, der kann nicht in der Liebe Gottes verbleiben, weil Gott eifersüchtig auf Seine Ehre bedacht ist und unsere Ehre in Wirklichkeit Seine Ehre ist. Deswegen muß der Christ alles hassen, was Gott entgegensteht, was Gott Seiner Ehre beraubt. Darin besteht der heilige Selbsthaß von dem Christus spricht: „Wenn jemand zu mir kommt, und haßt nicht Vater und Mutter, und Weib, und Kinder, und Brüder, und Schwestern, ja auch sogar sein eigenes Leben, so kann er mein Jünger nicht sein“ (Lk. 14, 26). Die gottliebende Seele muß alles zurückweisen, was sich Gottes Plänen widersetzt, was den Absolutheitsanspruch Gottes in Frage stellt. Sie muß entschieden den Kampf aufnehmen gegen die dumpfen Unholde in der eigenen Brust.

Zur Gottesliebe muß die Nächstenliebe notwendigerweise hinzukommen. Gott ist unsichtbar. Wir sehen Ihn nicht. Und deshalb muß sich die Echtheit unserer Gottesliebe bewähren, in der übernatürlichen Liebe zum Nächsten, den wir sehen können, mit dem zusammen wir leben. Der Herr sagt: „Ein zweites [Gebot] ist diesem [dem Gebot zur Gottesliebe] gleich: Lieben sollst du deinen Nächsten wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten“ (Mt. 22, 39 f.). Der Grund dafür, daß die Echtheit und Ernsthaftigkeit unserer Gottesliebe an der wahren Nächstenliebe gemessen wird ist darin gelegen, daß, wer Gott liebt, auch alles lieben muß, was von Gott geliebt wird. Gott liebt aber ausnahmslos jeden Menschen. Denn jeder Mensch ist von Gott aus Liebe geschaffen worden. Liebte Gott den Mitmenschen nicht, dann hätte er ihn nicht ins Dasein gerufen. Weil Er ihn aber geschaffen hat, so sehen (!) wir, daß Gott ihn liebt. Folglich ist derjenige, welcher von sich behauptet Gott zu lieben, auch gehalten, all seine Geschöpfe zu lieben. Und zwar nicht, weil ihm diese Geschöpfe, also die Mitmenschen, alle so sympathisch sind, oder weil sie ihm irgendwie liebenswert erscheinen, sondern er liebt sie allein, weil Gott sie liebt, also um Gottes willen! Das ist die übernatürliche Nächstenliebe. Der hl. Apostel Johannes sagt: „Wenn einer sagt: Ich liebe Gott, dabei aber seinen Bruder haßt, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, der kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht. Und dieses Gebot haben wir von Ihm: Wer Gott liebt, der muß auch seinen Bruder lieben“ (1. Joh. 4, 20 f.).

Die übernatürliche Liebe muß selbst den Feind umfassen. Denn auch der Feind ist ein Geschöpf Gottes und daher von Gott geliebt; selbst dann, wenn er ein Sünder ist und Gott mißfällt. Nichtsdestotrotz ist Er von Gott geliebt. Die Feindesliebe ist für Menschen, die nur in diesseitigen Kategorien denken, vielleicht das Unfaßlichste am Christentum. Aber Jesus gebietet sie ohne jedes Wenn und Aber. Die Feindesliebe erhebt den Menschen am weitesten über sich selbst, über sein natürliches Empfinden, über seine Natur hinaus. Sie hebt seine Liebe in die Sphäre Gottes, der, als wir Seine Feinde waren, uns geliebt und Sich deshalb für uns am Kreuz hingeopfert hat. Kurz zusammengefaßt bringt der hl. Apostel Johannes das Liebesgebot auf den Punkt: „Darin besteht die Liebe zu Gott, daß wir Seine Gebote halten“ (1. Joh. 5, 3). – Durch dieses eine göttliche Gebot, erfährt unser gesamtes sittliches Leben eine wunderbare Vereinfachung. Denn in der Befolgung des Gebotes der Liebe sind alle anderen sittlichen Gesetze enthalten, wie der hl. Paulus sagt: „Bleibt niemand etwas schuldig, außer daß ihr einander liebet. Denn wer den Nächsten liebt, der hat das Gesetz erfüllt. Denn die Gebote: Du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst kein falsches Zeugnis geben, du sollst nicht begehren und jedes andere Gebot ist enthalten in dieser Vorschrift. Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst. Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. Die Erfüllung des Gesetzes also ist die Liebe“ (Röm. 13, 8-10) – Wohlgemerkt! In der Liebe sind alle Gebote enthalten, aber nur in der wahren Liebe. Liebe ist nicht Gesetzlosigkeit, sondern ist Erfüllung aller Gebote. Wer also sündigt, und dabei behauptet, es geschehe doch aus reiner Liebe, der handelt in Wirklichkeit nicht aus übernatürlicher Liebe, sondern aus ungeordneter Selbstliebe. Er betrügt sich selbst.

Gott der Herr hat uns von Ewigkeit geliebt. Was könnten wir Ihm mehr geben als unser Herz, unsere Liebe und den Dienst unseres Gehorsams? Er gibt; und wir empfangen. Wir geben; und Er empfängt. Welch eine innige Gemeinschaft des Lebens liegt in der Liebe der Seele zu Gott und Gottes zur Seele!

Gemeinschaft mit Gott im Handeln

Das übernatürliche Leben der göttlichen Gnade vereinigt uns mit Gott im Sein. Dieses Leben betätigt sich in den drei göttlichen Tugenden. Glauben, hoffen lieben, heißt, in unserem Tun in übernatürliche Lebensgemeinschaft und in unmittelbaren Austausch mit Gott zu treten. Durch den Glauben klammert sich die Seele an die Wahrhaftigkeit Gottes und denkt so, wie Gott denkt. Durch die Hoffnung klammert sich die Seele an die Treue der göttlichen Verheißungen und erwartet die Güter, welche Gott besitzt und zu geben versprochen hat. Durch die Liebe klammert sich die Seele mit allen Fasern des Herzens an Gott selbst, den liebenswerten Gott, von dessen Vollkommenheit angezogen, sie Ihm in all ihren Handlungen immer ähnlicher werden will, bis hin zur Liebe des Feindes.

Das Buch des Predigers sagt: „Eine dreifache Schnur zerreißt nicht leicht“ (Prd. 4, 12). Die drei göttlichen Tugenden sind ein dreifaches Band, wodurch die Seele mit Gott und Gott mit der Seele verbunden ist. Solange eine von diesen Tugenden in der Seele zu finden ist, da ist diese Seele noch nicht ganz von Gott getrennt. Wo sie sich alle drei finden, da ist eine enge Bindung, ein enger Austausch, eine wahre Lebensgemeinschaft gegeben.

Die Übung der göttlichen Tugenden

Nachdem wir das Wesen der drei göttlichen Tugenden kennengelernt haben, fragt es sich nun, wann wir diese göttlichen Tugenden erwecken sollen? Ja, was heißt das überhaupt, „die Tugenden erwecken“. Wir können es uns klarmachen mit dem Bild eines Schlafenden, der aufgeweckt wird. Solange er schläft, sieht er nicht, hört er nicht, spricht er nicht, denkt er nicht; obwohl er diese Seelenvermögen, also die Fähigkeiten zu sehen, zu hören, zu sprechen, zu denken doch tatsächlich besitzt. Sobald er aber aufgeweckt ist, so fängt er auch an zu sehen, zu hören, zu sprechen und zu denken. – Glaube, Hoffnung und Liebe schlummern gewissermaßen in der Seele. Und diese Tugenden werden erweckt, wenn wir den Glauben, die Hoffnung, die Liebe mit bewußtem Sinn und Verstand ausüben, sei es in bloßen Gedanken oder in Worten. Die Katechismen und Gebetbücher helfen uns dabei, indem sie kurze Gebetsformeln anbieten. Wichtig ist beim Erwecken der Tugenden jedoch nicht „wie“ es geschieht, sondern „daß“ es geschieht. Wann also sollen wir die Tugenden erwecken? Öfters im Leben. Insbesondere aber 1. in Versuchungen gegen diese Tugenden; 2. beim Empfang der heiligen Sakramente; 3. in Lebensgefahr und auf dem Sterbebett. – Öfters im Leben, das klingt vage. Alle Tage? Jeden Morgen? Jeden Abend? Jede Woche einmal? Jeden Monat einmal? – So oft wie möglich! Täglich, vielleicht auch mehrmals am Tag. – Doch soll sich nun niemand deshalb beunruhigen, weil ihm sein Gewissen sagt, daß er eigentlich so gut wie nie ein Gebet zur Weckung der drei göttlichen Tugenden verrichtet. Wahrscheinlich bräuchten sich die wenigsten in der Beichte anzuklagen, daß sie es unterlassen hätten, Glaube, Hoffnung und Liebe zu erwecken. – Wieso? Sehr einfach. Wer christlich lebt, der wird beten. Kann man beten, ohne zu glauben? Wohl kaum. – Kann man beten, ohne auf die Erhörung seines Gebetes zu hoffen? Gewiß nicht. – Wer christlich lebt, der wird ferner regelmäßig das Bußsakrament empfangen. Ist das möglich ohne den Glauben an Gott den ewigen Richter? Ist das möglich ohne Hoffnung auf Vergebung? Ist das möglich ohne das drängende Gefühl der Liebe, die sich von allem reinigen will, was dem Geliebten mißfällt, was diesen verärgert, was diesen auf Distanz hält? Nein. – Wer christlich lebt, der wird außerdem die übrigen Sakramente empfangen, insbesondere das Allerheiligste Altarsakrament, welches Gott selbst enthält. Wäre das möglich, ohne wenigstens im Herzen den Glauben, die Hoffnung und die Liebe zu haben? – Wer christlich lebt, der wird außerdem wenigstens an Sonn- und Feiertagen der hl. Messe beiwohnen. Kann er das wirklich andächtig tun, ohne Glaube, Hoffnung und Liebe in seinem Herzen zu erwecken? Kurz: Wer betet, beichtet und kommuniziert; wer die hl. Messe nicht versäumt, der erfüllt gewiß seine Pflicht die göttlichen Tugenden öfters zu erwecken. Sehr schön und überaus ratsam ist es freilich, wenn wir es jeden Tag ausdrücklich beim Morgen- oder Abendgebet tun würden. – Es gibt jedoch bestimmte Anlässe, bei denen es besonders wichtig ist, die drei göttlichen Tugenden zu erwecken:

  1. In der Versuchung gegen diese Tugenden. Wir sollen also den Glauben erwecken, bei Versuchungen gegen den Glauben; die Hoffnung bei Versuchungen gegen die Hoffnung; und die Liebe bei Versuchungen gegen die Liebe. – Wenn ein Volk fürchtet vom Nachbarland angegriffen zu werden, dann rüstet es sein Militär auf. Es erhöht die Truppenstärke, bildet mehr Soldaten aus, vermehrt und verbessert seine Kriegsgeräte mit moderner Waffentechnik. Es baut gewisse strategisch wichtige Standorte aus und sichert dieselben vor Angriffen ab. Ebenso ist es im geistlichen Kampf. Die Tugend muß gerade dann erweckt werden, wenn das Heer der Versuchungen gegen dieselbe anstürmt.
  2. Auch beim Empfang der heiligen Sakramente sollen die göttlichen Tugenden erweckt werden. Bei allen Sakramenten der Glaube. Beim Bußsakrament insbesondere die Hoffnung auf Verzeihung und Rechtfertigung. Beim Altarsakrament vor allem die Liebe. Die Seele, welche die göttlichen Tugenden häufig betätigt, wird die hl. Sakramente stets würdig, nutzbringend und segensreich empfangen.
  3. Schließlich sollen wir besonders in Lebensgefahr oder auf dem Sterbebett die drei göttlichen Tugenden erwecken. Wenn wir in Lebensgefahr sind, dann reißen mit einem Mal alle Bande, die uns an die Erde binden. Alle vermeintlichen Sicherheiten brechen weg. Wir verlassen die Welt; und die Welt verläßt uns. Was könnten wir also klügeres und besseres tun, als uns an jene Bande zu klammern, die uns mit Gott verbinden. Diese Bande reißen nie. Wie schön, wenn der Sterbende beten kann: „Siehe, o Herr, das Licht meiner Augen erlischt. Meine Erinnerung verläßt mich. Aber das Licht des Glaubens leuchtet hell in meiner Seele. Ich glaube an Dich. Möge es übergehen in das ewige Licht Deiner Herrlichkeit! – O mein Gott, alles Irdische verläßt mich. Aber Du wirst mich nicht verlassen. Auf Dich, o Herr, hoffe ich. Ich werde in Ewigkeit nicht zuschanden werden. – O mein Gott, ich liebe Dich und hasse die Sünde. Ich will Dich ewig lieben. Du bist der Gott meines Herzens, Du mein Anteil in Ewigkeit.“

Der hl. Paulus sagt: „Jetzt bleiben Glaube, Hoffnung Liebe, diese drei. Am größten unter ihnen ist die Liebe“ (1. Kor. 13, 13). Die Liebe ist am größten, weil sie unsterblich ist. Der Glaube wird einst aufhören und in die unmittelbare Anschauung Gottes übergehen. Die Hoffnung auf die ewigen Güter wird erfüllt sein im beseligenden Besitz Gottes. Von der Liebe allein heißt es: Sie hört niemals auf. Und deshalb befiehlt uns der Völkerapostel: „Jagt der Liebe nach!“ (1. Kor. 14, 1). Amen.

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