„Wer ist der Größte im Himmelreich?“

Geliebte Gottes!

Schon am Schutzengelsonntag wurde uns wieder bewußt gemacht, daß das Gottesreich seine Ausdehnung nicht nur in der dreidimensional-räumlichen Welt hat, sondern sich über die Dimension des Sichtbaren hinaus weit hinein in die Welt der reinen Geister erstreckt.

Von neun Chören der hl. Engel haben wir gehört, die ihren Dienst in drei Ordnungen an Gott, dem Allerhöchsten, an der Schöpfung insgesamt und am Menschen im Besonderen verrichten.

Ein Engel steht dabei allen voran. Jener Engel, welcher auch der „princeps angelorum“, also der „Fürst der Engel“ oder auch der „Anführer der himmlischen Heerscharen“ genannt wird – der hl. Erzengel Michael. In dem einen oder andern mag da vielleicht schon vor vier Wochen eine Frage aufgestiegen sein. Als wir nämlich von den neun Chören der hl. Engel gehört haben, da erfuhren wir, daß der Chor der Erzengel keineswegs der höchste ist, sondern lediglich den Zweituntersten in der Hierarchie der reinen Geister darstellt. Wie kann es nun sein, daß der hl. Erzengel Michael von uns als „Fürst“ der hl. Engel verehrt wird, wenn er doch in der Rangordnung einen so niedrigen Rang einnimmt?

Entweder haben sich die hl. Väter geirrt und ihre Einteilung der Engelhierarchien ist falsch; oder die hervorragenden Titel, mit denen St. Michael angerufen wird, sind nur überschwengliche Übertreibungen. Entweder die hl. Erzengel sind, entgegen der Lehre des hl. Papstes Gregor d. Gr. (vgl. PL 76,1249 ff.), die höchsten Engel, und der hl. Michael wiederum sticht unter denselben als Erster und Mächtigster hervor, oder er ist nicht der Hervorragendste unter den himmlischen Geistern – dann sollten wir ihn aber auch nicht als „Fürst der himmlischen Heerscharen“ anrufen. Nicht wahr?  

Der Streit der Apostel

Vielleicht liefert uns ja das heutige Festtagsevangelium, wo zwar die hll. Engel nur am Rande Erwähnung finden, eine Antwort. Wird doch darin eine ähnliche Frage aufgeworfen: „Wer ist wohl der Größte im Himmelreich?“ (Mt. 18,1). Dieser so nüchtern vorgetragenen Frage war, wie so oft, ein Rangstreit unter den Aposteln vorangegangen. Auf dem Heimweg nach Kapharnaum ließen die Apostel den Heiland vorangehen, um außer Hörweite ungestört miteinander diese Kontroverse diskutieren zu können, „wer der Größte von ihnen wäre.“ (Lk. 9,46). Schließlich erreichten sie ihr Reiseziel. Und mochten sie ihren Streit auf dem Weg auch abseits des Herrn geführt haben, was half ihnen das, da Jesus doch „die Gedanken ihres Herzens sah.“ (Lk. 9,47) und sie alsbald fragte: „Wovon habt ihr auf dem Weg gesprochen?“ (Mk. 9,32). Wohl überrascht und gleichzeitig peinlich berührt, „schwiegen sie“ (Mk. 9,33). Ertappt und durchschaut versuchten die Apostel die häßliche Seite ihres Streites, ihres Ehrgeizes und ihres persönlichen Egoismus zu kaschieren, indem sie die Angelegenheit im Gewand einer „sachlichen Frage“ präsentierten. Also antworteten sie dem Heiland: „Wer ist wohl der Größte im Himmelreich?“

Weiter heißt es von Jesus: „Da setzte Er sich nieder, rief die Zwölf zu sich und sprach zu ihnen: Wenn jemand der Erste sein will, so sei er der Letzte von allen und der Diener von allen.“ (Mk. 9,34). In der Bemerkung, daß der Heiland sich setzte und die Zwölf zu sich rief, liegt unverkennbar etwas Feierliches. Eine bedeutende Belehrung sollte den Aposteln erteilt werden. Denn vom Standpunkt des Christentums soll die höchste Würde nicht als Zurücksetzung der Übrigen gelten. Nie erhebe sich der Höhergestellte über seine Untergebenen in eitler Herrschsucht. Folglich suche der Erste, der Diener aller zu sein, wie es der göttliche Meister vorgelebt hatte, der ja nicht gekommen war, um sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen. Und um den Aposteln diese essentielle Lehre möglichst stark einzuprägen, „da rief Jesus ein Kind herbei, stellte es mitten unter sie“ – „schloß es in Seine Arme“ (Mk. 9,35) – und sprach: ‚Wahrlich Ich sage euch, wenn ihr euch nicht bekehrt und nicht werdet wie die Kinder, so werdet ihr in das Himmelreich nicht eingehen. Wer klein wird wie dieses Kind, der ist der Größte im Himmelreich.‘“ (Mt. 18,2-4).  

Wer ist der Größte im Himmelreich?

Hier finden wir die Antwort, warum der hl. Erzengel Michael als „Fürst der himmlischen Heerscharen“ angerufen werden muß. Denn auch unter den Engeln wurde einst in grauer Vorzeit jene Frage aufgeworfen: „Wer ist wohl der Größte im Himmelreich?“

Der seiner Natur nach vollkommenste Engel, der in größter Nähe zu Gott stehende, auf dem Gipfel der Schöpfung thronende Luzifer rief damals aus: „Ich!“ Er, Luzifer, sei der Größte im Himmelreich. – Und auf den ersten Blick kann man dem Anspruch Luzifers auch gar nicht widersprechen. Denn von seiner Naturanlage ist er tatsächlich Gott, dem Allerhöchsten, am ähnlichsten. Gott hatte diesen Engel wahrhaftig als den alle anderen Geschöpfe überragenden Geist, voll Erkenntnis und Macht, erschaffen. Luzifer war dem Allwissen und der Allmacht Gottes am ähnlichsten. Diese Intelligenz und Energie gehörten zur Natur des vollkommensten Engels, zu seinem wesenhaften Sein. So betrachtet war Luzifer der Größte im Himmelreich. Im Vergleich mit der übrigen Schöpfung war er gleichsam wie Gott. Aber was ist selbst das schon gegen die unendliche und ungeschaffene Vollkommenheit Gottes? – Und auch in der geschaffenen Welt ging Gott in Seiner unendlichen Güte noch weiter. Er fügte zur Natur die Übernatur. Zu dem, was das Wesen des Engels ausmacht, das, was Gnade ist und Gnade bleibt – ungeschuldet, unverdienbar, für die Natur unerreichbar – nämlich die Teilnahme an Seiner göttlichen Natur. Die Kindschaft Gottes!

Von hier nahm Luzifers Rebellion ihren Anfang. Selbstherrlich lief er Sturm gegen das Wort „Gnade“. Was er ist, das will er sein von sich aus. Und zwar aus eigenem Wollen und aus eigenem Können. Kraft seiner allesüberragenden Natur! Mit jeder Faser seines Wesens protestierte er gegen die Übernatur, insofern sie nicht etwas Geleistetes, ihm Zustehendes, sondern etwas Geschenktes ist; nicht etwas Erobertes, sondern etwas gratis Gegebenes. Luzifer ist der erste Pelagianer. Einer, der keine Gnade braucht und keine Gnade haben will und – der keine Gnade anerkennen will –, sondern alles sich selbst und seinen eigenen Kräften zuschreibt. Er will nur das sein, was er von Natur aus ist. Das Almosen der Übernatur lehnte er entschieden ab. Damit war der Kern des Satanismus geboren. Der Satanismus ist letztlich nichts anderes als selbstherrlicher Naturalismus. Die Vergötterung der eigenen Natur. Die stolze Selbstvergottung, die nichts und niemandem dienen will.

Der Anspruch Luzifers: „Ich! Ich bin der Größte im Himmelreich – Kraft meiner Natur! Ich bin wie Gott und will nicht dienen!“ blieb jedoch nicht ohne Widerspruch. In der Geheimen Offenbarung heißt es: „Da erhob sich ein großer Kampf im Himmel: Michael und seine Engel kämpften mit dem Drachen, und der Drache und seine Engel stritten, aber sie obsiegten nicht, und keine Stätte war mehr für sie gefunden im Himmel.“ (Offb. 12,7 f.). In demselben Kräfteverhältnis, in dem das Kind dem erwachsenen Mann, in dem der einfache Hirtenjunge David dem hünenhaften Elitekämpfer Goliath hoffnungslos unterlegen war, trat jener schlichte Erzengel aus dem vorletzten Chor der untersten Ordnung der himmlischen Geister hervor, um den erhabenen Luzifer herauszufordern. Und wie David den Goliath mit einem einzigen Stein aus seiner Schleuder zu Boden gehen ließ, so stürzte dieser einfache Erzengel den übermächtigen Drachen in den Abgrund der Hölle mit nur einem Wort, nämlich mit dem Ausruf seines Namens: „Michael“! Dieser Name bedeutet: „Wer ist wie Gott?“ Und dieser kämpferische Ruf will selbstverständlich, empört über die Anmaßung Luzifers, sagen: „Niemand! Niemand ist wie Gott!“

Während die aufrührerischen Engel im Gefolge Luzifers angeschlossen in ihrer stolzen Sucht nach Selbstbestimmung und Unabhängigkeit auf die Herrschaftsrechte ihrer Natur pochen und sich gleichsam selbst göttliche Ehre und Herrlichkeit anmaßen, wächst der hl. Erzengel Michael durch die Gnade Gottes gestärkt über die Kräfte seiner an sich geringeren Engelnatur hinaus und trägt den Sieg davon.

Michael ist der von Natur aus Kleinere, gleichsam wie ein Kind, und eben deshalb hat er die unüberwindliche Kraft Gottes an seiner Seite, die ihn zum Ersten, zum Feldherrn aller englischen Chöre erhebt.  

Kontemplation Gottes führt zu wahrer Gottes- und Selbsterkenntnis

Wie gelangte aber der hl. Michael zu diesem kindlichen Geist? Dieses Geheimnis finden wir ebenfalls in dem Namen „Michael“ enthalten. Der Name, den Gott einem Geschöpf gibt, sagt ja immer etwas Wesentliches über dessen Träger aus. Der Name „Michael“ – „Wer ist wie Gott?“ – ist nicht nur ein Schlachtruf. Es ist auch eine philosophische Frage. Eine Frage, die jeden kontemplativen, beschaulichen Geist beschäftigt. „Wer ist wie Gott?“ Der betrachtende Geist, der sich im Gebet zu Gott aufschwingt und sich dabei die unendlichen Vollkommenheiten Gottes vor Augen stellt, muß wirklich in fassungslosem Staunen ausrufen: „Wie gewaltig, wie vollkommen, wie herrlich ist doch Gott! Wer ist Ihm gleich? Wer ist wie Gott?“ Gott ist in der Erkenntnis des hl. Erzengels Michael so unendlich groß und so sehr der einzig Entscheidende und Wirkliche, daß alles andere im Lichte dieser Erkenntnis auf sein richtiges Maß gebracht wird.

Eine Person berichtete einmal von einem Traum. In diesem Traum habe sie in einiger Entfernung Jesus Christus gesehen. Während sie Ihm mit großer Sehnsucht entgegengelaufen sei, stellte sie mit Erschrecken fest, daß jeder Schritt, den sie auf Ihn zu machte, sie selber dabei schrumpfen ließ. Sie wurde immer kleiner und kleiner und kleiner. Und in dem Augenblick, als sie bei Jesus angekommen war, da war sie gleichsam ein Nichts. Dieser Traum sagt etwas sehr Wahres aus. Je mehr wir uns Gott annähern, umso vollkommener erkennen wir die Größe und Herrlichkeit Gottes und unsere eigene Nichtigkeit. In dieser demütigen Gotteserkenntnis findet sich die geheimnisvolle Größe des Himmelreiches. Denn wer seine verschwindende Kleinheit vor Gottes Macht und Herrlichkeit anerkennt, der wird von Gott weit über die Kräfte seiner Natur erhoben. Diese Gesetzmäßigkeit des göttlichen Wirkens besingt auch die Gottesmutter in ihrem Magnifikat: „Machthaber stürzt Er vom Thron, und Niedrige erhöht Er. Hungrige erfüllt Er mit Gütern, Reiche läßt Er leer ausgehen.“ (Lk. 1,52 f.). Und der hl. Paulus sagt: „Was vor der Welt töricht ist, hat Gott auserwählt, um die Weisen zu beschämen; und das vor der Welt Schwache hat Gott auserwählt, um das Starke zu Schanden zu machen; und das vor der Welt Unangesehene, und das Verachtete, und das, was nichts ist, hat Gott auserwählt, um das, was etwas ist, zunichte zu machen.“ (1. Kor. 1,27 f.).

Eben dieses Naturgesetz des Himmelreiches bringt der hl. Thomas von Aquin in seiner Antwort auf die Frage zur Anwendung, wie die guten Engel – selbst solche niederen Ranges, wie der hl. Erzengel Michael – die bösen Geister – auch solche höchster Stufe – bezwingen konnten: „Denn je mehr sich Geschöpfe Gott annähern, desto größeren Einfluß üben sie auf andere aus. Dieser Vollkommenheit sind die bösen Geister beraubt. Darum haben die guten Engel einen Vorrang über die bösen; diese werden durch jene beherrscht.“ (S.th. I q.109, a.4).

Je vollkommener wir Gott in der Kontemplation erkennen, umso näher kommen wir Ihm. Je näher wir Ihm kommen, umso mehr kann das demütige Geschöpf die Macht Gottes auf andere ausüben. Wie der Heiland an anderer Stelle erklärt: „Wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt.“ – Wer auf die eigene, aus seinen natürlichen Kräften herrührende Größe pocht, wie der stolze Luzifer, der wird stürzen. „Wer sich aber selbst erniedrigt, der wird erhöht.“ – so, wie der hl. Erzengel Michael durch seine demütige und von Ehrfurcht geprägte Annäherung an Gott gnadenhaft über die Kräfte seiner Natur hinaus zum „Fürsten der himmlischen Heerscharen“ erhoben wurde.

Wenn wir also unseren Blick auf Gott richten und Ihn in zunehmendem Maße als den erkennen, der Er wirklich ist, dann verlieren wir uns selbst. Je klarer unsere Vorstellung von Gott ist, umso klarer erkennen wir uns auch selbst. Dann gelangen wir nämlich zu der Erkenntnis, wer wir selber sind. Daß wir nichts sind vor Gott. Daß wir alles von Ihm empfangen, wie ein Kind alles von seinen Eltern empfängt. Daß in gewisser Hinsicht alles Gnade ist, wie die hl. Theresia von Avila sagt. Schon die Gaben der Natur. Unsere menschlichen Kräfte des Leibes und der Seele: Sie sind ein Geschenk Gottes. Und umso mehr die Gaben der Übernatur, die uns gnadenhaft Anteil an der Natur Gottes gewähren, uns zu Brüdern und Schwestern des Sohnes Gottes, zu Kindern Gottes und Erben des Himmels machen.

Werden wie die Kinder

Die Kontemplation, der Blick auf Gott, macht unser Auge einfach, wie den staunenden Blick eines Kindes; ganz ungeteilt. Hier setzt die Forderung des Heilandes an: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so könnt ihr nicht in das Himmelreich eingehen.“ Im Erkennen müssen wir Kinder werden. Das Kind erkennt intuitiv, daß es aus sich selbst nichts ist, nichts hat, nichts weiß, nichts vermag. Darum ist ihm auch das Gefühl gänzlicher Abhängigkeit und Dankbarkeit sowie der Glaube und die Lenksamkeit gleichsam eine zweite Natur. Die Natur des Kindes beschreibt der hl. Hilarius von Poitiers mit den Worten: „Kinder folgen nämlich ihrem Vater, lieben ihre Mutter; verstehen nicht dem Nächsten Böses zu wünschen, streben nicht nach irdischem Besitz, sind nicht übermütig, kennen keinen Haß, keine Lüge, glauben alles, was man ihnen sagt, und halten für wahr, was sie hören.“ Was aber beim Kind Natur ist, das soll beim Erwachsenen Tugend sein – nämlich die Tugend der Demut.

Die Demut entspringt der Kontemplation, also der Betrachtung der Größe Gottes. Wenn wir also demütiger werden wollen, müssen wir hier ansetzen. Denn die Demut ist die Tugend erleuchteter Wahrhaftigkeit. Der Demütige hat durch kindliche Betrachtung der unendlichen Vollkommenheit Gottes das verinnerlicht, was der Heiland zur hl. Katharina von Siena sagte: „Ich bin der Seiende, und du bist diejenige, die nicht ist.“ Ich bin der Seiende. Und du bist diejenige, die nicht ist!

Die Kontemplation, die Beschauung Gottes, führt uns also zur wahren Gotteserkenntnis und damit automatisch zur wahren Selbsterkenntnis. Und von dieser Perspektive aus betrachtet gewinnen dann alle anderen Dinge in unserem Leben ihre echte Bedeutung: Arbeit, Beruf, Verdienst, Diplomzeugnisse und Doktortitel; Urlaub, Auto, Hobby und bequemes Leben; aber auch der beste Freund, der Ehemann, die Familie, die Kinder und die Eltern.

„Was ist das in Bezug auf die Ewigkeit?“, so hatte der hl. Johannes Berchmans, ein Jesuitenzögling, der bereits vor dem Empfang der heiligen Weihen verstarb, immer wieder gefragt, um all das, was ihn zu Gott hinführt, von dem unterscheiden zu können, was ihn von Gott fernhielt oder gar wegführte. Was ist das in Bezug auf die Ewigkeit? Was nützt mir das für die Ewigkeit? Ja, man könnte sagen, diese Frage ist im Grunde nichts anderes als die Parole des hl. Erzengels Michael – „Wer ist wie Gott?“

Es ist bemerkenswert, daß die Kirche bei der Auswahl des heutigen Festtagsevangeliums diesen Abschnitt gewählt hat. Der hl. Michael wird darin ja nicht einmal erwähnt. Aber wenn wir das bereits Gesagte berücksichtigen, so stellen wir fest, daß er doch darin vorkommt. Nämlich in dem Kind. Das Kind ist am größten im Himmelreich. Das Kind ist deshalb am größten, weil es staunen kann über das, was es überragt, was herrlich und schön ist. So könnte man sagen, daß in der Natur eines echten, für Gott begeisterten Kindes, welches sich in seinem Staunen gänzlich vergißt, die Züge des hl. Erzengels Michael sichtbar werden. So irgendwie muß er sein. Und so steht der hl. Michael in dem Kinde, das der Herr vor den Ihn umringenden Aposteln umfangen hielt, doch buchstäblich im Mittelpunkt des heutigen Evangeliums.  

Aus der Kontemplation erwachsen die Kämpfer Gottes

Doch aus den Erkenntnissen, zu denen uns die Kontemplation verhilft, wird dann aber auch deutlich, wie die echten Kämpfe Gottes geführt werden.

Wir erkennen, daß es da oft zu viele Wichtigtuer gibt. Da sind einige, die sich für das Reich Gottes, für die Kirche und ihre Erneuerung einsetzen wollen, und dabei dreht sich dann doch alles um sie selbst. Man erkennt es vor allem in dem Augenblick, wenn man ihnen nicht die Aufmerksamkeit schenkt, derer sie sich wert erachten, wenn man sie kritisiert, oder wenn etwas nicht so umgesetzt wird, wie sie es sich vorstellen. Dann, ja, dann fühlen sie sich gleich persönlich angegriffen, sind beleidigt und eingeschnappt. Dann ist es so, als hätte man sich, weil man ihnen nicht recht zugesprochen hat, gleichsam an „Gott“ vergriffen. Aus dem beständigen Kreisen um sich selbst, das dann zu einer Selbstvergötzung führt, wird gewiß kein gottgesegneter Kampf für die Kirche und auch keine wahre Erneuerung der Kirche erwachsen.

Der heilige Erzengel Michael hingegen hat sich selbst gleichsam ganz aus den Augen verloren. Sein Blick war ganz und gar einfältig und einfach. Sein Erkennen ist nur auf Gott gerichtet, und eben durch diesen einfachen kindlichen Blick auf Gott blickt er auf die Geschöpfe. Deshalb erscheint ihm das Reich Gottes in seiner ganzen Größe und Herrlichkeit. Aus der Erkenntnis der göttlichen Größe und der eigenen Nichtigkeit erwächst aber der kämpferische Eifer, der den hl. Erzengel Michael beseelt, wenn sich geschöpflicher Staub über Gebühr erhebt. Und folglich muß er sich in einem geradezu grimmigen Zorn gegen all das Erheben, was die Aufgeblasenheit, die Selbsterhöhung und der Hochmut des Teufels und seiner Anhänger sind, um es zu zermalmen und auf seinen ihm angestammten Platz zurückzuverweisen. Angesichts der Größe Gottes kann er es nicht ertragen, wenn einer sich groß hervortut, also kämpft er ihn nieder.

Das Geteiltsein als Ursache des Ärgernisses

Dieser einfache kindliche Blick und der daraus resultierende Kampfeseifer des hl. Michael fehlen uns. Durch die Erbsünde ist der Blick unserer Seele geteilt. Ja, wir blicken auf Gott. Der Aufblick zu Gott zieht uns an, macht uns geneigt zum Gebet, zur Betrachtung, zur Kontemplation. Wir möchten Gott näherkommen. Aber da ist auch das andere Auge, welches sich wie das eines Chamäleons verdreht und voll Begierde auf die Geschöpfe schielt, auf die es nicht verzichten will. Unser Auge schielt auf das Böse, auf den ungeordneten Gebrauch der geschaffenen Dinge, wie er Gott zuwider ist. Dieses zweite Auge wird zum Ärgernis.

Gleiches gilt von der Hand. Ja, wir wollen das Gute tun, die Tugend üben, die Werke der Nächstenliebe vollbringen. Aber die andere Hand tut das Gegenteil.

Unsere Füße sollen auf dem Pfad der Gerechtigkeit wandeln, auf dem Weg der Gebote Gottes, auf dem engen und steilen Pfad, der in den Himmel hinaufführt. Aber oft wird der Fuß uns zum Ärgernis und wir schlagen den breiten, bequemen Weg ein, der ins Verderben führt. Wir meiden nicht die Gelegenheit zur Sünde, sondern suchen sie durch gefährliche Gesellschaft oder durch das Aufsuchen gefährlicher Orte. Statt in der Versuchung bei Gott unsere Zuflucht zu suchen, eilen wir zu den Geschöpfen, um den Trost zu genießen, den sie uns verheißen.

Alles in allem müssen wir mit dem hl. Paulus bekennen: „Nicht das Gute, das ich will, vollbringe ich, sondern das Böse, das ich hasse, tue ich. Ich sehe ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das dem Gesetz meiner Vernunft widerstreitet und mich zum Sklaven des Gesetzes der Sünde macht, das in meinen Gliedern ist.“ (Röm. 7,15.23). Unsere Seele ist nicht einfältig, nicht einfach. Nein, sie hat zwei Augen, zwei Blickrichtungen. Das ist eine zu viel! Das eine Auge blickt auf Gott, das andere schielt auf die Welt. Wir haben zwei Hände. Die eine tut das Gute, die andere vollbringt die Sünde. Wir haben zwei Füße. Der eine trägt uns zur Übung der Tugenden, der andere zur sündhaften Gelegenheit.

Der geistliche Kampf

Was ist also zu tun? Genau das, was der Herr von den Aposteln im Evangelium fordert: „Wenn dir dein Auge, (deine Hand oder dein Fuß) zum Ärgernis wird, so reiß es aus, (hau sie ab) und wirf es von dir. Denn es ist besser für dich, daß du mit einem Auge, (mit einer Hand, mit einem Fuß) in das Leben eingehst, als daß du mit zwei Augen, (mit zwei Händen oder zwei Füßen) in das höllische Feuer geworfen wirst.“ (vgl. Mt. 18,8 f.). Nicht Selbstverstümmelung an unserem Leib fordert der Herr, wie einige frühchristliche Sektierer dieses Wort mißdeutet haben, sondern daß wir das Gesetz der Sünde, das uns den einfachen Blick auf Gott raubt und das uns zur Selbstherrlichkeit und zur Selbstvergötzung verführen will, ausreißen, abhauen und niederkämpfen, wie der hl. Michael die rebellischen Engel. Den Antrieb und den heroischen Kampfesmut in diesem Kampf gegen uns selbst finden wir in der Erkenntnis der Größe Gottes.

Hier finden wir vielleicht auch die Antwort auf die Frage, woran es denn liegt, daß der Kampfesmut unter uns Katholiken mehr und mehr nachgelassen hat und nachläßt. Weil wir ganz offensichtlich mehr und mehr nachgelassen haben und nachlassen, über die Größe und Herrlichkeit Gottes nachzusinnen und darüber zu staunen. Weil unsere Haltung vor Gott so wenig vom Geist der Anbetung durchdrungen ist, daß wir es unberührt ertragen können, wenn andere sich an Seiner Herrlichkeit vergreifen. Ja, daß wir es gar nicht wahrnehmen, wenn wir selbst durch unseren Stolz und unsere Selbstgefälligkeit Gott die Ehre rauben.

Die Mittel zur Selbstüberwindung

Um die anstürmenden Versuchungen und Ärgernisse niederkämpfen zu können, ist zuallererst ein großer Opfergeist notwendig. – Es mag uns etwas so notwendig erscheinen wie die Hand, so wichtig wie der Fuß, so liebenswürdig wie das Auge, aber wenn wir damit Gefahr laufen, unser Heil zu gefährden, dann gilt: Reiß dich los! Trenne dich davon! Jetzt! – Der Heiland weiß um die zähe Anhänglichkeit des Menschen und um seinen Einfallsreichtum im Erfinden von Ausreden, um das Aufgeben einer gefährlichen Freundschaft oder eines bedenklichen Geschäftes oder einer anrüchigen Freizeitbeschäftigung als unmöglich darzustellen. Deshalb die drastische Forderung „Reiß es aus! Hau sie ab und wirf sie von dir!“ in Verbindung mit der Drohung des „höllischen Feuers“.

Zweitens ist gefordert die Flucht der bösen Gelegenheit. Meide gefährliche Handlungen! Suche keine gefährlichen Orte auf. Nicht in der räumlichen Welt und nicht in der Cyberwelt des Internet! Verschließe deine Augen allen gefährlichen Eindrücken. Was nützt dir das, wenn du dafür ewig verdammt wirst? Was der Herr von Hand, Fuß und Auge sagt, ist mit gleichem Recht auch auf das Ohr, den Gaumen, die Zunge, das Herz, den Verstand, die Phantasie, das Gedächtnis, kurz auf alle Kräfte des Leibes und der Seele anzuwenden.

Schließlich bedarf es zu diesem Kampf als dritte Komponente einer großen Entschiedenheit und Entschlossenheit. Der hl. Paulus sagt: „Noch habt ihr nicht bis aufs Blut widerstanden im Kampfe wider die Sünde.“ (Heb. 12,4). Deshalb wollen wir, dem Rat des Völkerapostels folgend, uns die Kraft zur Selbstüberwindung beim Aufblick zum Kreuz holen. Wir wollen schauen auf „Jesus, der für die vor Ihm liegende Freude das Kreuz erduldete, die Schmach nicht achtend, und nun zur Rechten des Thrones Gottes sitzt.“ (Heb. 12,2). Das Kreuz ist die Kraftquelle zu entschiedenem Handeln. „Im Kreuz ist Heil, im Kreuz ist Leben, im Kreuz ist Schutz vor den Feinden, Mitteilung himmlischen Trostes, Stärke des Geistes, seelische Kraft, Freude des Geistes, im Kreuz liegt der Inbegriff der Tugend, die vollendete Heiligkeit“, erklärt die „Nachfolge Christi“ (II,12). Im Kreuz fanden ja auch die hl. Märtyrer die unüberwindliche Kraft zur Standhaftigkeit, durch die sie das harte Wort vom Abhauen und Ausreißen der Glieder ganz buchstäblich an sich erfüllen ließen.  

Wer ist wie Gott?

Kampf und Kontemplation sind beim hl. Erzengel Michael nicht nur in seinem Namen, sondern auch in Wirklichkeit eins. Es ist der Kampf desjenigen, der Gott schaut. Es ist der Kampf desjenigen, der ihn liebt, mit der ganzen Inbrunst seines Wesens, der nichts anderes ist als eine einzige Hingabe an die angebetete göttliche Größe und Herrlichkeit. Deshalb ist er der größte Engel im Himmelreich. Deshalb ist er der „Fürst der Engel“ und wird von uns zu Recht als „Anführer der himmlischen Heerscharen“ angerufen.

Möge uns der hl. Erzengel Michael zu einer tiefen Gotteserkenntnis führen, zu diesem kindlichen Staunen vor der Größe Gottes? Wer ist wie Gott? Dann werden wir auch für alle Kämpfe unseres Lebens gewappnet sein. Ja, mit dieser Losung im Munde können wir gleichsam jede Versuchung besiegen und mit dem hl. Erzengel Michael über die Mächte der Finsternis triumphieren. Und mögen wir allem, was sich in uns und um uns herum aufbläht und sich groß aufspielt, mit dieser Frage begegnen. „Wer ist wie Gott? – Niemand! Denn Du allein bist der Heilige, Du allein der Herr, Du allein der Höchste – Vater, Sohn und Heiliger Geist.“ Amen.

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