„Siehe, Ich stehe vor der Türe und klopfe an.“

Geliebte Gottes!

Bei den großen Kathedralen der ausgehenden Romanik und insbesondere der Gotik findet sich hoch über dem Eingangsportal in der Regel ein Tympanon, d. h. ein großes Schmuckrelief, in dem oft das Weltgericht dargestellt ist. Da sieht man den göttlichen Erlöser als Richter auf Seinem Thron sitzen. Zu Seiner Rechten finden sich die Auserwählten, zu Seiner Linken die Verworfenen. Dieses Bild sollte die Besucher der Kirche daran erinnern, wohin sie sich begeben. Sie begeben sich in das Haus dessen, der ihr Richter sein wird. Und es soll die Besucher der Kirche mahnen, dessen eingedenk zu sein, wie man sich im Hause Gottes, an der Stätte, wo Gott wahrhaft zugegen ist, betragen soll. „Servite Domino in timore et exsultate ei cum tremore.“, so singt der Psalmist: „Dienet dem Herrn in Furcht und jauchzet Ihm zu in Zittern.“ (Ps. 2,11). Genau das ist die Haltung, die dem Christen geziemt: Gott loben, aber mit ehrerbietigem Zittern und mit heiliger Furcht.

Der Gedanke an das Weltgericht soll uns aber nicht nur ins Gotteshaus begleiten. Der Gedanke an den Ernst dieses Lebens im Hinblick auf die Rechenschaftsabgabe an seinem Ende soll uns durch das ganze religiöse Leben vor Augen stehen. Deshalb hat uns die Kirche am ersten Sonntag im Advent, gleichsam über das Portal des neuen Kirchenjahres, das Bild vom Jüngsten Gericht eingemeißelt.

„Ich stehe vor der Türe und klopfe an.“

Die Gewißheit der Wiederkunft des Herrn soll uns diese Adventszeit richtig begehen lassen, denn wenn wir den Weltenrichter in rechter Weise fürchten, dann können wir uns auch freudig auf die Ankunft des Welterlösers vorbereiten. Denn was der Herr in der Geheimen Offenbarung den Christen der Gemeinde von Laodicea schreiben ließ, das gilt auch uns: „Siehe, Ich stehe vor der Türe und klopfe an. Wenn jemand Meine Stimme hört und Mir die Türe auftut, zu dem werde Ich eingehen und mit ihm Abendmahl halten und er mit Mir.“ (3,20).

Der Heiland klopft an die Türe. Er klopft an die Türe der Welt. Er klopft zur Warnung durch allerlei Katastrophen, die von den Naturgewalten verursacht sind: durch Erdbeben, Überschwemmungen, Verwüstungen durch Sturmwinde, aber auch durch menschengemachte Erschütterungen wie Kriege, Mißwirtschaft, soziale Unruhen, Hungersnöte und Epidemien. Das sind laute Schläge, die uns an das Nahen der letzten Katastrophe erinnern.

Christus klopft jedoch nicht nur an die Tür der Welt, Er klopft an die Tür einer jeden Seele. Er klopft täglich sanft durch jede Regung des Gewissens, durch jede Anregung zum Guten, durch jede Warnung vor dem Bösen. Heftiger wird sein Klopfen, je näher der „Tag des Herrn“ herangerückt ist. Der hl. Papst Gregor d. Gr. sagt: „Der Herr kommt, wenn Er sich anschickt, Gericht zu halten. Er klopft an, wenn Er durch schmerzliche Krankheiten die Nähe des Todes anzeigt.“

Die meisten Menschen aber hören weder das eine noch das andere Anklopfen des Herrn. Sie vermögen weder aus den Zeichen der Zeit um sich herum noch aus den Schickungen ihres Lebens die Vergänglichkeit der irdischen Freuden noch den Ernst der unwiederbringlichen Lebenszeit zu erfassen. Dabei mag es sich bei ihnen um aktive Menschen handeln; um kreative Menschen, überaus tüchtige, tatkräftige, fleißige, ja vielleicht sogar rastlose Menschen. Äußerlich erscheinen sie als überaus wach und rührig. Aber ihre Seele ist längst in einen tiefen Dornröschenschlaf gefallen.

Die Seele schläft, wenn sie nie oder nur ganz selten an Gott denkt, auf das Gebet und die religiösen Übungen vergißt und ganz eingenommen ist vom irdischen Treiben. Das Auge der Seele ist geschlossen. Es sieht nicht einmal die eigene Seele in ihrem wirklichen Zustand. Wie notwendig wäre es, einmal eine genaue und ehrliche Bestandsaufnahme in seinem Inneren zu halten. Wie notwendig wäre es, sich jeden Abend Rechenschaft über den verflossenen Tag zu geben. Wie notwendig wäre es, wenigstens vor der Beichte etwas genauer ins Herz zu blicken und sich nicht bloß oberflächlich zu erforschen. Aber dieses Auge der schlafenden Seele ist geschlossen. – Gerade deshalb scheint das Auge ihres Leibes umso wacher und umso weiter geöffnet zu sein. Über andere Personen hat so mancher nämlich die gründlichste Kenntnis. Er weiß zahlreiche Punkte an ihnen zu tadeln und zu bemängeln, nur die eigene Seele ist ihm ein verschleiertes Traumbild, von dem er kaum die gröbsten Umrisse wahrnimmt. Der Herr umschrieb diesen Schlaf mit dem Bild des Splitters im Auge des Nächsten, den man sieht, ohne den Balken im eigenen Auge wahrzunehmen.

Wie einen tief Schlafenden weder die Schläge der Uhr noch das Brausen des Windes zu wecken vermögen, so ist auch bei vielen das geistige Ohr abgestumpft. Es ist taub für noch so gutgemeinte Worte, Mahnungen und Ratschläge. Sie fühlen sich dadurch persönlich nicht angesprochen: „Mich betrifft das nicht“, sagen sie, „aber die anderen, die sollten sich diese Mahnung – oder diesen Rat – doch sehr zu Herzen nehmen, um sich endlich einmal zu bessern.“

Ein solcher Schlaf der Seele besitzt im Gegensatz zum Schlaf des Leibes keine regenerative Kraft. Er ist kein Gewinn, sondern – im Gegenteil – ein unermeßliches Verhängnis.

Das Horn des Wächters

Gegen eine solche Schläfrigkeit eifert der hl. Apostel Paulus in der heutigen Epistel. Wie das Horn des Wächters die Schläfer aus ihren Träumen reißt, so haben diese wenigen Worte aus dem Römerbrief schon so manchen aus dem Sündenschlaf aufzuwecken vermocht.

So geschehen im Sommer des Jahres 386. Da hatte ein junger Mann auf einem Landgut in der Nähe von Mailand schwere sittliche Kämpfe auszufechten. Er wurde hin und her gerissen von der Wut seiner fleischlichen Begierden, aus deren Umklammerung er sich einfach nicht zu lösen vermochte. Er klagte laut: „Wie lange noch, wie lange noch wird es heißen: Morgen und immer wieder morgen werde ich mit meinem sündhaften Leben brechen?“ Da aber trug der Wind mit einem Mal die Stimme eines Kindes an sein Ohr: „Nimm und lies! Nimm und lies!“ Von der Gnade gedrängt konnte der junge Mann nicht anders, als zu glauben, daß eine Stimme vom Himmel sein Ohr getroffen hatte. Er eilte ins Gartenhaus und schlug dort in der Heiligen Schrift aufs Geratewohl die Briefe des Völkerapostels auf. Sein Auge fiel auf die Worte der heutigen Epistel: „Nicht in Schwelgereien und Trinkgelagen, nicht in Unzucht und Ausschweifung, nicht in Zank und Eifersucht. Vielmehr ziehet an den Herrn Jesus Christus.“ In diesen Worten fand der junge Augustinus die sittliche Kraft, sich zu ermannen und den längst eingesehenen Weg, den ihm der katholische Glaube wies, auch wirklich in die Tat umzusetzen. Er erwachte aus dem Schlaf seiner Betäubung, brach mit seinen Lastern, bekehrte sich und ließ sich taufen.

Wie die Worte des hl. Apostels Paulus dem irrenden Augustinus zum Weckruf geworden sind, so sollen sie auch in uns einen wahren Adventseifer entfachen.

„Die Nacht ist vorgerückt.“

Der Völkerapostel ruft den Christen zu: „Aufstehen! Aufstehen!“ „Brüder, ihr wißt, die Stunde ist da, vom Schlafe aufzustehen.“ Und er begründet diese Mahnung, indem er hinzufügt: „Jetzt ist unser Heil näher als damals, da wir zum Glauben kamen. Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber hat sich genaht.“

„Die Nacht“ ist jene Zeitlichkeit, welche in die Finsternisse der Unwissenheit und der Sünde getaucht ist. Der Tag, das ist der „Tag des Herrn“, der Tag Seiner Ankunft zum persönlichen Gericht in der Todesstunde. Das nämlich wird das erste Aufleuchten des ewigen Tages, des zukünftigen Lebens sein.

Der Apostel drängt uns dabei zur Eile. „Die Stunde ist da!“ Es gilt, jetzt keine Zeit mehr zu verlieren. Warum denn? Weil die Nacht unseres irdischen Lebens vorgerückt ist. Mit jedem Jahr, mit jeder Woche, mit jedem Tag nähern wir uns dem ewigen Ziel. Vielleicht sind wir ihm schon ganz nahe. Da haben wir keine Zeit mehr zu verlieren, sondern sollen die Tage des Advents so benützen, als würde der Herr schon am strahlenden Weihnachtstag wiederkommen, um uns vor Sein Gericht zu rufen. Der hl. Johannes Chrysostomus sagt: „Wenn das Ziel näher ist, müssen wir uns eifriger zum Kampfe anstacheln, wie die, welche um einen Siegespreis [in der Rennbahn] laufen, wenn sie sich dem Ziele nahen.“ Und in der Tat versuchen die Athleten, wenn sie auf die Zielgerade einbiegen, noch einmal alle verbliebenen Kraftreserven zu mobilisieren und mit äußerster Anstrengung das Letzte aus sich herauszuholen, um als Sieger die Ziellinie zu überqueren.

Die Worte „die Nacht ist vorgerückt“ können aber auch in einem anderen Sinne aufgefaßt werden. Die Nacht kann nicht nur die vergängliche Lebenszeit bedeuten, sondern auch das vorrückende Laster. In der Tat, wie sehr ist nicht das Laster in den letzten Jahren und Jahrzehnten auf dem Vormarsch gewesen! Worüber man früher aus Scham nicht einmal zu reden gewagt hätte, wird heute den Kindern gelehrt. Die schändlichsten Begierden, denen man früher nur im Verborgenen nachgehen konnte, weil das Gesetz sie ahndete, werden heute auf offener Straße gefeiert, als wäre es eine Tugend. Ja, die Nacht ist vorgerückt! Scheinbar unaufhaltsam scheint sie alles zu verschlingen: die Unschuld der Kinder, die Reinheit der Jugend, die Heiligkeit der Ehe, die Würde des Alters. Nichts wäre verderblicher, als Tatsachen um sich herum zu verkennen! Gebe Gott, daß wir nicht feststellen müssen, daß das Vorrücken der Sünde auch unser Leben erfaßt und verfinstert hat. Wenn es so wäre, dann muß dieser Advent unbedingt eine Zeit des Gegensteuerns sein, eine Zeit der Erleuchtung und Reinigung. „Der Tag hat sich genaht.“ Das Licht der Gnade muß in der Seele wieder zum Leuchten gebracht werden. Das göttliche Licht ist uns ja immer nahe. „Ich bin das Licht der Welt“, sagt der Heiland, „wer Mir nachfolgt, der wandelt nicht in Finsternis.“ Wie aber können wir uns von dem Lichte Christi, das alle Finsternis vertreibt, erleuchten lassen? Drei Dinge nennt der Völkerapostel:

  1. „Laßt uns ablegen die Werke der Finsternis!“
  2. „Laßt uns anlegen die Waffen des Lichtes.“ Und
  3. „Ziehet an den Herrn Jesus Christus.“

„Laßt uns ablegen die Werke der Finsternis!“

Mit den „Werken der Finsternis“, welche abzulegen sind, sind freilich die Sünden gemeint; die Sünde und die Gelegenheit zur Sünde. Denn wer die Gefahr, die Gelegenheit zur Sünde liebt, der liebt auch die Finsternis. Augustinus hat, als der Weckruf des Apostels an ihn ergangen war, entschieden und ohne Rücksicht auf die eigenen Befindlichkeiten mit alledem gebrochen, was ihm vorher die Sünde süß gemacht hatte. Er hatte der Genossin seiner Sünde den Abschied gegeben, auch wenn ihm dabei das Herz zerrissen ist. So nur konnte er auf den Weg des Lichtes Jesu Christi eingehen. So nur konnte er darauf bleiben. So nur konnte er darauf vorwärtskommen.

Die meisten Menschen unterschätzen die Sünde. Manche halten Todsünden für Kleinigkeiten. Andere erkennen nicht, wie sehr auch läßliche Sünden von Gott mißbilligt und verabscheut werden. Wieder andere erkennen zwar ihre kleinen und großen Fehler an, aber sie entschuldigen ihre Sünde als bloß menschliche Schwäche, als ein notwendiges Zugeständnis an die gebrechliche Natur. – Die schier grenzenlose Nachsicht gegenüber der Sünde, welche man überall antrifft, ist die Hauptursache für ihren Vormarsch, für ihre Ausbreitung, für die zunehmende Gleichgültigkeit angesichts der gräßlichsten Verfehlungen.

Der Apostel zählt in der heutigen Epistel bei weitem nicht alle Sünden auf. Er nennt gerade einmal die drei schlimmsten und verderblichsten Gruppen:

Die erste ist die Unmäßigkeit. Mit ihr fängt das Unglück gewöhnlich an. Man will und kann sich nichts versagen, auf nichts verzichten. „Ja, morgen will man sich einschränken“, sagt man, und außerdem sei ja keine strenge Fastenzeit. Angesichts der vielen Leckereien auf Weihnachtsmärkten oder Weihnachtsfeiern, angesichts des schlechten Vorbilds einer zügellosen und genußsüchtigen Gesellschaft, ist das freilich ein nachvollziehbarer Gedankengang. Man gibt dem Drängen des Gaumens nach und gibt sich der Eß- und Trinklust hin. Gewiß ist es keine Sünde, sich auch im Advent den einen oder anderen Genuß zu gönnen, solange es nicht in „Schmausereien und Trinkgelagen“ ausartet, aber nichtsdestotrotz ist die Unfähigkeit, sich einen Verzicht im Genuß aufzuerlegen, ein Anzeichen für eine gefährliche Willensschwäche. Es ist eher ein Anzeichen für das „Vorrücken der Nacht“ in einer Seele anstatt des „herannahenden Tages“ der Herrschaft Christi in diesem Menschen. Der hl. Laurentius Justiniani sagt: „Die Seele des Genußsüchtigen ist unfähig, sich von der Erde zu erheben und das Himmlische zu betrachten. Sie ist wie begraben und verfault in der Niedrigkeit der Materie. Sie empfindet Abneigung und Ekel gegen geistige und himmlische Dinge. Sie findet sie fad und widerlich.“ In der Tat rühren die Unlust zum Gebet und das Empfinden von Langeweile im Hinblick auf geistliche Dinge nicht selten von einem Mangel an Abtötung im Bereich der sinnlichen Freuden her. Da wird dann selbst das kürzeste Gebet zur öden Langeweile und auch jede sittliche Anstrengung im Streben nach geistlichen Dingen zu einer unmöglichen Zumutung.

Das Zweite, wovor der Völkerapostel inständig warnt, ist die Unkeuschheit. Zu Recht! Auch sie und vor allem sie ist ein Werk der Finsternis. Sie ist die verderbenbringende Hefe, der unheilschwangere Bodensatz. Wo sie hinkommt, da zieht die Finsternis in eine Seele ein. Sie verdirbt die Phantasie. Sie verdirbt das Denken. Sie verdirbt den Blick auf die körperliche Erscheinung des Nächsten. Sie verdirbt das Reden und Lachen. Sie lockt zur Wiederholung der unreinen Tat. Sie verfinstert den Verstand, trübt das Urteil und tötet das gesunde Empfinden. Und was kaum bedacht wird: Sie nistet sich nahezu unausrottbar in das Gedächtnis eines Menschen ein, von wo aus sie wie ein verborgener Eiterherd ihre Anschläge in Form von wiederkehrenden Erinnerungen an verderbliche Eindrücke fortsetzt und den Menschen versklavt. „Unzucht und Ausschweifung“ sind die furchtbarsten aller Massenmörder! Denn nach der Meinung des hl. Alfons ergeht über die meisten der Verworfenen das Verdammungsurteil wegen dieser Laster.

Als Drittes geißelt der hl. Paulus mit „Zank und Eifersucht“ die Verfehlungen gegen die Liebe. Auch diese Sünden sind zahlreich und werden meist in ihrer Schwere unterschätzt. – Welche Tugend, welcher Fleiß, welcher Erfolg, welches Glück, welche Selbstaufopferung wäre so erhaben, daß sich die Lieblosigkeit nicht in Form von Neid und Zwistigkeit daran vergriffen hätte? Der Dichter sagt: „Die Welt liebt es, das Strahlende zu schwärzen und das Erhabene in den Staub zu ziehen.“ Ja, die Welt liebt es, das Strahlende, das Heilige, das Tugendhafte, das Lobenswerte zu schwärzen und das Erhabene in den Schmutz zu ziehen. D. h., wer das Gute in der Absicht oder in den Taten des Nächsten undankbar geringschätzt, grundlos beargwöhnt oder gar durch freventliches Urteil und verleumderische Rede ins Gegenteil verkehrt, wer also das Gute wie einen Schaden hinstellt, der gehört „der Welt“ an. Die „Nacht der Lieblosigkeit“ hält ihn nicht nur umfangen, sondern ist in seiner finsteren Seele weiter auf dem Vormarsch.

Die Lieblosigkeit wirkt sich verheerend aus! Sie ist ein Spaltpilz von gewaltiger Sprengkraft. Sie zerrüttet die engen Bande der Familien. Sie ruiniert das eheliche Glück. Sie zerstört den häuslichen Frieden. Dabei zerreißt sie die innigste Liebe unter Geschwistern, die vertrauteste Freundschaft genauso wie den sozialen Frieden eines ganzen Staates. Sie gebiert Egoisten und Einzelgänger. Sie führt zum Klassenkampf und zum Haß auf Gott und die Kirche, zu Revolutionen und Kriegen. Deshalb spricht der Heilige Geist im Buch Jesus Sirach: „Vielerlei hasse Ich, aber nichts so sehr wie den Lieblosen!“ (Sir. 27,27).

„Laßt uns anlegen die Waffen des Lichtes.“

Nachdem wir die Werke der Finsternis abgelegt haben, fordert uns der Völkerapostel dazu auf: „Laßt uns anlegen die Waffen des Lichts.“ Wenn die „Werke der Finsternis“ die Sünden sind, dann sind die „Waffen des Lichtes“ freilich die christlichen Tugenden. Alles, was wahrhaft gut und gottgefällig ist; alles, was Gott zur höheren Ehre gereicht und in dieser Absicht gedacht, gesprochen und getan wird; all das sollen wir „anlegen“, d. h. das sollen wir uns durch wiederholte Übung aneignen. Dabei dienen gerade die dem jeweiligen Laster entgegengesetzten Tugenden, gepaart mit demütigem Gebet, als die geeignetsten Waffen, um die Finsternis der Sünde wirksam aus unserer Seele zurückzuschlagen und dauerhaft daraus fernzuhalten.

„Wie am Tag, laßt uns ehrbar wandeln!“ Wer am helllichten Tag durch die belebten Straßen und Plätze einer Stadt geht, wird sich in seinem äußeren Erscheinungsbild, ja in seinem ganzen Auftreten einer gewissen Würde befleißigen. Er wird sich bemühen, kein negativer Blickfang zu sein, sich nicht zu blamieren, sich nicht zum Gespött vor den Augen aller zu machen. So sollen wir wandeln unter dem allgegenwärtigen und allwissenden Auge Gottes, das beständig auf uns ruht. Wir sollen demütig, sanftmütig, bescheiden, rein und heiter sein; heilig in Gedanken, Worten und Werken. Wir sollen uns wahrhaft als „Kinder des Lichtes“ erweisen (vgl. Eph. 5,8).

Aber die „Waffen des Lichts“ sind noch nicht hinreichend. Wenn wir die „Werke der Finsternis“, wie die schwarzen Gewänder des Fluches und des Verderbens, abgelegt haben, so können bloße Waffen unsere Schwäche nicht hinreichend decken, geschweige denn unsere ganze Erbärmlichkeit bedecken. Zu groß bleibt die Angriffsfläche für die Welt. Deshalb die dritte Forderung des hl. Paulus, die ob ihrer Wichtigkeit sogar in Befehlsform erhoben wird: „Ziehet an den Herrn Jesus Christus.“

„Ziehet an den Herrn Jesus Christus.“

Christus anziehen, was ist das? Es ist alles, worauf es ankommt! Wir sollen uns beständig am Ideal Christi messen, uns nach seinem Vorbild korrigieren und umbilden. Wir sollen ein Ebenbild Christi werden.

Christus anziehen heißt, sich in Ihn durch den Stand der heiligmachenden Gnade hineinleben und hineinbilden, bis wir Ihm durch die Einwirkung der sieben Gaben des Heiligen Geistes vollkommen ähnlich, bis wir gleichsam zu einer zweiten Menschennatur für Ihn geworden sind, derer Er sich bedienen kann, wie Er will. Wenn wir bis zu dieser höchsten Vereinigung mit Christus gelangen wollen, dann müssen wir vor allem eines tun: Wir müssen uns ganz hingeben!

Die Selbsthingabe ist ein Bedürfnis der Liebe. Sie ist ihr vollkommenster Akt. Die Liebe will sich an den Geliebten ganz verschenken, will sich im geliebten Wesen verlieren. Sie findet sich am vollkommensten vorgebildet in der innergöttlichen Liebe der drei göttlichen Personen zueinander. Gott findet sein unendliches Glück in der Zeugung des ewigen Sohnes, dem Er sich so vollumfänglich mitteilt, sodaß der Sohn das getreueste Ebenbild der unendlichen Vollkommenheit des Vaters ist und sich Vater und Sohn im Liebeshauch, dem Heiligen Geist, restlos füreinander verströmen. Die drei göttlichen Personen sind so vollkommen einander hingegeben, daß sie ganz in der Liebe geeint ein Gott sind. „Gott ist die Liebe.“ (1. Joh. 4,16).

Die göttliche Liebe Christi will unsere Seele in ähnlicher Weise ganz und gar erfassen und sich ihr ganz schenken. Das ist aber nur möglich, wenn wir Ihm alles darbringen: alles, was wir vermögen, alles, was wir haben, ja, alles, was wir sind. Die hl. Theresa von Avila sagt: „Gott nimmt nur, was wir Ihm geben; aber Er schenkt sich uns erst ganz, wenn wir uns Ihm ganz schenken.“ (Wege d. Vollk. 28,12). Die Heilige spricht hier ein Grundgesetz des geistlichen Lebens aus: Gott nimmt nur so viel von uns, wie wir Ihm schenken. Gott zwingt niemanden! Sein Plan soll sich nicht verwirklichen ohne Zustimmung des Menschen.

Besonders deutlich wird das an der Jungfrau Maria. Gott sandte den Erzengel Gabriel, damit er Maria die ihr von der göttlichen Vorsehung zugedachte Rolle als Gottesmutter unterbreite. Erst als sie ihre völlige Selbsthingabe mit den Worten „Siehe, ich bin Magd des Herrn“ ihr freies Einverständnis bekundet hatte, sollte sich der Plan Gottes an ihr verwirklichen. Weil sich Maria Gott ganz hingegeben hat, konnte sich ihr der Sohn Gottes in ganz einzigartiger Weise schenken. Maria hat Christus in einzigartiger Weise angezogen. Wie ein Magnet das Eisen, so hat die Selbsthingabe der allerseligsten Jungfrau den Erlöser in ihren reinsten Schoß herabgezogen. Sie hat Christus erlaubt, sich ihrer ganz so zu bedienen, wie es Ihm gefällt, und so konnte es geschehen, daß Maria den Sohn Gottes mit einer Menschennatur einkleidete; daß die Person des ewigen Wortes in ihrem Schoß einen menschlichen Leib und eine menschliche Seele ganz für sich in Besitz nehmen konnte.

In ähnlicher Weise sollen wir Christus anziehen. Grundbedingung für die völlige Vereinigung mit Christus ist dabei die völlige Selbsthingabe. Und zwar eine Selbsthingabe, die der Liebeshingabe der göttlichen Personen entspricht. Diese war von Ewigkeit verborgen in Gott. Aber durch die Menschwerdung Christi ist die Hingabe des Sohnes an den himmlischen Vater vor uns sichtbar geworden. Sie ist sichtbar geworden zu dem Zweck, daß wir die Hingabe Christi an den Vater nachahmen.

Wie war nun die Hingabe Jesu an den Vater im Himmel beschaffen? – Dem hl. Paulus wurde die erste Regung der Seele Christi unmittelbar nach Seiner Menschwerdung im Schoße Mariens offenbart. Im Hebräerbrief hat er diese Offenbarung niedergeschrieben: „Christus spricht bei Seinem Eintritt in die Welt: ‚Schlacht- und Speiseopfer hast Du nicht gewollt, doch einen Leib hast Du Mir bereitet. An Brand- und Sündopfern hattest Du kein Wohlgefallen. Da sprach Ich: Siehe, Ich komme … Deinen Willen zu tun, o Gott!‘“ (Heb. 10,5-7). Die erste Tat des Menschen Jesus Christus ist, sich dem Vater als Opfer darzubringen. Diese vollständige Hingabe Seiner selbst ist ein liebendes Ja-Sagen zum Ergriffenwerden durch den Willen des Vaters, der Ihn für das Opfer am Kreuz erschaffen hat. Schon mit dieser Darbringung im Schoße Seiner unbefleckten Mutter hat der Heiland bereits Sein Opfer von Kalvaria begonnen. – Diese Darbringung ist jedoch in der Folge kein einzelner, isolierter Akt geblieben. Sie ist die dauerhafte Grundgesinnung Jesu! Seine Ganzhingabe in den Willen des Vaters ist Ihm Nahrung, wie Er selbst den Aposteln erklärt hat. Als Ihn diese nämlich nach dem Gespräch mit der Samariterin am Jakobsbrunnen zum Essen drängen wollten, sprach Er: „Ich habe eine Speise zu essen, die ihr nicht kennt. Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der Mich gesandt hat, und Sein Werk zu Ende zu führen.“ (Joh. 4,32.34). Christus zieht die für Sein Dasein notwendige Kraft – Seine ganze Existenzberechtigung – einzig aus dem Willen des Vaters und hat dabei stets die vollkommene Verwirklichung des göttlichen Willens vor Augen: Seine blutige Darbringung am Kreuz. Auf dem Weg dorthin läßt sich Jesus gänzlich vom Willen Gottes bestimmen. Er geht von selbst hierhin und dorthin, ganz wie Gott Ihn führt, zu der Stunde und in der Weise, wie es der Vater festgelegt hat: in die Wüste, auf den Tabor, zum letzten Abendmahl, nach Gethsemane und auf den Kalvarienberg. Nicht ein Jota durfte vom Willen Gottes abgewichen werden, so beflissen war Jesus, ganz auf Seinen Willen zu verzichten, sich ganz den Willen des Vaters zueigen zu machen und damit „alles zu erfüllen“ (vgl. 5,17). „Nicht wie Ich will, sondern wie Du willst!“ (Mt. 26,39), so betet Er am Ölberg. Als das Werk dann aber vollendet war, da ließ Er es alle wissen. Als Christus die letzte Prophetie in Seiner Sterblichkeit erfüllt hatte, indem Er von dem Essig kostete, da rief Er aus: „Es ist vollbracht! Und Er neigte das Haupt und gab Seinen Geist auf.“ (Joh. 19,30).

Für jeden Menschen hat Gott einen Plan. Für jeden Menschen hat Gott eine Absicht. Jeder soll Seinem göttlichen Sohn in einzigartiger Weise ähnlich werden. Kein Heiliger gleicht dem anderen und doch sind sie zur vollkommenen Vereinigung mit Jesus gelangt; alle haben „Christus angezogen“. Das kann aber – wie gesagt – nur geschehen, wenn wir uns in vollkommener Weise in den Willen Gottes fügen; wenn wir uns vollkommen in den Willen Gottes hineingeben, uns ganz für Gott verströmen. – Damit wir „Christus anziehen“, muß unsere Hingabe folgende Eigenschaften aufweisen:

  1. Unsere Selbsthingabe muß notwendigerweise absolut sein. Sie darf nichts für sich zurückhalten, darf keinerlei Vorbehalt anmelden. Noch einmal: Gott wird sich uns nur in dem Maß schenken, als wir uns Ihm zuvor ganz ausgeliefert haben.
  2. Ferner dürfen wir uns nicht in unseren Plänen, in unserer Lebensgestaltung festlegen. Gott selbst wählt für uns die konkrete Art der Verwirklichung. Ob als Kirchenlehrer wie der hl. Augustinus, als armer Bettler wie der hl. Benedikt Josef Labre oder als vom Leiden gezeichneter Büßer wie der hl. Dulder Job.  Gott selbst wählt für uns die Art der Verwirklichung und Er bestimmt auch die Art des Opfers. Anders als bei unserem göttlichen Erlöser ist uns der Blick auf die konkrete Gestalt unseres Opfers und auch der Blick auf den Weg zur Opferstätte verborgen. Wir müssen Gottes Vorhaben oft im Dunkeln suchen. Dabei geht es uns nicht anders als der Gottesmutter. Die Verkündigungsszene endet mit dem Wort: „Und der Engel schied von ihr.“ (Lk. 1,38). Keine weiteren Erklärungen. Keine weiteren Ankündigungen. Auch vor Maria lag ihr weiterer Lebensweg im Dunkeln. Auch ihr erschloß sich der Plan Gottes erst nach und nach.
  3. Schließlich müssen wir unsere Selbsthingabe oft erneuern. Sie muß wie die Hingabe Jesu eine Grundgesinnung unserer Seele werden. Unser wankelmütiger Wille hat nämlich die von der Eigenliebe herrührende Schwäche, das, was er in dem einen Augenblick in aller Hochherzigkeit Gott darzubringen entschlossen ist, schon im nächsten Moment, beim Aufscheinen der ersten Schwierigkeit, wieder zurückzunehmen. Deshalb müssen wir unsere Hingabe oft erneuern, damit sie unsere Seele immer umfänglicher, immer dauerhafter und immer vollkommener erfaßt, bis wir ganz in Christus umgestaltet, bis wir Ihn, um es nochmals mit dem Bild des hl. Paulus zu sagen, ganz „angezogen“ haben.

Als besonderes Mittel hierfür hat der Himmel dem hl. Ludwig Maria Gignion die „vollkommene Andacht zu Maria“ offenbart. Der Heilige sagt, daß Maria die vollkommene Gußform Jesu Christi ist. Aus ihr ist der Gottmensch gebildet worden, und zwar so, daß Ihm weder ein einziger Zug der Gottheit noch der Menschheit fehlte. Wenn Maria die Gußform Jesu Christi ist, dann können auch wir durch Maria zu einem naturgetreuen Abbild Jesu Christi geformt werden. Das kann, wie der Heilige versichert, ganz schnell und leicht, sanft und ohne besondere Mühe erreicht werden, wenn nur unser Wille nicht eckig und sperrig, sondern durch die vollkommene Hingabe ganz flüssig ist und sich widerstandslos ergießt.

„Komm, Herr Jesus!“

Wenn wir darum bemüht sind, Christus anzuziehen, und auf diese Weise ein Ebenbild Christi zu werden, dann brauchen wir das immer lauter werdende Klopfen an der Tür unserer Seele nicht ängstlich zu fürchten, wodurch der Herr Sein letztes Kommen auf dem Sterbelager ankündigt, selbst dann nicht, wenn der Augenblick plötzlich über uns hereinbrechen sollte. Dann ist es, wie der hl. Papst Gregor eingangs gesagt hat: „Der Herr kommt, wenn Er sich anschickt, Gericht zu halten. Er klopft an, wenn Er durch schmerzliche Krankheiten die Nähe des Todes anzeigt. Wir öffnen Ihm sogleich, wenn wir Ihn in Liebe aufnehmen. Wer Angst hat, den Leib verlassen zu müssen, wer nur mit Schrecken daran denkt, den als Richter sehen zu müssen, den Er im Leben mißachtet hat, der tut dem Richter, wenn Er anklopft, nicht auf. Wer jedoch in Seinem Vertrauen sicher und über Sein Tun beruhigt ist, der tut Ihm sogleich auf, wenn Er anklopft. Er sieht mit Freuden den Richter kommen und jubelt, wenn die Stunde des Todes naht, über seine glorreiche Vergeltung.“

Darum wollen wir als wache Menschen das Portal des neuen Kirchenjahres durchschreiten. Also als solche, die in sich den Gedanken an den kommenden Richter wachhalten. Als Wachende, welche die „Werke der Finsternis“ ab- und die „Waffen des Lichtes“ angelegt haben. Als Liebende, die sich dem Plan der göttlichen Vorsehung ganz hingeben, um so ganz in Christus umgewandelt zu werden. Dann braucht uns auch das Tympanon vom Weltgericht aus dem heutigen Evangelium nicht zu schrecken. Im Gegenteil! Wer dem Weltenrichter als wacher Christ entgegengeht, dem gelten gerade die tröstenden Worte: „Schauet auf und erhebet eure Häupter; denn es naht eure Erlösung.“ (Lk. 21,10). Wer nämlich dem Richter ein Freund, wer Sein Liebling, wer Sein „alter ego“ – also Sein „anderes Ich“ – geworden ist, der braucht sich vor Seinem Urteilsspruch nicht zu ängstigen. Voll freudiger Sehnsucht vermag er mit den ersten Christen zu beten: „Maran atha – Unser Herr komme!“ (1. Kor. 16,22). „Komm, Herr Jesus!“ (Offb. 22,20). Komm! Amen.

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