Die Binde über den Augen des Geistes

Geliebte Gottes!

Wer recht hat, bekommt von den Menschen noch lange nicht immer recht. Das ist eine Erfahrung, die uns das tägliche Leben nur zu deutlich lehrt. Selbst unser Herr Jesus Christus, der wesensgleiche Gottessohn, begegnete während Seines öffentlichen Lebens immer wieder brüsker Zurückweisung, obwohl Er sich doch auswies, wenn Er Seine Rechte einforderte. Unzählige Beweise Seiner Gottheit hatte Er dem jüdischen Volk und dessen Glaubenshütern gegeben. Gerade während der zurückliegenden Woche durften wir im mitreißenden Drama der Fastenliturgie die größten Wunder unseres göttlichen Erlösers gleichsam aufs neue miterleben: Da war die Rede von der Speisung der 5.000 Männer durch die Vermehrung von fünf Broten und zwei Fischen; von der Heilung eines Blindgeborenen; von der Erweckung eines in Naim gerade gestorbenen Jünglings oder von der Totenerweckung Seines bereits vier Tage im Grabe modernden Freundes Lazarus in Bethanien.

Die „Argumentation“ der Verblendung

Trotz all dieser sich an Herrlichkeit überbietenden Erweise Seiner göttlichen Allmacht trat gleichzeitig auch die verblendete Feindseligkeit der Mächtigen und Gelehrten gegen Ihn immer offener zutage. Tausend Gründe werden gesucht und tausend Einwendungen gefunden, die klar machen sollen, daß Sein Recht nicht recht ist. Wirkte Christus Wunder auf Erden, so forderten sie Zeichen am Himmel. Wenn Er wohl tat, indem Er Aussatz, Blindheit, Lähmung und alle erdenklichen Krankheiten heilte, bezichtigten sie Ihn der Sabbatschändung. Zeigte Er Seine Macht gegen die bösen Geister, so gaben sie zur Erklärung, Er treibe durch Beelzebub, den mächtigsten der Teufel, die Dämonen aus. Wenn Er sie in der Lehre unterwies, die Er an der Brust Seines himmlischen Vaters ruhend vernommen hatte (vgl. Joh. 1, 18), schalten sie Ihn einen Samariter – d.h. einen Ungläubigen – und einen dämonisch Besessenen. Daher die Klage unseres göttlichen Erlösers: „Wenn Ich euch die Wahrheit sage, warum glaubt ihr Mir nicht? Wer aus Gott ist, der hört Gottes Wort. Darum hört ihr nicht darauf, weil ihr nicht aus Gott seid“ (Joh. 8, 46 f.). – Wenn sodann aber gar kein Grund mehr gefunden werden kann, weil das Recht zu klar und zu einleuchtend ist, dann greifen die Gegner zu primitiven Mitteln, um damit das Recht zu widerlegen; zu Mitteln wie dem alles übertönenden Geschrei und – wenn wirklich gar nichts anders mehr hilft – zu Steinen. „Da hoben sie Steine auf, um nach Ihm zu werfen“ (Joh. 8, 59). Steine als Argumente gegen die Wahrheit! Das soll dann als „vollgültiger Beweis“ gelten. Christus hätte freilich schon bei der heutigen Begebenheit im Tempel ein Machtwort sprechen können, wie Er es später getan hat, als die Rotte der Tempelgarde im Ölgarten zum ersten Mal nach Jesus von Nazareth gefragt hatte. Dann wären Sie zu Boden gestürzt und die Steine wären ihren Händen entglitten. Wenn Gott offenbart, wer Er ist, dann müssen alle Geschöpfe anbetend in die Knie gehen. Das war schon am brennenden Dornbusch so, als Gott sprach: „Ich bin, der ‚Ich bin‘“ (Ex. 3, 14). So war es im Ölgarten: „Als Er nun zu ihnen sprach: ‚Ich bin es!‘ da wichen sie zurück und warfen sich zu Boden“ (Joh. 18, 6). Für die Zuschauer im Tempel wäre das Zurückweichen Seiner Feinde ein vollgültiger Beweis für eben jene Wahrheit gewesen, die Er für Sich beanspruchte: „Ehe Abraham ward, bin Ich“ (Joh. 8, 58). Ein Beweis für Sein Recht! – Christus wäre als der Stärkere aus dem Streit hervorgegangen. Aber einmal mußte doch in unserer Welt der Grundsatz hochgehalten werden, daß Gewalt nichts beweist, und auch nichts widerlegt. Deshalb verzichtete der Herr auf Gewalt.

Später hatte Christus nach Seiner Gefangennahme den Hohenpriester im Verhör des nächtlichen Schnellprozesses in die Enge getrieben. Er hat Sein Recht nachgewiesen. Dagegen läßt sich nicht mehr sagen; so möchte man wenigstens meinen. Sagen nicht. Aber schlagen! Einer der Knechte schlug Ihm mit der Faust ins Gesicht: „Antwortest Du so dem Hohenpriester?“ (Joh. 18, 22). Diesmal war es zwar kein Stein, aber eine Faust, die gegen Ihn erhoben wurde. Eine Faust als Argument gegen die Wahrheit.

Auch Pilatus erklärte sodann vor dem versammelten Volk: „Ich finde keine Schuld an Ihm“ (Joh. 18, 38). Dieses Urteil sollte dann doch genügen. Das ist eine richterliche Feststellung. Aber da schrie der ganze Pöbel: „Ans Kreuz mit Ihm!“ (Mt. 27, 23). Und dieses Geschrei war „Beweis“ genug für Seine Schuld, so daß das Todesurteil gefällt werden konnte. Vor dem Richterstuhl des römischen Statthalters waren es weder Steine, noch eine Faust. Es war wildes Geschrei, das sich erhob. Die „Stimme der Mehrheit“ als Argument gegen die Wahrheit!

Es bräuchte eigentlich nicht eigens darauf hingewiesen werden, daß unser göttlicher Erlöser Jesus Christus in Seinem Fortleben im mystischen Leib der katholischen Kirche immer wieder die gleichen Schicksale erleben und erleiden mußte: Steine, Fäuste, Geschrei. Warum? Weil Christus durch den Mund der katholischen Kirche quer durch alle Jahrhunderte hindurch ausruft: „Wer aus euch kann Mich einer Sünde beschuldigen?“ (Joh. 8, 46). Mit ihrem göttlichen Bräutigam fordert die heilige, katholische Kirche die Völker, die Zweifler, die Ungläubigen heraus: „Wer kann mich auch nur einer Unwahrheit, nur eines Fehlers beschuldigen?“ D.h. in meiner Lehre, die ich verkünde; in meinem Gottesdienst, den ich feiere; in meinen Vorschriften und Geboten, die ich den Menschen auferlege. Wer kann darin nach den Gesichtspunkten der Vernunft auch nur irgendetwas Unstatthaftes, Inkonsequentes oder Überflüssiges nachweisen? Freilich, sind die Gläubigen und Repräsentanten der katholischen Kirche gebrechliche Geschöpfe und Sünder. Unfehlbar ist hingegen die Lehre der Kirche. Makellos ihr Gottesdienst. Heilig ihre Satzungen und Vorschriften. Weil all das unwiderleglich wahr ist, deshalb hält auch die katholische Kirche ihren halsstarrigen Gegnern vor: „Wenn Ich euch die Wahrheit sage, warum glaubt ihr Mir nicht?“ – Stattdessen toben die Heiden und sinnen die Völker darauf, sich gegen die Kirche Gottes und ihr Oberhaupt zu verschwören. So, wie es schon im Psalm verheißen war: „Was toben die Heiden und sinnen eitlen Plan die Völker? Die Könige der Erde rotten sich zusammen. Es halten Rat die Mächtigen zum Kampf gegen Gott und Seinen Gesalbten“ (Ps. 2, 2). Auch durch die Jahrhunderte hindurch reagierten die Feinde Christi wie damals jene Männer im Hof des Tempels: „Da hoben sie Steine auf, um auf Jesus zu werfen.“ Wieder und immer wieder: Steine, Fäuste, Geschrei!

Wir sollten uns weniger darüber aufregen, daß es bis heute so geblieben ist, sondern lieber versuchen die Ursache ausfindig zu machen, um uns davor in acht zu nehmen. Ja, was bringt die Menschen eigentlich dazu, sich der Wahrheit und Heiligkeit zu verschließen? Was treibt sie an, sich mit Steinen, Fäusten und Geschrei gegen die Wahrheit aufzulehnen? Es ist die Verblendung! Die Verblendung, die wie eine Binde das Auge des Geistes verfinstert. Nicht umsonst wird in der christlichen Kunst die Synagoge, d.h. das ungläubige Judentum, als Frau mit zugebundenen Augen dargestellt. Wie kommt es zur Verblendung? Was ist ihre Ursache? Die Verblendung wurzelt im Stolz des Menschen. Und deshalb müssen wir uns im Folgenden besonders mit diesem gefährlichen Laster eingehender befassen.

Das Wesen des Stolzes

Beim Stolz, auch Hochmut genannt, handelt es sich um eine „Sünde des Geistes“. An sich ist der Stolz, nach der Lehre des hl. Thomas von Aquin, weniger schädlich und nicht so erniedrigend wie die „Sünden des Fleisches“. Aber der Stolz ist insofern gefährlicher und schlimmer, weil wir ihn einerseits weniger empfinden als die „Sünden des Fleisches“, er uns aber andererseits mehr von Gott abwendet als jene es tun. Die „Sünden des Fleisches“ nehmen wir sofort wahr, denn nach Verfehlungen gegen die Keuschheit meldet sich sofort das Gewissen; und zwar in der Regel sehr deutlich. Die Selbsterniedrigung ist fühlbar. Es ist dem Sünder sofort klar, daß er etwas Schlechtes getan hat. Deswegen sind diese Sünden leichter zu erkennen und zu bereuen. Für die „Sünden des Geistes“ fehlt uns hingegen die sinnliche Wahrnehmung, das Gespür. Und gerade deshalb ist der Stolz so gefährlich. Er wendet uns von Gott ab, und wir halten uns trotzdem noch für gute Menschen. Wir sehen das besonders deutlich an den gefallenen Engeln. Die „Sünden des Fleisches“ konnten bei ihnen, die sie reine Geister sind, nicht vorkommen. Doch haben sie sich durch ihren Stolz für immer in die ewige Verdammnis gestürzt.

Die Heilige Schrift sagt wiederholt, daß „der Stolz der Anfang jeder Sünde ist“ (Sir. 10, 15). Er zerstört die demütige Unterwerfung und den Gehorsam gegen Gott. Er beansprucht gegenüber Gott eine unabhängige Selbständigkeit, Selbstgefälligkeit und Selbstherrlichkeit, ohne gehorchen zu müssen. Deshalb ist der Stolz, mehr als alle anderen Sünden, eine Hauptsünde. Er ist zwar nur eine der sieben Hauptsünden, aber gewissermaßen die Quelle aller anderen Hauptsünden. Geiz, Trägheit, Völlerei, Jähzorn, Unkeuschheit, und Neid speisen sich nämlich aus dem Hochmut. Daraus ergibt sich sodann: Überhaupt alle Sünden lassen sich auf eine der genannten Hauptsünden zurückführen. Alle Hauptsünden wurzeln aber wiederum im Stolz. Und insofern ist er Ursprung und Anfang jeder Sünde. Besonders heimtückisch ist der Hochmut, weil er sich bestens zu Tarnen weiß. Manche täuschen sich über die wahre Natur ihres Stolzes und können dahin kommen, daß sie, ohne es zu bemerken, einer „falschen Demut“ huldigen, die nichts anderes als verborgener Stolz ist. Er besteht darin, sich in vermeintlicher Demut selbst zu gefallen. Die „falsche Demut“ ist deshalb viel gefährlicher als jener offene, aufgeblasene Stolz, der sich zur Schau stellt und lächerlich wirkt. Wie kann man das Wesen des Stolzes nun genau fassen? Der hl. Thomas bezeichnet den Stolz als „die ungeordnete Liebe zur eigenen Auszeichnung“. Der Stolze will höher scheinen, als er wirklich ist. In seinem Leben ist Unwahrheit. Er will höheres Ansehen genießen, als es seine Fähigkeiten, seine Qualifikation oder seine Leistungen verdienen. Auch der hl. Augustinus sagt, daß der Stolz „eine verkehrte Liebe zur Größe“ ist. Solcher Art ist etwa der Verstandesstolz, der dazu führt, daß wir mehr als zulässig unsere eigenen Kräfte betrachten und sie gleichzeitig mit den Unzulänglichkeiten der anderen vergleichen. Beide – sowohl die eigenen Fertigkeiten, als auch die Unterlegenheit der anderen – werden sodann übertrieben, um sich schließlich über die anderen, oder einen bestimmten Menschen zu erheben. Ein Erkennungsmerkmal des Hochmutes besteht in der schon fast krankhaften Sucht, sich ständig mit anderen Menschen zu vergleichen; in der Geringschätzung ihrer Fähigkeiten und Verdienste und in der Überbewertung der eigenen. Das Motto des Hochmutes lautet: Man muß den anderen soweit herabziehen, daß man selbst darüber hinausschauen kann. Das ist der Grund, warum zumeist sogenannte „Minderwertigkeitskomplexe“ ganz unvermeintlich auf eingewurzelten Stolz zurückzuführen sind.

Dabei ist der Stolz sehr verschieden von dem rechtmäßigen Verlangen nach großen Dingen. Ja, es gibt auch ein berechtigtes Verlangen nach dem Großen. Dieses wird von der Tugend der Hochherzigkeit geübt. Der hochherzige Soldat darf und muß den Sieg für sein Vaterland wünschen, ohne daß er damit gleich dem Stolz verfiele. Während der Stolz maßlos nach Auszeichnung, Beachtung und Wertschätzung verlangt, weiht sich der Hochherzige einer großen Sache, die zwar höher ist als er und seine Kräfte übersteigt. Aber er willigt im voraus in alle Demütigungen und Erniedrigungen ein, um zu erreichen, was für ihn die Erfüllung einer großen Pflicht ist. Diese Hochherzigkeit sehen wir auch oft an den großen Heiligen, wie etwa am hl. Papst Pius X., dem hl. Ambrosius oder dem hl. Martin v. Tour, welche hohe Ämter nicht aus Selbstgefälligkeit angestrebt, sondern aus schuldiger Pflichterfüllung angenommen haben. So leuchtet auch das Urbild der Hochherzigkeit, nämlich der in Seiner geschundenen Menschheit gekreuzigte Christus, als das strahlende Gegenbild des Stolzes auf.

Christus selbst hat den Stolz verglichen mit einer Binde über den Augen des Geistes, woraus Verblendung und Herzenshärte erwachsen. In den Dialogen sprach der Heiland zur hl. Katharina von Siena: „O fluchwürdiger Stolz, der sich gründet auf die Eigenliebe, wie blendest du den Verstand derer, in denen du herrschest! Sie meinen sich zu lieben mit einer Zartheit ohnegleichen und erkennen nicht, wie grausam sie gegen sich selbst sind. … Sie sind blind für ihre Armut und Niedrigkeit. … Sie glauben zu sehen, aber sie sind blind; denn sie erkennen weder sich noch Mich.“

Weil der Stolz wesentlich in der Unwahrhaftigkeit besteht, hindert er uns an der Erkenntnis der Wahrheit im Allgemeinen; vor allem aber jener Wahrheit, die sich auf die Größe Gottes und auf die Auszeichnung jener Menschen bezieht, die uns übertreffen. Der Stolz läßt es entweder nicht zu, daß wir uns von Gott oder von überlegenen Menschen bereitwillig unterweisen lassen, oder er bringt uns wenigstens dazu, eine Weisung erst nach Auseinandersetzungen anzunehmen. Er läßt uns sodann darauf vergessen, von Gott Licht zu erbitten, der darum den Hochmütigen Seine Wahrheit verbirgt; genauso wie sich der Herr vor jenen, die im Tempel Steine gegen Ihn aufhoben, verborgen hat. Das ist die schlimmste und gefährlichste Folge des Stolzes: Er hält uns ab von der liebenden Erkenntnis der göttlichen Wahrheit, zu der nur die Demut bereit macht. Darum sprach Christus zu Seinem himmlischen Vater: „Ich danke dir, Vater, daß Du dies den Weisen und Klugen verborgen und den Kleinen geoffenbart hast“ (Mt. 11, 25). Wohlgemerkt! Mit den Weisen und Klugen sind hier nicht die Akademiker und Gelehrten gemeint, sondern jeder Mensch, der meint selbst „weise“ zu sein, auch wenn er sich nie so nennen würde. D.h. jeder Mensch, der meint keiner Belehrung zu bedürfen; der alles selber weiß und nicht nötig hat, zu fragen; der sich deshalb auch von niemandem etwas sagen läßt und im Vertrauen auf seine eigenen Kräfte sein Leben „meistert“.

Die Grade des Stolzes

Freilich, nur selten läßt sich der Mensch durch den höchsten Grad des Stolzes soweit verblenden, daß er das Dasein Gottes leugnet, wobei die steigende Zahl der Atheisten ein mahnendes Zeichen dafür ist, wie weit die totale Verblendung durch den ausgewachsenen Stolz in unserer heutigen Gesellschaft schon fortgeschritten ist. Bis zur Leugnung Gottes geht nicht einmal der Teufel! Dafür ist er viel zu intelligent, um dem Unsinn des Atheismus zu verfallen. Das überläßt er lieber seinen dummen Handlangern, die er lenkt. Die Sünde Luzifers bestand ja nicht in der Leugnung Gottes, des offensichtlich Seienden, sondern in der hartnäckigen Weigerung, sich Gott zu unterwerfen. Der Schlachtruf der Hölle lautete nicht „Es gibt keinen Gott“, sondern „Ich will nicht dienen!“

Wenngleich sich der Stolz des Atheismus bei den wenigsten findet, so sind uns doch die „vier Grade des Stolzes“, in welche der hl. Papst Gregor der Große den Hochmut einteilt, sehr vertraut: 1. Glauben, man habe durch sich selbst, was man doch in Wirklichkeit von Gott empfangen hat. – 2. Gauben, man habe sich verdient, was man in Wirklichkeit als Gnade empfangen hat. – 3. Sich etwas Gutes zuschreiben, was man in Wirklichkeit gar nicht hat, z.B. hohe Wissenschaft, die man nicht besitzt; Leistungen, die man nicht oder nicht in dem hohen Maß erbracht hat; oder Tugendhaftigkeit, obwohl man es nur gelegentlich schafft, sich zu überwinden. – Und schließlich äußert sich der Stolz auf dem 4. Grad in dem Verlangen, anderen Menschen vorgezogen zu werden, und diese gering zu schätzen.

In der Theorie erkennen wir wohl an, daß Gott unser oberster Herr ist, daß Er allein groß ist und wir Ihm Gehorsam schulden. Aber in der Wirklichkeit des Lebens lassen wir uns hinreißen, daß wir uns selbst maßlos hochschätzen, als hätten wir uns unsere Vorzüge selbst gegeben. Zuweilen gefallen wir uns darin und vergessen dabei komplett unsere Abhängigkeit vom göttlichen Urheber alles Guten, sowohl im Bereich der Natur als auch der Übernatur. – Aus der Selbstgefälligkeit und Selbstsicherheit folgt sodann die Übertreibung der eigenen Fähigkeiten und gleichzeitig, damit im Verhältnis stehend, die Blindheit für die eigenen Fehler. Nicht selten hält man sich das, was in Wirklichkeit eine Verirrung des Geistes ist, als etwas Gutes vor. Man glaubt etwa z.B. weitherzig und unkompliziert zu sein, weil man es mit den täglichen Pflichten und der Pünktlichkeit locker und wenig genau nimmt; und vergißt dabei, daß man zunächst in den kleinen Dingen treu sein muß, um in den großen, herausragenden Angelegenheiten treu sein zu können. Denn der Tag besteht aus Stunden, die Stunde aus Minuten, die Minute aus Sekunden. – So kommt man dann schließlich dazu, sich selbst zu Unrecht den anderen vorzuziehen. Mehr noch! Sie herabzusetzen. Sich für besser zu halten als andere. Sich besser zu halten als jene, die uns in Wirklichkeit überlegen sind. Das ist bereits Verblendung. Die Sünden des Stolzes sind zwar oft läßlicher Art, können aber Todsünden werden, wenn sie uns zu schwerwiegenden Gedanken, Worten oder Handlungen führen.

Auch der hl. Bernhard von Clairvaux zählt gleicherweise in gesteigerter Reihenfolge die Äußerungen des Stolzes auf und gibt uns damit einen etwas anschaulicheren Eindruck von den mannigfaltigen Erscheinungsformen des Hochmutes: Neugier; Leichtsinn; törichte und unangebrachte Freude; Prahlerei; auffälliges, herausstechendes Benehmen; Anmaßung im Urteil und im Verhalten gegen andere; Vermessenheit; sein Unrecht nicht eingestehen wollen; seine Fehler in der Beichte verheimlichen; Auflehnung; Zügellosigkeit; Gewöhnung an die Sünde bis zur Verachtung Gottes.

Während der Demütige wie ein Bettler weiß, daß er aus sich selbst nichts hat, sondern alles der Güte und dem Erbarmen Gottes verdankt und es deshalb, nach weiteren Gnadenerweisen hungernd, nötig hat auf Knien zu beten, ist der Stolze gewissermaßen gesättigt von sich selbst. Genau das hält der hl. Paulus den Korinthern vor: „Ihr seid schon gesättigt!“ (1. Kor. 4, 8). Und auch die allerseligste Jungfrau und Gottesmutter Maria erklärt in ihrem Magnifikat: „Die Hungrigen erfüllt Er mit Gaben. Die Reichen läßt Er leer ausgehen“ (Lk. 1, 53). Satt an sich selbst, scheint der Hochmütige sonst nichts zu bedürfen. Er vernachlässigt das Gebet und ist nicht mehr geöffnet für die Aufnahme des höheren Lichtes, das ihm durch das Gebet von Gott her zuteil werden würde. Wenn jemand voll ist von sich selbst, wie könnte er dann die höheren Gaben empfangen, die der Herr ihm gewähren möchte.

Daran wird deutlich, daß der Hochmut auch bei denen, die tatsächlich besser sind als andere, die tatsächlich aus der Masse herausragen, die sich tatsächlich anderen gegenüber im Recht befinden, ein furchtbares Hindernis für die Vereinigung mit Gott ist. Nicht weil sie besser sind. Nicht weil sie recht haben. Sondern weil sie sich darin selbst gefallen! Die Selbstgefälligkeit, das „Licht der eigenen Vorzüglichkeit“ blendet uns und beraubt uns vieler Gnaden und Verdienste. Denn: „Gott widersteht den Stolzen, den Demütigen aber gibt Er Seine Gnade“ (Jak. 4, 6).

Ja, der Stolz treibt ganz unmerklich seine zersetzenden Wurzeln sogar bis in die lobenswertesten Werke der Frömmigkeit hinein. Der hl. Johannes vom Kreuz sagt vom Stolz derer, die sich im geistlichen Leben noch im Anfangsstadium befinden, folgendes: „Da sie noch unvollkommen sind, so erwacht in ihnen infolge ihres [frommen] Eifers und Wohlergehens gar oft eine gewisse Art verborgenen Hochmutes. So fallen sie der Versuchung zum Opfer, an ihren [frommen] Werken und an sich selbst ein Genüge zu finden. Daraus erwächst ein etwas eitles, manchmal auch sehr eitles Verlangen, vor anderen über geistliche Dinge zu reden. Sie wollen oft lieber andere belehren, als wie selber Belehrung annehmen, und verurteilen in ihrem Herzen andere, wenn sie diese nicht auf solche Weise die Andacht üben sehen, wie sie selbst es wünschen. Mitunter sprechen sie sich auch darüber aus, wie jener Pharisäer, der sich im Gebet vor Gott seiner Werke rühmte und mit Verachtung auf den Zöllner herabschaute (Lk. 18, 11 f.). … Sie sehen nur den Splitter im Auge ihres Bruders und nicht den Balken in ihrem eigenen Auge. Wenn ihre geistlichen Führer, nämlich Beichtväter und Vorgesetzte, ihren Geist und ihre Handlungsweise nicht billigen, so verstehen dieselben nach ihrer Ansicht ihren Geist nicht und sind nicht tugendhaft. … Zuweilen wünschen sie, andere möchten ihren Andachtsgeist wahrnehmen. Zu diesem Zweck machen sie sich durch Bewegungen, Seufzer und andere auffällige Formen nach außen bemerkbar. Viele wollen bei den Beichtvätern besonders in Gunst und Gnade stehen, woraus viele Eifersüchteleien und Zwistigkeiten entstehen. Dies hindert sie, ihre Sünden offen zu bekennen, und sie beschönigen dieselben, damit sie nicht so schlimm erscheinen. Zuweilen suchen sie einen anderen Beichtvater auf, dem sie ihre schlimmen Taten eingestehen, damit ihr eigner ja nicht auf den Gedanken komme, sie hätten Schlimmes, sondern nur Gutes getan. … Andere Anfänger geraten in heftigen Unwillen, was die Folge ihres geistlichen Stolzes ist, und werden übermäßig betrübt, sehen zu müssen, daß sie in diese Fehler fallen. Sie glauben, schon heilig zu sein, und geraten so in heftigen Unwillen und Ärger über sich selbst, was wieder zu einer anderen Unvollkommenheit führt“ (Dunkle Nacht 1, 1).

Die Früchte des Stolzes

Die hauptsächlichen Fehler, die aus dem so eingewurzelten Stolz entstehen, sind 1. die Vermessenheit, 2. der Ehrgeiz und 3. die eitle Ruhmsucht. – Die Vermessenheit besteht in dem Verlangen und der ungeordneten Hoffnung, Dinge zu tun, die über die eigenen Kräfte hinausgehen. Man glaubt fähig zu sein, die schwierigsten Probleme lösen zu können; auf die dunkelsten Fragen Antworten zu wissen; sei es, um vor anderen zu glänzen oder sich selbst etwas zu beweisen. – Aus der Vermessenheit entspringt sodann 2., der Ehrgeiz. Weil man seinen eigenen Kräften viel zutraut und sich anderen überlegen wähnt, will man sie beherrschen, ihnen seine eigenen Ideen aufnötigen oder sie leiten. Der hl. Thomas sagt, daß sich der Ehrgeiz dadurch kundgibt, daß er große Leistungen, nicht wegen der Ehre Gottes, und auch nicht für das Wohl der anderen, sondern um seiner selbst willen sucht (vgl. II-II q. 131, a.1 ). – Schließlich treibt der Stolz 3. ganz natürlich zur Ruhmsucht. Man will seiner selbst wegen beachtet und geschätzt sein, ohne die Ehre auf Gott darauf zu beziehen, der die Quelle alles Guten ist. Oft will man auch geachtet sein, wegen nichtiger Dinge. Sehr viele Fehler erwachsen, gleich dem Unkraut, aus derlei Eitelkeiten: Da ist die Prahlerei oder Angeberei zu nennen; die Heuchelei, die unter dem Schein äußerlicher Tugendhaftigkeit die eigenen Fehler verbirgt; die Hartnäckigkeit, die weder nachgeben noch eigene Fehler eingestehen kann; die Streitsucht oder Bitterkeit in der Verteidigung seiner Meinung; daraus entsteht die Zwietracht; auch der Ungehorsam und die beißende, spottende Kritik an den Vorgesetzten oder Andersdenkenden. Wie wir am Beispiel des hl. Evangeliums sehen, kann sich der Stolz bis zum Gotteshaß steigern, der sich mit Steinen, Fäusten und Geschrei gegen Gott ins Recht zu setzen sucht.

Die Heilung des Stolzes

Stellt sich nach dieser Darstellung schließlich die dringende Frage nach den Heilmitteln. Welche Heilmittel gibt es gegen den Stolz? Wie sind sie zur Anwendung zu bringen?

Das große Heilmittel gegen den Stolz besteht darin, die Größe Gottes und dementsprechend die eigene Niedrigkeit wirklich anzuerkennen, so, wie der hl. Erzengel Michael es ausdrückt: „Quis ut Deus? Wer ist wie Gott?“ In diese Frage ist natürlich bereits die Antwort mit eingeschlossen: „Niemand! Niemand ist wie Gott!“ Gott allein ist groß! Er ist die Quelle alles Guten. Alles andere ist völlig von Ihm abhängig. Auch ich. Ohne ihn bin ich nichts! – Man muß Geist und Verstand durchtränken von dieser Wahrheit unserer vollständigen Abhängigkeit von Gott. Christus, der die Wahrheit ist, übertreibt nicht, wenn Er sagt: „Ohne mich könnt ihr nichts tun“ (Joh. 4, 5). Daraus folgt, daß wir angesichts unserer tatsächlichen Erfolge und Verdienste nie vergessen dürfen, wer uns dazu befähigt hat: „Was hast du, daß du es nicht empfangen hättest? Hast du es aber empfangen, warum rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen?“ (1. Kor. 4,7). Und wenn wir im Vergleich mit anderen tatsächlich herausragen und uns als überlegen erwiesen haben, dann beherzigen wir, was der hl. Thomas erklärt: „Da die Liebe Gottes die Ursache alles Guten in den Dingen ist, so wäre kein Ding besser als ein anderes, wenn Gott nicht wollte, daß das eine besser wäre als das andere“ (I q. 20, a. 3).

Das Heilmittel gegen den Stolz besteht also darin, daß wir uns sagen: Ich bin nichts aus mir selbst. Nur Gott ist der Seiende; der „Ich bin der: ‚Ich bin‘“. Nur Er ist, weil Er ist. Ich hingegen bin nur durch die ungeschuldete Liebe Gottes, was ich bin. Gott erhält uns aus freien Stücken im Dasein, sonst würden wir ins Nichts zurückfallen. Dabei kommt es jedoch vor allem darauf an, daß diese Überzeugung nicht bloße Theorie bleibt. Sie muß sich in die Tat umsetzen und unser Handeln beseelen. Dann werden wir offen für das Licht von oben. Dann erst haben wir die Binde der Selbsttäuschung abgelegt und sind sehend geworden für die Wahrheit. Wer sich selbst erkennt, wird gering in seinen Augen, und hat kein Gefallen am Lob der Menschen.

Um zu der Hochschätzung der Größe Gottes und zur demütigen Selbsterkenntnis zu gelangen, bedarf es einer tiefgehenden Reinigung, die wir aus eigener Kraft gar nicht leisten können. Gott selbst muß an uns Hand anlegen, indem Er uns durch die Bitterkeit vieler Demütigungen mit unserer eigenen Gebrechlichkeit, unserer Unzulänglichkeit und unserem Elend konfrontiert; damit wir unser Unvermögen immer klar vor Augen sehen. Nur durch viele Demütigungen können wir nach und nach wirklich demütig werden. Die Heilmittel gegen den Hochmut sind also auch alle Widerwärtigkeiten, Opfer und Kreuze, die uns durch Gottes weise Vorsehung auferlegt werden. So sollen wir lernen mit König David zu beten: „Ich danke dir, mein Gott daß Du mich gedemütigt hast, damit ich lerne, was Du mir geboten“ (Ps. 118, 71).

Üben wir also die Demut, indem wir Demütigungen annehmen und uns nicht gegen sie Aufbäumen. Mißtrauen wir dem eigenen Urteil. Seien wir gelehrig, erst recht gegenüber wohlwollender Kritik. Hüten wir uns vor hochmütigem Widerspruchsgeist. Und vor allem: Sinken wir auf die Knie nieder und beten wir eindringlich: Verbirg dich nicht vor mir, wie Du dich damals im Tempel vor Deinen Feinden verborgen hast. Bewahre mich davor, daß ich in Verblendung gerate. Laß nicht zu, daß ich Dir im Stolz trotze, Steine wider Dich und Deine Kirche erhebe und mit dem Geschrei meiner Selbstbehauptung Deine erneute Kreuzigung fordere. Nimm stattdessen die Binde der Selbsttäuschung von den Augen meines Geistes, damit ich wie Abraham immerwährend Deinen Tag, den Tag der katholischen Wahrheit, sehe und mich mit Abraham, dem „Vater der Gläubigen“, daran freue. „Denn Du allein bist der Heilige. Du allein der Herr. Du allein der Höchste, Jesus Christus, mit dem Heiligen Geiste, in der Herrlichkeit Gottes des Vaters.“ Amen.

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