3. Sonntag nach Ostern
Nur eine kleine Weile
Geliebte Gottes!
Ein Junge schaute dem Vater zu. Der Vater war Gärtner, der Junge fünf Jahre alt; gerade in dem Alter also, in dem noch keine Schulpflicht die Zeit beschneidet, die man so notwendig zum Schauen braucht. Der Vater pflanzte einen kleinen Obstbaum und erklärte, daß derselbe einmal groß werden und rotbackige Äpfel tragen würde. – „Wann wird das sein?“ fragte der staunende kleine Zuschauer. – „In zehn Jahren.“ – „In zehn Jahren erst!“ Was für eine Enttäuschung: Erst in zehn Jahren! – Wenn der Vater gesagt hätte: Das dauert eine Ewigkeit, es wäre für das Kind nicht schlimmer gewesen. – Es hat zwar das Jahr sowohl für einen Fünfjährigen als auch für den Vater gleicherweise 365 Tage. Aber der Kleine hat ein anderes Zeitgefühl. Für ihn ist ein Jahr ein Fünftel seines ganzen Lebens; für den Vater ein Vierzigstel. Zehn Jahre sind für den Kleinen viel länger als sein Leben, für den Vater nur ein Lebensabschnitt.
Die kleine Weile
Nach diesen Vorüberlegungen hören wir dem Herrn zu, wenn Er von der „kleinen Weile“ spricht: „Noch eine kleine Weile, und ihr werdet Mich nicht mehr sehen, und wieder eine kleine Weile, und ihr werdet Mich wiedersehen.“
Vom Augenblick des letzten Abendmahles an, wo Christus das Wort von der „kleinen Weile“ ausgesprochen hatte, bis zu seiner Himmelfahrt waren es nur einige Wochen. Wenn man so will, kann man dafür noch den Ausdruck „kleine Weile“ gelten lassen. Aber seitdem stecken wir schon 2000 Jahre in der anderen „kleinen Weile“, weil das Wort nicht nur den Aposteln, sondern auch uns gesagt ist: „Eine kleine Weile und ihr werdet Mich wieder sehen.“ – Für die Apostel kam ein gewisses Wiedersehen nach ihrem Tode, der speziell beim Evangelisten Johannes aber doch noch einige Jahrzehnte auch sich warten ließ. „Eine kleine Weile, und ihr werdet mich wiedersehen.“ Aber das eigentliche Wieder-Sehen mit glücklichen Menschenaugen kommt auch für die Apostel erst bei der Wiederkunft des Herrn am Ende der Tage, wenn die Seelen der Heiligen wieder mit ihrem Leib vereint werden. Erst dann können sie im verklärten Leib, mit verklärten menschlichen Augen den Herrn Wieder-Sehen.
Man könnte bitter werden, wenn man von der kleinen Weile hört, die Seine Kirche und so auch wir mit ihr, nun schon warten. Und doch darf der Herr so reden, weil er mit Ewigkeitsmaßstab mißt und lebt. „Für Gott sind tausend Jahre wie ein Tag.“ Umgerechnet wären also 2000 Jahre wie zwei Tage im Empfinden Gottes.
Doch auch wir werden einmal soweit sein, daß wir zugeben: Ja, es war eigentlich nur eine kleine Weile, so wie jener Junge einst lächeln wird, wenn er den ersten Apfel vom Baum seines Vaters pflücken und verzehren wird. Da wird auch er denken: „Was habe ich gemeint, wie lange zehn Jahre seien, es war gar nicht so schlimm.“ Und weil wir wissen, daß auch wir einmal so sagen werden, sollten wir jetzt schon manchmal versuchen „in Ewigkeit“ zu denken, d.h. in dem Zeitempfinden der Ewigkeit, also die Zeit dieses Lebens mit allem was sie bringt, nicht zu überschätzen; nicht zu erschrecken vor der Dauer unserer Drangsale; und nicht zu pochen auf die Länge unseres irdischen Glückes. Es ist alles nur „eine kleine Weile“!
Um uns darin zu üben, wollen wir deshalb heute fragen: Was bedeutet „die kleine Weile“ für uns? Wir wollen versuchen, darauf eine dreifache Antwort zu geben. Die kleine Weile ist:
- eine ernste Warnung und Mahnung,
- ein beglückender Trost und
- eine selige Hoffnung.
Eine ernste Warnung und Mahnung
Die kleine Weile ist einmal eine ernste Wahrheit. In der Epistel des heutigen Tages wird diese Wahrheit vom hl. Apostel Petrus begründet: „Ihr seid Fremdlinge und Pilger auf Erden.“ Also, ihr habt hier keine bleibende Stätte. Das ist ein Durchgang, das ist ein Übergang. Ihr müßt euch vorbereiten auf jenen Zustand, der ewig bleibt. Wir vergessen manchmal, daß wir nur kurze Zeit auf dieser Erde wandeln.
Wir richten uns zu häuslich auf dieser Erde ein und vergessen, daß wir nur eine kleine Weile hier sein werden, daß die Jahre so schnell vergehen. Und wenn es achtzig, fünfundachtzig, neunzig Jahre sind, sie sind wie ein Traum vergangen, wie ein Rauch, der in den Himmel flieht. Das ist im Kleinen so, das ist im Großen so.
Auch die Völker gehen dahin; wo sind die Hethiter, die Sumerer, die Babylonier? Wo sind die Westgoten? Die Ostgoten? Sie sind alle von der Bildfläche verschwunden.
Vor 90 Jahren sprachen vermessene Männer vom „tausendjährigen Reich“. Sie meinten damit die Herrschaft Adolf Hitlers. Das tausendjährige Reich hat ganze zwölf Jahre gedauert – „eine kleine Weile“.
Im Jahre 361 versuchte Kaiser Julian der Abtrünnige, das Christentum noch einmal zu unterdrücken und das Heidentum wieder herzustellen. Die heidnischen Tempel wurden wieder geöffnet. Der Sonnenkult wieder eingeführt. Die Christen wurden aus ihren Stellungen verdrängt. Es brach eine neue Christenverfolgung los, aber die Christen verzweifelten nicht. Sie waren überzeugt, daß die Reaktion nicht anhalten werde. Und siehe da! Nach zwei Jahren starb der Kaiser auf einem Feldzug in Persien. Der hl. Athanasius, ein Zeitgenosse, sprach damals davon: „Ein Wölkchen, das schnell vorüberzieht.“ So müssen wir auch die Drangsale unserer heutigen Tage – Inflation, Flüchtlingskrise, Krieg, usw., aber auch unsere persönlichen Leiden – einordnen. Ein Wölkchen, das schnell vorüberzieht!
Die Gestalt dieser Welt vergeht. Alles wechselt und wandelt sich wie ein Gewand. Es gilt aus der Vergänglichkeit des Lebens, die rechte Folgerung zu ziehen. Sie kann nur darin bestehen, daß wir das Leben als einen Übergang ansehen, als eine Vorbereitung. „Die Welt ist eine Brücke, geh’ auf ihr hinüber, aber baue nicht dein Haus auf ihr“, so mahnt ein Sprichwort.
Die kleine Weile hält uns an, vor Anstrengung, Beschwerlichkeit und vor Schinderei nicht zu fliehen. – In jedem Menschen, auch in uns, ist ja die Neigung, Lästiges zu meiden; Beschwerlichem aus dem Wege zu gehen. Wir stehen so manchmal vor der Frage: Soll ich diese Last, diese Mühe auf mich nehmen, oder soll ich es mir bequem machen? Da ist der Gedanke hilfreich: Gott erwartet unseren Dienst in Anstrengung. Gott hilft dem Schiffer, aber rudern muß er selber.
Zwei Gefahren bedrohen daher unsere Aussaat: Die Unterlassung und der Aufschub. Es gibt Unterlassungssünden. Man ist nicht nur verantwortlich für das, was man tut, sondern auch für das, was man nicht tut. „Wer das Rechte zu tun versteht, und es nicht tut, begeht Sünde“, schreibt der hl. Apostel Jakobus in seinem Brief. Und der hl. Paulus mahnt: „Laßt uns Gutes tun, solange wir Zeit haben.“ Christus hat es ja zu allererst gesagt: „Es kommt die Nacht, da niemand wirken kann!“ Es kommt der Tod, mit dem die Zeit des Wirkens zu Ende ist. – Denken wir immer an das Ende und daß die verlorene Zeit nicht wiederkehrt. „Der Augenblick wird kommen“, so kann man in der Nachfolge Christi lesen, „wo du einen einzigen Tag oder eine Stunde dir wünschen würdest, um dich zu bessern. Aber ich weiß nicht, ob du sie erlangen wirst.“ – Und der hl. Pfarrer von Ars hat einmal gepredigt: „Hätten die Verdammten die Zeit, die wir manchmal so unnütz vertun, welch heilsamen Gebrauch würden sie davon machen. Hätten sie nur eine halbe Stunde Zeit, diese halbe Stunde würde die Hölle entvölkern.“ Aber sie haben keine halbe Stunde Zeit!
Neben der Unterlassung ist auch der Aufschub zu vermeiden. Es ist gefährlich Dinge aufzuschieben, die nun einmal getan werden müssen. Selten ist das, was heute zu tun ist, morgen leichter zu bewältigen. Häufig ist es morgen schwerer, das zu erledigen, was heute vollendet werden sollte. Vor allem ist es gefährlich, die Bekehrung aufzuschieben. Die Gnadenstunden Gottes kommen und gehen. Es kann sein, daß sie nicht wiederkehren. Nutzen wir sie. – Der hl. Augustinus hat einmal geschrieben: „Du sagst, von morgen an will ich gut leben. Höre! Gott hat dir die Verzeihung versprochen, den morgigen Tag hat Er dir nicht versprochen.“ Gott will, daß wir unser ganzes Leben ihm weihen, nicht nur einen Abschnitt, etwa in der Zukunft. Die Bekehrung auf das Alter verschieben, heißt: laufen wollen, wenn man keinen Atem mehr hat.
In der französischen Revolution gab es in Paris einen Bischof namens Jean-Baptist Joseph Gobel (1727-1794). Gobel wurde Bischof von Paris, weil man den rechtmäßigen Bischof vertrieben hatte. Gobel hatte den Bischofssitz usurpiert, sich also den erzbischöflichen Stuhl von Paris angemaßt. Er kannte sein Vergehen. Er soll es später auch bereut haben. Aber er fand nicht die Kraft, seinen Platz zu räumen. Bekannte und Freunde mahnten ihn. Er vertröstete sie auf später. Als er am 13. April 1794 selber hingerichtet wurde, da war es zu spät, da hatte er sein Vorhaben noch nicht ausgeführt, sein Vergehen noch nicht endgültig gebüßt. Jetzt war es zu spät mit der Bekehrung auch wirklich ernst zu machen. Die Bekehrung aufschieben ist gefährlich!
Ein beglückender Trost
Die kleine Weile ist eine ernste Warnung und Mahnung, aber auch ein beglückender Trost. Wir wissen es, das Leid ist mit unserem Leben, mit jedem Leben, untrennbar verknüpft. Es gibt keinen Menschen, der nicht Leid zu tragen hätte. Gottes weise Vorsehung hat es so eingerichtet, daß Leid jedes Menschenleben begleitet. Das Leid hat eine unersetzbare Aufgabe in unserem Leben. Jedes Leid, das uns trifft, ist ein Bote Gottes. Es hat uns etwas auszurichten. Es gibt keine sinnlose Leidens-Botschaft. Wir müssen sie nur lesen lernen, wie der Dichter Joseph von Eichendorff sagt: „Trifft dich ein Schmerz, so halte still, / Und frag dich, was Er von dir will, / Der liebe Gott, der schickt dir keinen, / Nur darum, daß du solltest weinen.“
Durch das Leid will Gott uns gestalten, will er uns formen, will er uns nach seinem Bilde meißeln. Wir sollen Tugenden lernen. Das Leid ist der große Lehrer der Menschen. Unter seinem Hauch entfalten sich die Seelen. – Der hl. Wenzeslaus von Böhmen, wurde auf dem Schlachtfeld besiegt und gefangengenommen. Man fragte ihn, wie ihm nach diesem Schicksal zumute sei. Da antwortete er: „Niemals besser als jetzt! Als ich noch im Besitz meiner ganzen Macht war, fand ich fast keine Zeit, an Gott zu denken. Jetzt aber, von allem entblößt und von allen verlassen, denke ich nur noch an Gott und setze auf Ihn alle meine Hoffnung!“
Im Allgemeinen gilt die Regel: Je mehr der Mensch bei Gott ist, umso mehr muß er sich auf Leiden gefaßt machen. Gott führt jene, die er lieb hat, auf den Weg der Leiden. Und je größer seine Liebe ist, umso härter sind die Leiden. Warum? – Es muß so sein, weil das recht ertragene Leiden unsere Seele von unserer selbstsüchtigen Eigenliebe reinigt! Die Frömmigkeit darf deshalb kein Rechenexempel, keine Unfallversicherung gegen das Leiden, kein Geschäft mit Gott sein. Wir dürfen Gott nicht dienen, damit es uns gut geht. Wir dürfen nicht erwarten, daß uns das Gebet, die heilige Messe, die Kommunion vor Kummer und Not bewahrt.
Nicht Gott ist unser Diener, sondern wir sind seine Diener. Wir sind ihm zum Dienste verpflichtet und dieser Dienst muß lauter geleistet werden. Lauter, d.h. ohne Berechnung des Lohnes. Wir dürfen keinen irdischen, keinen zeitlichen, diesseitigen Lohn für unseren Dienst erwarten. Um der Lauterkeit der Gottesliebe willen, schickt uns Gott – auch dem Frommen – Ungemach, Trübsal, Leid. Er sucht ihn heim mit Widerwärtigkeiten und Mißgeschick. Gott prüft die Echtheit unserer Gottesliebe. Er will sehen, ob wir ihn nur lieben, wenn er gibt, oder auch, wenn er nimmt.
Gott mißt das Leid für einen jeden ab nach seiner unergründlichen Weisheit. Aber es gibt einen Trost, nämlich häufig dauert das Leid nur eine kurze Weile. Es geht vorüber, es kommen auch wieder andere Tage. Die Sonne geht unter, aber sie geht auch wieder auf. Oft spricht Gott zu uns: „Noch eine kleine Weile mußt du das Kreuz tragen, das dir auferlegt wurde, das Ich dir auferlegt habe – noch eine kleine Weile, aber dann wird es dir abgenommen.“
Allerdings kommt das Leid nicht immer nur für „eine kleine Weile“. Für viele Menschen ist das Leid von langer Dauer. Eine verkorkste Jugend; eine unglückliche Ehe; ein ungeliebter Beruf; eine nicht behebbare Behinderung; ein unnachgiebiger Feind. – Für manche dauert dieses Leid ein ganzes Leben lang. Aber verglichen mit der Ewigkeit ist auch die längste Leidenszeit kurz, ist sie tatsächlich „eine kleine Weile“. Und einmal ist selbst das lange währende Leid zu Ende. Es kommt der Tag, an dem Gott spricht: „Es ist genug. Du hast genug gearbeitet. Laß den Spaten stehen. Du hast genug gelitten.“ Der Tag des Todes, die dreizehnte Station im Kreuzweg unseres Lebens, wird auch einmal für uns anbrechen. Und dann werden auch wir vom Kreuz abgenommen. Der Tod ist auch eine Befreiungsstunde. Ein Trost.
Eine selige Hoffnung
Eine kleine Weile, eine ernste Warnung und Mahnung, ein beglückender Trost, aber auch – drittens – eine selige Hoffnung. Denn wir haben die Verheißungen des Herrn, die nicht trügen: „In Meines Vaters Haus sind viele Wohnungen.“ „Ich gehe hin, euch eine Wohnstätte zu bereiten.“ „Das ist der Wille Meines Vaters: Jeder, der den Sohn sieht und an Ihn glaubt, soll das ewige Leben haben.“ „Wenn einer Mein Wort hört, wird er in Ewigkeit den Tod nicht schauen.“ „Wenn Ich erhöht bin, werde Ich alle an mich ziehen!“ Wir haben hier keine bleibende Stätte. Unsere Heimat ist im Himmel. Bei Gott sind wir zu Hause, und dahin sind wir unterwegs. Nach dieser Heimat sehnen wir uns. Das Sterben bringt uns in die Heimat. Deswegen dürfte eigentlich keine christliche Seele ohne Heimweh nach dem Himmel sein.
Wir sehnen uns nach der Heimat in der Ewigkeit. Wir brauchen nicht an den Verheißungen des Herrn zu zweifeln. Seine Worte haben die höchste Garantie. Er spricht nicht nur die Wahrheit, er ist die Wahrheit. Unser Herr betrügt uns nicht. Er verspricht nicht, was er nicht halten kann. Er hat die Macht, es zu verwirklichen. Er redet aus göttlichem Wissen. Er spricht aus eigener Erfahrung. Er hat den Tod überwunden. Er ist aus dem Grabe erstanden. Er hat sich als lebend erwiesen. Seine Verheißungen sind in Erfüllung gegangen – an Ihm. Und sie werden auch an uns in Erfüllung gehen.
Der ewige unveränderliche Gott steht wie eine leuchtende Sonne über der kleinen Weile unseres Lebens. Wie oft haben wir nicht schon in diesem Leben gebetet: „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes.“ Wenn die kleine Weile unseres irdischen Daseins zu Ende geht, wird es uns so gehen, wie dem eingangs erwähnten Jungen, der an dem Tag, da er den ersten rotbackigen Apfel vom Baum seines Vaters pflückt, denken wird: „Was habe ich gemeint, wie lange meine Lebens- und Leidenszeit doch sei; es war gar nicht so schlimm, nur eine kleine Weile.“ Deshalb wollen wir mit unserem Dichter zu Maria beten: „Wenn die Menschen mich verlassen / In der stillen letzten Stund’, / Laß mich fest das Kreuz umfassen. Aus dem dunklen Erdengrund / Leite liebreich mich hinaus, / Mutter, in des Vaters Haus!“ Amen.