1. Sonntag im Advent
„Weil alle in Adam gesündigt haben.“
Geliebte Gottes!
Wenn die Kirche am ersten Tag des neuen Kirchenjahres uns nochmals das Weltgericht vor Augen führt, so muß das aus einem bedeutsamen Grund geschehen. Aus welchem Grund? Warum beginnt das Kirchenjahr mit dem Ausblick auf den letzten Akt der Weltgeschichte?
Um uns an den ersten Akt der Menschheitsgeschichte zu erinnern. Es gibt ein letztes Gericht, weil es eine erste Sünde gibt! – Es gibt ein Weltgericht, weil es eine Weltsünde gibt; eine Sünde, die in allen Menschen wurzelt. – Auch hier gilt der Grundsatz: Keine Wirkung ohne Ursache! Das Weltgericht ist Ende und Konsequenz einer einzigen Ursache – der ersten Sünde, welche die Stammeltern im Paradies begingen.
Wenn wir uns diesen Zusammenhang vor Augen stellen, daß die Erbsünde Ursache des Weltgerichtes ist, dann wird uns vielleicht erst bewußt welche Wucht, welche weltgeschichtliche, kosmische Dimension und Sprengkraft in dem Phänomen liegt, das der Katechismus lapidar „Erbsünde“ nennt. Die Kirche will uns mit dieser harten Wirklichkeit konfrontieren: Wir sind ein gefallenes, sündiges Geschlecht. Das müssen wir uns, bevor wir den Fuß über die Schwelle des neuen Kirchenjahres setzen, erst einmal eingestehen!
Das neue Kirchenjahr soll ein neues Jahr des Heiles sein. Ein Jahr, welches uns der Erlösung näherbringen, uns der Erlösung entgegenführen will. Um aber tatsächlich auf dem Weg der Erlösung voranzukommen, müssen wir erst einmal begreifen, daß wir erlösungsbedürftig sind. Wenn uns unser gefallener Zustand und das ganze aus ihm erwachsende Elend unberührt läßt, wenn wir nicht erkennen und bekennen, daß wir aus eigener Kraft unser Heil nicht wirken können, dann wird uns das neue Kirchenjahr nicht viel nützen.
Die „erste Sünde“
Aber der Reihe nach. Was für eine Sünde begingen denn die Stammeltern? – Sie glaubten der Schlange mehr, als Gott und aßen von der verbotenen Frucht. So kann man den Bericht aus dem Buch Genesis kurz zusammenfassen. Um die Schwere der ersten Sünde recht zu erkennen, müssen wir zunächst vier Punkte erwägen: 1. das Gebot, 2. die Versuchung, 3. die erste Sünde selbst und 4. ihre Folgen.
a) Das Gebot
Was das Gebot, oder vielmehr das Verbot angeht, welches durch die Sünde unserer Stammeltern übertreten wurde, so muß man zunächst festhalten, daß es an sich sehr leicht zu beobachten gewesen wäre. Nur ein Baum, nur die Früchte eines einzigen Baumes waren verboten, während die Stammeltern von allen anderen Bäumen des Paradieses alle ihre Bedürfnisse in reichlichem Maße befriedigen durften.
Weder Hunger noch Not trieb sie in die Sünde. Das Gebot lautete: „Von allen Bäumen des Gartens magst du essen, aber vom Baume der Erkenntnis des Guten und des Bösen sollst du nicht essen.“ (Gen. 2,16 f.) – Wie, wenn sie nur von einem Baum hätten essen dürfen und alle anderen Bäume verboten gewesen wären? Selbst dann wäre die Beobachtung des Gebotes zwar schwer, aber nicht unmöglich gewesen.
Das Verbot war eindeutig bezeichnet: der Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen. – Auch der Platz, wo der Baum stand, war genau angegeben, um Verwechslungen vorzubeugen: der Baum in der Mitte des Paradieses. – Auch der Urheber des Verbotes war den Stammeltern genau bekannt. „Gott hat uns befohlen“ (Gen. 3,3), wird Eva dem Satan entgegnen: Gott! Er ist der Gesetzgeber. Eva wußte das. Und wenn es Eva wußte, dann wußte es auch Adam. Eine Übertretung aus Irrtum war also vollständig ausgeschlossen. Außerdem wurde auch noch eine schwere Strafe für die Übertretung angedroht: „Am Tage, wo du davon ißt, wirst du des Todes sterben.“ (Gen. 2,17). Du wirst das übernatürliche Gnadenleben verlieren und auch dein natürliches Leben wird die Unsterblichkeit verlieren. Du wirst sterben!
Es konnte also gar kein Zweifel sein, daß das Gebot, auf dessen Übertretung eine so schwere Strafe gesetzt war, eine schwere Verpflichtung in sich barg. Daß also jede Übertretung notwendiger Weise eine schwerwiegende Verletzung der gottgesetzten Ordnung, also eine „schwere Sünde“ sein mußte. Schließlich und endlich darf man ohne Bedenken hinzufügen, daß den Stammeltern im Paradies auch der Lohn bekannt war, den sie erhielten, wenn sie dieses Gebot treu beobachten würden: nämlich der Übergang aus dem irdischen Paradies in das himmlische Paradies.
Zusammenfassend können wir also sagen: Der Inhalt des Gebotes, seine Eigenschaften und Umstände sind so beschaffen, daß sie die Übertretung desselben als durchaus schwerwiegende Sache erkennen lassen.
b) Die Versuchung
Wer war sodann der Versucher? – Es war der böse Geist; ein Versucher, wie der hl. Johannes Bonaventura sagt, der es verstand zu versuchen, der versuchen wollte und versuchen konnte.
Der Satan verstand es zu versuchen! Natürlich, seine Intelligenz ist überragend, eine diabolische Intelligenz. Er wollte versuchen. Er hatte ein Motiv und den festen Willen zur Tat. Er wollte versuchen, getrieben von seinem Neid. Er wollte verhindern, daß der Mensch und seine Nachkommen jene Plätze im Himmelreich einnehmen würden, die er uns sein Anhang verloren hatte. – Aber konnte er es auch? – Ja, er konnte es, weil Gott es zuließ, soweit Gott es zuließ, in der Weise, wie Gott es zuließ. Gott ließ es zu, daß er eine Schlange sozusagen als Werkzeug gebrauchte, um die ersten Menschen aufzusuchen, anzureden, zu versuchen.
In Gestalt der Schlange! Das war eine Demütigung für den Teufel, daß er sich bis zu diesem niedersten, giftigsten und widerwärtigsten Tier erniedrigen mußte, um unsere Stammeltern zu versuchen. In Gestalt der Schlange – nicht als „Engel des Lichtes“, wie er es gewiß lieber getan hätte. In Gestalt der Schlange! Das war zugleich eine Warnung für die Stammeltern, daß sie sich vor der List, der Schlauheit, vor der gespaltenen Zunge, dem hypnotischen Blick und dem Gift des Verführers in acht nehmen sollten.
Was die Art der Versuchung betrifft, so wendet sich der Versucher zuerst an die Frau; an Eva, als den schwächeren Teil, um durch die Frau dann auch den Mann zu verführen. Die Versuchung Evas hat sodann drei deutlich erkennbare Stufen: eine Frage, eine Behauptung, eine Verheißung.
Die Frage war: „Warum hat euch Gott verboten von all diesen Bäumen des Paradieses zu essen?“ (Gen. 3,1). Mit dieser Frage kundschaftete der Satan die Stelle aus, wo er angreifen könnte, und arglos zeigte ihm Eva diese Stelle, indem sie deutlich sagte, was verboten sei und was nicht verboten sei. Von allen Bäumen des Paradieses dürften sie essen, nur nicht von dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Sobald sie davon essen würden, müßten sie sterben. – Im Vulgatatext sagt Eva: Wir dürfen nicht essen, „damit wir nicht etwa sterben würden.“ In diesen Worten zeigte sie die gefährliche und schwache Stelle ihrer Seele. Der Modus des Konjunktiv, die sogenannte Möglichkeitsform, – „damit wir nicht etwa sterben würden“ – die Eva wählt, offenbart nach manchen Auslegern einen leichten Zweifel Evas. Einen leise angedeuteten Zweifel, ob die angedrohte Strafe auch wirklich eintreten würde. Und genau diesen winzigen Glaubenszweifel macht sich der Versucher sofort zunutze.
Von der Frage ging der Versucher nämlich zur kühnen und gotteslästerlichen Behauptung über: „Keineswegs werdet ihr sterben!“ (Gen. 3,4). Das gerade Gegenteil von dem, was Gott gesagt hatte! Um jedoch zu verhindern, daß die Haltlosigkeit seiner Behauptung aufflöge, denn Eva hätte womöglich sofort nachgehakt, woher die Schlange das denn wisse. Um also seine haltlose Behauptung zu tarnen fügt der Versucher eine Lockung, eine glänzende Verheißung hinzu: „Wenn ihr davon eßt, werdet ihr sein wie Gott und erkennen das Gute und das Böse.“ (Gen. 3,5). Was für Aussichten! Was für eine Verheißung! Werden wie Gott! Mächtig wie Gott! Weise, selbstherrlich, wissend wie Gott! Der Glanz der Verheißung deckt die mangelhafte Begründung der Behauptung sie würden nicht sterben zu und verhindert unangenehme Nachfragen. Eva ist geblendet, ja verblendet.
c) Die erste Sünde
Als Eva die verlockenden Versprechungen der Schlange vernommen hatte, vergaß sie das Gebot Gottes, vergaß die angedrohte Strafe, vergaß Gott selbst und berauschte sich sozusagen in dem stolzen Gedanken, zu werden wie Gott. Indem sie sich diese Träume voll Hybris ausmahlte, gefiel ihr der Gedanke daran. Indem ihr der Gedanke gefiel, verlangte sie danach. Indem sie danach verlangte, willigte sie ein zu essen, um durch den Genuß der verbotenen Frucht ihr Verlangen zu stillen. Das war der eigentliche Kern ihrer Sünde, sie wollte werden wie Gott.
Nun richtete sie ihre Augen auf die Frucht und sah, daß „sie lieblich anzusehen war und gut zu essen.“ (Gen. 3,6). Ihr Verlangen weckte den Appetit. Sie streckte ihre Hand aus, nahm die Frucht und aß. Die Sünde wurde begangen im Geist, im Stolz; und vollendet im Fleisch, indem sie aß. Sie gab ihrem Mann, und auch er aß.
Das war die erste Sünde auf Erden, eine schwere und entsetzliche Sünde. In dieser einen Sünde sind alle möglichen Sünden ihrer Kraft und Art nach enthalten, wie der hl. Augustinus luzide erläutert: „Unter jener einzigen Sünde kann man mehrere Sünden verstehen, wenn man diese einzige Sünde gleichsam in ihre einzelnen Glieder zerteilt; denn da ist Stolz, weil der Mensch es liebgewann, viel mehr in seiner Macht als in der Macht Gottes zu sehen. Da ist sakrilegischer Unglaube, weil der Mensch Gott nicht glaubte. Da ist Mord, weil der Mensch sich selbst in den Tod stürzte. Da ist geistige Hurerei, weil die Unschuld des menschlichen Geistes durch die Überredung der Schlange geschwächt wurde. Da ist Diebstahl, weil mit der Anmaßung nach der verbotenen Speise gegriffen wird. Da ist Habsucht, weil der Mensch mehr gelüstete, als ihm genügen sollte.“
Ferner war die erste Sünde eine Sünde des Ungehorsams, weil darin das erste, das klare, das leicht zu erfüllende Gesetz Gottes mit Wissen und Willen übertreten wurde. – Sie war eine Sünde des Undankes, weil sie vergaßen, daß alles, was sie sind und haben, auch alles was sie sein werden, ein Geschenk der göttlichen Güte ist. – Es war eine Sünde des Leichtsinns, weil sie ihre Tat begingen unter dem trügerischen Ratschlag eines Geschöpfes, dessen Äußeres, dessen Sprache, dessen Blick, dessen Gestalt zur äußersten Vorsicht mahnen mußte. – Vor allem aber war es der Stolz, der sie zu alledem antrieb, weil sie ohne Gott und gegen Gott zu einer Höhe aufsteigen wollten, die kein Geschöpf erreichen kann; nach der kein Geschöpf verlangen darf. Das war die erste Sünde.
d) Die Folgen der ersten Sünde
Welch verheerenden Schaden die erste Sünde angerichtet hat, wurde schon an den selbst Stammeltern ersichtlich: Die übernatürliche Gottebenbildlichkeit, die ihnen von Gott eingeschaffen waren, ging verloren. Sobald die Sünde geschehen war, war die heiligmachende Gnade verloren, das eingegossene Wissen, also die übernatürliche Erkenntnis war in der Seele wie ausgelöscht. Dem freien Willen entfielen die Zügel der Herrschaft über alle untergeordneten Kräfte des Leibes und der Seele. Das Fleisch fing an wider den Geist zu rebellieren. Der Leib verlor seinen Freibrief, der ihn gegen Krankheit, Schmerz und sogar gegen den Tod schützte. Die Stammeltern mußten das Paradies verlassen, worin sie die ersten Tage der Unschuld, die Tage der Gnade und die Tage des Glücks zugebracht hatten. Was für ein herber Verlust!
Aber die erste Sünde ging noch tiefer. Außer dem Verlust der übernatürlichen Gottebenbildlichkeit verwundete sie auch die Natur des Menschen schwer. Sie verwandelte die frühere Herrlichkeit von Leib und Seele in eine schadhafte Ruine. – Ja, die Seele war noch immer ein unsterblicher Geist, aber ein gefallener Geist. Sie war noch immer begabt mit Verstand, aber dieser Verstand war verdunkelt, ein trüb brennendes Licht. Sie hatte noch immer freien Willen, aber dieser Wille war schwach und zum Bösen geneigt.
Die Erbsünde
Diese Wirkungen der ersten Sünde machten nun keineswegs bei unseren Stammeltern halt, sondern haben ganz offensichtlich das ganze Menschengeschlecht in das größte Elend gestürzt. Aus der „ersten Sünde“ wurde die „Erbsünde“. Der hl. Apostel Paulus schreibt im Römerbrief: „Gleichwie durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist, und durch die Sünde der Tod; so ist [auch] der Tod auf alle Menschen übergegangen, weil alle in ihm [in Adam] gesündigt haben.“ (Röm. 5,12). Die „conditio humana“, die Gegebenheiten, in denen wir Menschen leben, beweist hinlänglich allein schon durch die Tatsache, daß alle Menschen sterblich sind und auch ohne Ausnahme tatsächlich sterben, daß die erbsündliche Verwundung des Menschen Realität ist. Unser Stammvater Adam hat wirklich seine sämtlichen Nachkommen in größtes Elend gestürzt.
a) Ihr Wesen
Um uns jedoch von unserer Erlösungsbedürftigkeit zu überzeugen, ist es nun von Nutzen, wenn wir uns zuerst das Wesen der Erbsünde vor Augen führen. Was also ist die Erbsünde? Gewiß, sie geht von der ersten Sünde der Stammeltern aus. Es wäre aber eine falsche Vorstellung, zu denken, daß die ererbte Sünde in uns dasselbe wäre, was sie in Adam war. Nein, es liegt ein wesentlicher Unterschied vor!
Die Sünde Adams war eine Sünde der Tat, einer vorübergehenden, vielleicht augenblicklichen Tat. „Er nahm und aß.“ (Gen. 3,6). – Die ererbte Sünde in uns ist keine Sünde der Tat, sondern die Sünde eines Zustandes, d.h. das Sündhafte besteht in einem sündhaften Zustand, worin wir zur Welt kommen.
Nehmen wir ein Beispiel: Ein Dieb streckt seine Hand nach fremdem Gut aus und nimmt es an sich. Das ist das Werk eines Augenblicks, die Tat. In wenigen Sekunden ist sie vorüber. – Nachher verkauft er das Diebesgut an einen Hehler. Dieser behält das gestohlene Gut sein Leben lang. Dieser Zustand, worin er wissentlich und ungerechterweise das fremde Gut behält, ist sündhaft; und zwar eine Sünde des Zustandes. Die augenblickliche Sünde des Diebes, nimmt im Hehler Zuständlichkeit an, weil sie fortdauert. Auch die Sünde, die wir von Adam ererbt haben, ist eine Sünde des Zustandes. – Aber worin genau besteht dieser Zustand?
Gott hatte Adam mit herrlichen, übernatürlichen Gaben ausgestattet. Die größte unter ihnen war eine Anteilnahme am Leben Gottes selbst, das was wir heiligmachende Gnade nennen. Hätte Adam nicht gesündigt, so wären alle diese übernatürlichen Gaben als Erbe auf seine gesamte Nachkommenschaft übergegangen. Es war die erbliche übernatürliche Ausstattung des gesamten menschlichen Geschlechtes, die dem Adam anvertraut war. Er sündigte und durch seine Sünde verlor er diese übernatürliche Mitgift. Und zwar nicht nur für sich, sondern für das gesamte menschliche Geschlecht! Er sündigte als Stammvater aller und durch seine Sünde verlor er für alle seine Nachkommen.
Indem wir also als Kinder Adams zur Welt kommen, entbehren wir der übernatürlichen Gnade, die wir eigentlich haben müßten! Denn Gott hat sie Adam geschenkt stellvertretend für uns alle. Wir leiden also an einem Mangel von etwas, was eigentlich da sein müßte, doch seit der Sünde Adams fehlt. Dieser Mangel ist nun ein geschuldeter Mangel, weil Gott, der Geber aller Gaben Rechenschaft verlangt für all das, was er uns durch Adam zur Verwaltung anvertraut hat. Wir befinden uns damit in einem Zustand, in dem wir nicht sein dürften; in einem Zustand, der Gott mißfällt.
Schlimmer noch: Wir befinden uns in einem schuldbaren Zustand, den wir nicht bessern können! Die Güter, welche verlorengingen waren nämlich über-natürlich. D.h. sie übersteigen die menschliche Natur und damit die menschliche Leistungskraft. Wir können sie nicht wiederbeschaffen oder reproduzieren. Diese übernatürlichen Güter sind verspielt. – Die Folge davon ist verheerend. Denn: Gottes Gerechtigkeit muß sie einfordern! Wer die heiligmachende Gnade nicht aufzuweisen hat, verfällt der dafür verhängten Strafe der ewigen Verdammnis.
Wodurch aber kommt die Übertragung der Sünde zustande? Durch die Abstammung von Adam. Indem wir Kinder Adams werden, geht die Sünde auf uns über. Im Augenblick der Zeugung, wo wir in die Reihe der Kinder Adams eintreten, werden wir Sünder. Was David von sich bekennt, das gilt von allen Menschen: „In Ungerechtigkeit bin ich empfangen, in Sünden hat mich empfangen meine Mutter.“ (Ps. 50,7).
Denken wir uns zur Veranschaulichung eine Eisenkette von ungeheurer Länge. Jedes Glied, jeder Ring ist mit dem vorhergehenden und dadurch mit dem ersten Ring in Verbindung. Der erste Ring ist befestigt an der Decke eines hohen Raumes. Durch irgendwelche Umstände, durch Rost oder einen gewaltigen Schlag, geschieht es, daß das oberste Glied, das unmittelbar an der Decke befestigt ist, bricht. Der erste Ring wird gelöst und stürzt. Doch nicht nur der erste Ring der Kette, sondern alle Ringe, die an ihm hängen, stürzen in die Tiefe. Kein Ring kann sich aus eigener Kraft halten. Alle werden nach unten gerissen. Wir haben also eine Schuld geerbt, welche wir aus eigener Kraft nicht wiedergutmachen können. Die Erbschuld zieht alle Glieder der Nachkommenschaft Adams unweigerlich in den tiefen Abgrund. Darin nehmen wir zuständlich Teil an der einen Sünde unseres Stammvaters.
Ja, das verstehen wir, daß die Kinder Adams in einem Zustand zur Welt kommen, der Gott mißfällt. Aber! Was wir nicht verstehen ist: Warum bitteschön ist dieser Zustand für uns eine Sünde? Er scheint für uns Kinder Adams doch eher die Bezeichnung eines Unglücks als die einer Sünde zu verdienen. – Wenn Kinder in Armut geboren werden, weil die Eltern ihr reiches Erbe verschwendet haben, so ist die Armut für die Kinder ein Unglück, aber keine Sünde; für die Eltern, die an der Armut schuld sind, hingegen ist die Armut nicht nur Unglück, sondern sehr wohl auch Sünde. – Nun muß man aber mit der größten Entschiedenheit glauben, daß der Zustand, worin wir geboren werden, den eigentlichen Charakter der Sünde hat. – Wieso? Haben wir etwa durch eigenen Willen den Zustand herbeigeführt? Gewiß nicht! Diese Sünde findet sich ja bereits in den neugeborenen Kindern, die durch eigenen Willen noch gar nicht sündigen können. – Wie kann das aber Sünde sein, was wir nicht durch eigenen Willen begangen haben? Wie kann der Zustand für uns Sünde sein, den wir nicht durch eigenen Willen herbeigeführt haben?
Nun, das Wesen, die Bosheit und Sündhaftigkeit der Erbsünde erschließt sich uns Menschen nur sehr schwer. Der hl. Paulus spricht im 2. Thessalonicherbrief vom „Mysterium iniquitatis“ – vom „Geheimnis der Bosheit“ –, welches wirksam ist (vgl. 2. Thess. 2,7). Und im Römerbrief begründet der Völkerapostel unseren Anteil an der Schuld Adams, wie wir schon gehört haben, mit den geheimnisvollen Worten: „weil alle in ihm gesündigt haben.“ (Röm. 5,12). Weil wir alle in Adam gesündigt haben!
Die Erbsünde ist ein überzeitliches Geheimnis. Wir haben durch unsere Sünden heute, an der Sünde Adams damals, auf geheimnisvolle Weise unseren Beitrag geleistet, darin mit-gesündigt. Wir haben das erste Glied der Kette sozusagen durch unsere ganz persönliche Sündenlast mit beschwert, so daß wir auch unsern Anteil beigetragen haben, daß das erste Glied schließlich brach. Es bleibt ein Geheimnis! Das Geheimnis, daß „wir alle in Adam gesündigt haben“.
So dunkel und geheimnisvoll das Wesen der Erbsünde erscheint, so klar und sicher wurde ihre Existenz von Gott geoffenbart und von der unfehlbaren Kirche gelehrt. Das Konzil von Trient hat feierlich definiert: „Wenn jemand behauptet, daß Adam durch die Sünde seines Ungehorsams bloß den Tod und die Strafen des Leibes auf das ganze Menschengeschlecht vererbt habe, nicht aber die Sünde, welche der Tod der Seele ist, der sei im Banne. Anathema sit.“ (Sess. V. can. 2.). Also ganz klar: Es ist Dogma, daß Adam auch die Sünde, welche der Tod der Seele ist, auf das ganze Menschengeschlecht vererbt hat.
Auch ist es leicht nachzuweisen, daß dieser Glaubenssatz aus dem 16. Jahrhundert bis in die ersten Tage der Christenheit hinabreicht. Unser Dogma findet sich nämlich bereits durch die Praxis ausgesprochen in einem uralten Brauch der Kirche. Nämlich in dem Brauch die kleinen Kinder möglichst bald nach der Geburt zu taufen. Sie werden aber getauft „zur Vergebung der Sünden“, wie wir im Glaubensbekenntnis bekennen. Was für Sünden sollen einem neugeborenen Kinde denn vergeben werden? Persönliche Sünden, die sie mit eigenem, freiem Willen begangen haben? Unmöglich! Sie konnten noch nicht sündigen. Welche Sünde soll aber dann in ihnen getilgt werden? Keine andere als die Erbsünde.
Von den hl. Kirchenvätern hat besonders der hl. Augustinus die Lehre von der Erbsünde nachdrücklich vorgetragen. Er spricht zu einem Irrlehrer, der die Erbsünde leugnete: „Nicht ich habe die Erbsünde erfunden, woran von altersher der katholische Glaube geglaubt hat, du aber, der du sie leugnest, bist ein Neuerer.“ Und an einer anderen Stelle: „Nichts anderes als ich haben die Ausleger der Schrift über die Erbsünde geschrieben, keine andere Lehre hatten sie von ihren Vorfahren empfangen, keine andere haben sie der Nachwelt überliefert.“
b) Ihre Folgen
Im Gegensatz zu ihrem geheimnisvollen Wesen sind uns die Folgen der Erbsünde leicht zugänglich. Die Heilige Schrift bringt das auf den Punkt, was wir aus eigener Erfahrung bestens wissen: „Sinn und Gedanken des Menschen sind zum Bösen geneigt von Jugend auf.“ (Gen 8,21). – Wir brauchen nur die Zeitung aufzuschlagen oder die Nachrichten zu verfolgen. Kriege, Terror, Verfolgung, Flüchtlingselend. Bluttaten, Betrug, Ausbeutung. Die Versklavung des Menschen durch totalitäre Staatssysteme. Egal an welchen Ort auf dieser Welt wir hinschauen, egal auf welchen Lebensbereich der Menschen. Überall begegnet Sünde und Unrecht.
Dasselbe stellen wir sogar fest, wenn wir auf uns blicken. Was sehen wir da? Unsere Empfindlichkeit, unsere Unbeherrschtheit, die Habsucht, Trägheit, Eitelkeit und Genußsucht – und vor allem unseren Stolz! Alles Dinge, von denen wir wissen, daß sie nicht dem Willen Gottes entsprechen. Dinge, von denen wir wissen, daß sie uns eigentlich zum Schaden gereichen.
Oft haben wir es uns schon vorgenommen ein für alle Mal mit diesen schlechten Gewohnheiten zu brechen. Und doch schaffen wir es einfach nicht! Wir können uns bemühen wie wir wollen. Es ist ein Gesetz in unseren Gliedern, das „Gesetz des Fleisches“, wie es der hl. Paulus nennt, welches dem „Gesetz des Geistes“, also dem Gesetz unseres freien Willens widerstreitet und dabei so oft siegreich bleibt. Wir tun dann, was wir doch eigentlich gar nicht tun wollten.
So sind wir in unsere Sünden verstrickt und nicht frei. Mögen uns die Annehmlichkeiten dieses Lebens gelegentlich auch darüber hinwegtäuschen. In Wirklichkeit sind wir gefesselt in unserer Neigung zum Bösen und wir können uns einfach nicht davon lösen. Wir sind er-lösungs-bedürftig. Eine fundamentale Erkenntnis!
Der Ruf nach Erlösung
Die ganze Zeit des Alten Testamentes und all die furchtbaren Ereignisse, die darin berichtet werden, hat Gott zugelassen, um den Menschen zur Erkenntnis seiner Erlösungsbedürftigkeit zu führen.
Weil die Menschen selbst nach der Sintflut wieder dem Heidentum verfielen, erwählte Gott ein Volk, das auserwählte Volk. Im Volk Israel lebte in seinen heiligsten Gliedern das Bewußtsein der Erlösungsbedürftigkeit durch die Jahrhunderte fort.
Vielleicht am schönsten klingt die Sehnsucht Israels nach dem Erlöser im Ruf des hl. Propheten Isaias: „Rorate caeli! – Tauet ihr Himmel von oben, ihr Wolken regnet den Gerechten herab. Es öffne sich die Erde und sprosse den Heiland hervor.“ (Is. 45,8). Ein sehnsuchtsvoller Ruf nach einem Erlöser!
a) „Tauet Himmel!“
„Tauet ihr Himmel von oben!“ Nach oben geht zuerst sein Blick. Den Himmel ruft Isaias zuerst um Hilfe an. Wenn einer kommen soll, um die Not auf Erden zu lindern, so kann er nicht selber von dieser Erde sein. Die Erde kann den Erlöser nicht aus eigener Kraft hervorbringen, seitdem der Fluch der Erbsünde auf ihr lastet. Der Erlöser kann kein bloßer Mensch sein, wie die anderen Menschen es sind. Ein bloßer Mensch kann die Menschheit nicht erlösen. Wer selber als Nachkomme Adams unter dem Gesetz der Sünde steht und verstrickt ist in die allgemeine Schuld, kann Schuld und Sünde von der Welt nicht hinwegheben. Wenn der Erlöser kommt, dann muß er von woanders her kommen. Er muß vom Himmel kommen. Er muß Gott sein! Denn nur ein göttlicher Erlöser konnte uns erlösen. Nur Er konnte „ein Hohepriester [sein,] wie wir ihn brauchen; heilig, untadelig, unbefleckt, ausgesondert aus der Zahl der Sünder.“ (Heb. 7,26). Nur Sein Leib und Sein Blut ist die Opfergabe, die hinweg nimmt die Sünde der Welt, die Erlösung für alle zeitigt. Das alles weiß der Prophet Isaias wohl. Darum richtet sich sein Auge und seine Sehnsucht zuerst nach oben, nach dem Himmel, an dem die Wolken hinziehen und von dem der lebensspendende Tau und Regen niedersinkt. „Tauet Himmel von oben ihr Wolken, regnet den Gerechten herab.“
b) „Es öffne sich die Erde!“
Nachdem Isaias jedoch so den Himmel angefleht hat, wendet er sich auch an die Erde: „Es öffne sich die Erde und sprosse den Heiland hervor.“ Auch die Erde soll mithelfen, um der Welt den Erlöser zu bereiten. Wenn einer kommen soll, um der Erde Not zu lindern, so muß er selber von der Erde sein. Der Mensch hat gesündigt, darum muß der Mensch auch büßen. Gott, der unendlich vollkommene und unsterbliche Geist, kann keine Busse tun. Nur der Mensch hat einen Leib, den er als Opfergabe hingeben kann. Nur der Mensch hat Blut, das er zur Vergebung der Sünden vergießen kann. Darum ruft Isaias auch die Erde an, welche das Gras und die Blumen hervorsprossen läßt: „Es öffne sich die Erde und sprosse den Heiland hervor!“
Klingt das nicht seltsam? Kein Mensch kann uns erlösen; und doch: nur ein Mensch kann uns erlösen! Wie reimt sich das zusammen? – Dieser scheinbare Widerspruch löst sich nur dadurch auf, daß der Erlöser sowohl Gott sein muß, aber nicht bloß Gott, sondern auch Mensch, wie wir. Er muß Mensch sein, aber nicht bloß Mensch wie wir, sondern auch Gott. Der Erlöser muß Gottmensch sein!
Nur weil Er Mensch ist, kann er leiden und sterben um Sühne zu leisten für die Sünden. Nur weil Er Gott ist, hat sein Leiden und Sterben einen unendlichen Wert, der die Sünde wirklich vollends tilgt und uns die übernatürliche Gottebenbildlichkeit, die mit der ersten Sünde verloren ging, wiederverdient. Der Himmel muß dem Erlöser die Gottheit schenken, von der Erde muß er die Menschheit empfangen. Darum fleht der Prophet Isaias mit Recht Himmel und Erde zugleich an. In Jerusalem ist dieses Gebet zum ersten Mal aus dem Mund des Propheten zum Himmel emporgestiegen. Aber das Adventsgebet des Isaias ist durch die Kirche, welche sich diese Anrufung zu ihrem Ruf für den Advent erkoren hat, zum Adventsgebet für alle Zeiten geworden: „Tauet ihr Himmel von oben, ihr Wolken regnet den Gerechten herab. Es öffne sich die Erde und sprosse den Heiland hervor.“
Unsere Buße
Ja, beklagen wir es, daß unsere Stammeltern im Paradies gesündigt haben. Aber hüten wir uns, unsere Stammeltern anzuklagen oder zu beschuldigen! Sind wir etwa besser als sie? Freilich, sie haben große Gnaden gehabt und verloren. Aber auch bei uns geht ja durch die schwere Sünde das übernatürliche Ebenbild, die in der Taufe empfangene heiligmachende Gnade verloren.
Die ersten Menschen waren reich, über die Maßen reich von Gott ausgestattet. Die Gnaden, die wir erhalten, sind vielleicht weniger groß, dafür aber erworben durch das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes.
Wir sehen vor Augen, was Adam noch nicht sehen konnte, wohin die Sünde führt und geführt hat, in welches Leid, zu welchem Schmerz, zu Tod und Verwesung, und wir sündigen trotzdem.
Wir wissen, was Adam vielleicht noch nicht wußte, welch ein gefährlicher Feind der Satan ist, wie listig, wie mächtig, wie hinterhältig und gerissen. Und wir hüten uns trotzdem nicht vor der Gefahr und der nächsten Gelegenheit.
Wenn wir schwächer sind als Adam, so haben wir doch stärkere Mittel, uns zu schützen, die er nicht hatte. Die heiligen Sakramente; insbesondere das Bußsakrament und das allerheiligste Sakrament des Altares.
Ja, Adam hat gesündigt, aber soviel wir wissen, doch nur einmal. Dann begann er ein Leben vielhundertjähriger Buße. Wie oft aber haben wir gesündigt, und wo ist unsere Buße?
Beklagen wir also die Stammeltern, aber klagen wir sie nicht an. Lernen wir aus ihrer Sünde; was die Sünde ist; welche Folgen sie hat; wie leicht der Mensch in Sünde fallen kann; wie sorgfältig sie gemieden werden muß; wie hochherzig sie zu büßen ist. Wir sind ihnen in der Sünde gefolgt, folgen wir ihnen auch in der Buße!
Fangen wir in dieser Adventszeit wieder an ernsthaft den „alten Adam“ in uns zu bekämpfen, uns in Zucht zu nehmen, uns von der Welt zurückzuziehen in beschauliches Schweigen, wieder mehr und besser zu beten, den Sakramentenempfang gewissenhaft vorzubereiten. Machen wir uns bewußt welche Gunst uns Gott zuteil werden ließ, daß wir heute noch den katholischen Glauben, die Sakramente und alle übrigen Heilsmittel besitzen. Seien wir voll des Dankes. Und machen wir von alle dem Gebrauch. Rufen wir in dieser hl. Adventszeit mit der alt- und neutestamentlichen Kirche aus tiefster Seele nach unserem göttlichen Erlöser: „Tauet ihr Himmel von oben, ihr Wolken regnet den Gerechten herab. Es öffne sich die Erde und sprosse den Heiland hervor.“
Empfehlen wir diese heilige Zeit besonders derjenigen, die als einzige in Gottes Augen stets Wohlgefallen fand. Sie, welche Christus und damit alle Erlösungsgnaden in ihrem Schoß empfing, um sie der Welt zu schenken. Sie, die unbefleckte Jungfrau und Gottesmutter, die Mittlerin aller Gnaden, möge uns barmherzig bei der Hand nehmen, um uns durch diesen Advent zu begleiten; um uns herauszuführen aus der Finsternis unseres Sündenelends hinein in den Lichtkreis Jesu Christi, unseres Erlösers – wenn Er einst wiederkommt auf den Wolken des Himmels und mit großer Herrlichkeit. Amen.