Die Sprache der Wunden Jesu

Geliebte Gottes!

Wer von Grund auf erkennen und verstehen will, welch großes Übel die Sünde ist, der kann dies tun, indem er an Luzifer und dessen Anhang oder an die Stammeltern Adam und Eva, denkt und dabei erwägt, welche Strafe sowohl den bösen Engeln als auch den ersten Menschen aus nur einer einzigen Sünde, einer einzigen Todsünde erwachsen ist. – Ferner kann man versuchen zu erwägen welch schreckliches Gewicht auch nur eine Todsünde haben muß, wenn man bedenkt wie hart und wie lange nur eine einzige schwere Sünde von Gott bestraft wird: nämlich mit den Qualen der Hölle, mit den ewigen Qualen der Hölle. Doch das sind eher abstrakte Erwägungen, die dafür angestellt werden müßten.

Besonders anschaulich kann jedoch erfaßt werden, welch großes Unheil in einer einzigen Sünde liegt, wenn wir das Leiden und den Tod Jesu Christi, des Sohnes Gottes, ins Auge fassen. – Es besteht bekanntlich eine sehr enge und vielfältige Beziehung zwischen den Sünden der Menschen einerseits und dem Leiden und Sterben Jesu andererseits. Was für eine Beziehung? Kurz gesagt:

  1. Unsere Sünden sind die Ursache des Leidens Jesu; und
  2. Das Leiden und Sterben Christi ist sowohl die notwendige Buße, als auch die vollumfängliche Genugtuung für unsere Sünden.

Diese beiden Gedanken wollen wir heute zu Ehren Seines bitteren Leidens erwägen.

Die Ursachen des Leidens Christi

Die Sünden der Menschen und zwar aller Menschen sind die Ursache des Leidens und Todes Christi. Dieser Satz ist buchstäblich wahr und ist eine von den wichtigsten Lehren des katholischen Glaubens. Es ist wichtig und auch nützlich, uns den Sinn dieses Satzes klarzumachen. Eine ganze Reihe, eine lange Kette von Ursachen haben das Leiden unseres Heilandes verschuldet. Unsere Aufgabe soll es zunächst sein, die Ursachenkette des Leidens Christi bis auf ihren Ursprung zurückzuverfolgen, um uns die Hauptursache ganz klar zu machen.

a) Die Marterwerkzeuge

Wenn wir nach der allernächsten und unmittelbaren Ursache des Leidens Jesu Christi fragen, dann zeigen sich dem Auge unseres Geistes die blutigen Geißeln, die spitzen Dornen, die scharfen Nägel, der Hammer, das Kreuz, die Lanze. Doch das sind unschuldige Ursachen; tote Werkzeuge, die dem Heiland kein Leid hätten zufügen können, wenn sie nicht von den grausamen Händen ungerechter Menschen gebraucht worden wären. Auch wenn es die Marterwerkzeuge waren, die unserem Herrn die Wunden geschlagen haben, so bedurften diese doch einer zweiten, höheren Ursache.

b) Die Henkersknechte

Diese zweite Ursache des Leidens Christi sind folglich die Henkersknechte und Soldaten, die Ihn entblößt, gegeißelt, mit Dornen gekrönt, verspottet, geschlagen und bespien haben; die Ihm das Kreuzesholz aufgeladen, Ihn durch die Straßen Jerusalems bis vor die Stadt hinaus, nach Golgotha gezerrt, Ihn dort gekreuzigt und erhöht haben. – Doch auch sie haben nicht aus eigenem Antrieb gehandelt. Auch sie wurden von einer höheren Ursache bewegt. – Wer aber hat diesen Unmenschen den Befehl gegeben, den Heiland zu quälen und zu töten? Pilatus hat es befohlen. Die Juden haben es verlangt und den heidnischen Statthalter dazu gedrängt – aus Neid, aus Haß gegen Jesus.

c) Der Richter

Pilatus mag also tausendmal sagen: „Ich bin unschuldig am Blute dieses Gerechten“ (Mt. 27, 24); er hat Schuld am Tode Jesu. Mag er tausendmal seine Hände in Unschuld waschen; das Blut Christi bleibt daran kleben. Mag er tausendmal zu seiner Entschuldigung vorbringen, er habe diesen Jesus von Nazareth ja freilassen wollen, sei aber von den Juden dazu genötigt worden, das Todesurteil über Ihn zu sprechen. Bis zum Ende der Welt wird sein Richterspruch ein mahnendes Beispiel sein, was die Menschenfurcht fertigbringt und daß man um ihr nicht zu unterliegen das Recht nicht beugen darf, sondern Gott mehr gehorchen muß, als den Menschen; daß man die Freundschaft des Kaisers, der Einflußreichen und Mächtigen geringschätzen, ja verachten muß, wenn es um die Gerechtigkeit und damit um die Freundschaft mit Gott geht.

d) Das auserwählte Volk

Die Hohenpriester, die Juden sind freilich noch mehr schuld. Sie haben durch ihre Klagen, ihre Drohungen, ihr Geschrei den Pilatus eingeschüchtert. Der hl. Augustinus sagt: „Wenn er [Pilatus] nun schuldig ist, weil er – wenn auch wider seinen Willen – es [das Todesurteil über Jesus] gefällt hat; sollen nun die, welche ihn dazu zwangen, unschuldig sein? Auf keinen Fall! Er sprach zwar das Urteil über ihn, ließ Ihn kreuzigen und war gleichsam der Mörder. Aber auch ihr, Juden, habt Ihn ermordet. Wie denn? Durch das Schwert der Zunge. Denn ihr habt eure Zungen geschärft. Und wann habt ihr sie geschärft, wenn nicht damals, als ihr riefet: ‚Kreuzige Ihn, kreuzige Ihn!‘“ (In Ps. 63). – Das Volk und seine Anführer müssen ebenfalls als die Mörder Jesu Christi und damit folglich auch als Ursache an Seiner Passion bezeichnet werden, haben sie doch Sein Blut gefordert, als sie schrien: „Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder“ (Mt. 27, 25).

e) Der freie Wille Christi

Wir sind aber immer noch nicht am Ende der Ursachenkette angelangt. Da Jesus der Sohn Gottes ist, so ist es gewiß, daß alle Ursachen, die wir bisher aufgezählt haben, nichts gegen Ihn vermocht hätten, wenn Er Selbst es nicht gewollt und zugelassen hätte. Darum ließ der Herr im Ölgarten, beim Beginn Seiner Passion die Knechte der Hohenpriester und die Soldaten der Tempelgarde, die sich anschickten ihn zu ergreifen, mit nur einem Wort Seines Mundes zu Boden stürzen, um ihnen Seine göttliche Souveränität ein letztes Mal zu demonstrieren. Christus ging seinen Häschern entgegen. „Wen suchet ihr?“ (Joh. 18, 5), fragte Er sie. „Jesus, von Nazareth.“ – Und um ihnen zu beweisen, daß Derjenige, den sie suchen, der Sohn Gottes ist, antwortete Er ihnen: „Ich bin es.“ – eine Anspielung auf den Gottesnamen, der dem Moses am brennenden Dornbusch geoffenbart wurde. Gott sprach zu Moses auf die Frage wer Er sei: „Ich bin der: Ich bin“ (Ex. 3, 14). Genauso bekannte Jesus im Ölgarten den Juden: „Ich bin es.“ Und der hl. Johannes fährt fort: „Da wichen sie zurück und fielen zu Boden“ (Joh. 18, 6) – Mit dem Bekenntnis Seines göttlichen Seins schlägt Jesus Seine Feinde zurück; mit nur einem Wort wirft das Wort Gottes Seine Verfolger nieder. Das beweist am deutlichsten, daß niemand Hand an Jesus hätte legen können, wenn Er es nicht Selbst so gewollt hätte. Weil Er der allmächtige Gott ist, so hätte Er sich jeden Augenblick Seiner Passion dem Leiden entziehen und Seine Feinde vernichten können, wenn Er nur gewollt hätte.

f) Die Liebe Christi

Christus hat also freiwillig gelitten. Wenn Er aber freiwillig gelitten hat, so müssen wir nicht bloß außerhalb von Ihm, sondern auch in Ihm – also in Seinem heiligsten Herzen – eine Ursache, einen Beweggrund suchen, der Ihn dazu bestimmt hat, der Ihn angetrieben hat, so viele und schwere Leiden auf Sich zu nehmen. – Was war dieser Beweggrund? Was war das Leidensmotiv Jesu? Es war Sein Erbarmen mit uns; Sein Mitleid mit uns; Seine unbegreifliche Liebe zu uns. – Der hl. Paulus sagt: „Gott aber hat Seine Liebe zu uns darin erwiesen, daß Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren“ (Röm. 5, 8). Und der hl. Johannes schreibt in seinem ersten Brief: „Darin steht die Liebe: nicht daß wir Gott geliebt haben, sondern daß Er uns geliebt hat und gesandt hat Seinen Sohn zur Versöhnung für unsere Sünden“ (1. Joh. 4, 10). Jesus hat gelitten, um uns von der Sünde zu erlösen. Hätte Er uns nicht geliebt, so hätte Er nicht für uns gelitten.

g) Die Sünden der Menschen

Doch ist die erbarmende Liebe Christi immer noch nicht die letzte Ursache Seines Leidens. Warum bewog Ihn denn Seine Liebe, zu leiden? Weil dieses Leiden der einzige Weg war, um uns die Pforten des ewigen Lebens zu öffnen und uns vor dem Abgrund des ewigen Verderbens zu bewahren.

Worin lag aber die Ursache, daß wir auf keinem anderen Weg gerettet werden konnten? Sie lag einerseits in der Gerechtigkeit Gottes, die das Sühneleiden des Gottessohnes als eine Genugtuung verlangte; und im allerletzten Grunde in den Sünden der Menschen, die diese Genugtuung der göttlichen Gerechtigkeit schuldig waren, sie aber nicht aus eigenen Kräften leisten konnten.

Darin haben wir den Ursprung, den letzten Ring in der langen Ursachenkette, die das Leiden des Heilandes bewirkt haben: Es sind die Sünden der Menschen. Alle Sünden aller Menschen. Unsere Sünden. – Jede Sünde jedes Menschen. Jede meiner Sünden. Jede Ihrer Sünden.

Wenn die Sünde nicht wäre, wäre dann eine Genugtuung erforderlich? Nein. Wenn keine Sühne gefordert wird kann dann eine geleistet werden? Nein. Wenn keine geleistet wird, würde dann die Bosheit der Menschen und die Schärfe der Marterwerkzeuge dem Heiland schaden können? Nein. Ohne die Sünde wäre Christus, wie ein großer Teil der Theologen annimmt, überhaupt nicht Mensch geworden. – Der Gottessohn ist also einzig zu dem Zweck auf die Erde gekommen, um für unsere Sünden zu leiden. Unsere Sünde und Sein Tod, das sind die äußersten Punkte an der langen Kette von Ursachen. Unsere Sünde ist die allererste und tiefste Ursache. – Sein Tod ist die allerletzte Wirkung.

Das bestätigt uns die Heilige Schrift; besonders der hl. Paulus. In seinen Briefen ist sehr oft zu lesen: Jesus Christus ist für uns gestorben. Christus ist für unsere Sünden gestorben; nicht bloß für unsere, sondern für die Sünden der ganzen Welt. Die Sünden der Welt sind die Ursache des Leidens und des Todes Christi. Denn unsere Sünden konnten keine Verzeihung finden, als durch das Sühneleiden des Gottmenschen. Also mußte Christus leiden (vgl. Lk. 24, 26), um uns – die Er so lieb hatte – von unseren Sünden zu erlösen.

Die Notwendigkeit des Leidens Christi

Worin liegt aber die Notwendigkeit dieses Zusammenhanges zwischen unseren Sünden und dem Leiden Christi begründet? Darin, daß die Gerechtigkeit Gottes für die Ihm geschehene Beleidigung eine Genugtuung und zwar eine vollkommene Genugtuung forderte; groß genug, um die durch die Sünde geschehene Beleidigung wiedergutzumachen.

Von Genugtuung kann ja nur die Rede sein, wo eine Beleidigung vorausgegangen ist. Wer kann die Genugtuung fordern? Natürlich der Geschädigte. – Wer hat zu bestimmen, wie groß die Genugtuung sein, worin sie bestehen, wann sie geleistet werden soll und von wem? Ebenfalls der Geschädigte. – Wer muß die Genugtuung leisten? Klar! Derjenige, der den Schaden angerichtet hat; also der Schädiger. – Wie groß muß dessen Genugtuung sein? Sie muß in ihrer Höhe wenigstens im Verhältnis stehen zu der Größe der Beleidigung, zum verursachten Schaden.

Wenden wir diese Grundsätze auf unseren Fall an. Wer ist der durch die Sünde Geschädigte? Wer ist der durch die Sünde Beleidigte? Die unendliche Majestät Gottes. Wer ist der dafür verantwortliche Schädiger, der Beleidiger? Der Sünder; das Geschöpf Gottes, das Werk Seiner Hände, das es wagt seinem Schöpfer ins Gesicht zu schlagen. – Wie viele solche Beleidigungen mußte die Majestät Gottes erleiden? Unzählige! – Wer hat die Genugtuung dafür zu fordern? Es ist Gott der Gerechte. Und Gott fordert sie auch.

Wohlgemerkt, schon das ist Barmherzigkeit, daß Gott überhaupt bereit ist, eine Genugtuung anzunehmen! Und zwar keine andere, als eine solche, die im Verhältnis steht zu der Größe der beleidigten Majestät Gottes. Wie groß ist die Majestät Gottes? Unendlich groß! – Von welcher Größe muß dann die Wiedergutmachung des Sünders sein, der sie beleidigt hat? Von unendlicher Größe!

Wer kann eine solche Genugtuung leisten? – Kein Mensch. Kein Engel. Kein Geschöpf. Denn sie alle sind endlich und begrenzt. Jede, auch die vollkommenste von ihnen geleistete Genugtuung bliebe doch begrenzt und damit unendlichweit hinter der Forderung Gottes zurück. Aufgrund seiner Endlichkeit und Begrenztheit kann kein Geschöpf eine unendliche Genugtuung leisten. – Nur einer ist unendlich: Gott. Nur eine Person besitzt neben dem himmlischen Vater und dem Heiligen Geist eine unendliche Würde. Die Person des Gottessohnes, Jesus Christus. Deshalb kann nur der fleischgewordene Gottes Sohn die geforderte unendliche Genugtuung leisten, indem Er für uns leidet. – Und genau das tut Er. Er wird Mensch, lebt, leidet und stirbt.

Die Vollkommenheit der Genugtuung Christi

Die Sühne Jesu am Kreuz war dabei nicht nur hinreichend, sondern eine vollkommene Genugtuung. Vollkommen nicht nur wegen der göttlichen Person Jesu Christi. Ein Tropfen Seines kostbaren Blutes wäre hinreichend gewesen, um tausend sündige Welten zu erlösen.

Vollkommen war sie auch in seiner Wirkung. Die Genugtuung, die im Leiden Jesu lag, hat bewirkt, daß Gott nicht bloß bereit war, alle Sünden zu verzeihen, sondern auch den Strom Seiner Gnaden reicher denn je auszugießen und die verschlossenen Himmelstore von neuem für den Menschen zu öffnen.

Vollkommen war die Sühne Christi endlich in der Art und im Umfang der Genugtuung. Das Leiden unseres Herrn war so beschaffen, daß in ihm die vollgültige Buße und Genugtuung für alle Sünden und für alle Arten der Sünden ohne Schwierigkeit erkannt werden können.

Die Sprache der Wunden Jesu

Als der große Julius Cäsar ermordet wurde – von vielen Dolchstichen durchbohrt –, da hielt ihm sein Freund Marcus Antonius die Leichenrede. In dem Stück Shakespeares, in dem diese Rede inszeniert ist, forderte Marcus Antonius das Volk von Rom auf, die Wunden Cäsars zu betrachten. Seine Wunden seien „arme stumme Münder“, so nennt er sie, „arme stumme Münder“ – „poor poor dumb mouth“, die zu den Bürgern Roms sprächen. Jede Wunde, so sagte Antonius, sei eine Zunge, welche die Steine von Rom zu Erhebung und zum Aufstand bewege.

Blicken wir im Geiste auf den Gekreuzigten! Was sehen wir? Wir sehen an Ihm Wunden und Striemen; unzählige Wunden. Und auch die Wunden Jesu sprechen.

a) Die Sprache der Liebe

Paulus hat ihre Sprache vernommen und für uns, die wir uns so schwer tun diese Sprache zu verstehen, übersetzt, wenn er sagt: „Er hat mich geliebt; Er hat sich hingegeben für mich“ (Gal. 2, 20). Das ist die Sprache der Wunden Jesu: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, daß Er Seinen eingeborenen Sohn dahingab“ (Joh. 3, 16).

Die Wunden Jesu reden. Sie haben eine Stimme, die unüberhörbar ist. Sie erzählen uns von der erbarmenden Liebe Gottes. Sie erzählen uns von der stellvertretenden Sühne Jesu für alle Menschen. Denn ausnahmslos alle Seine Glieder sind blutig geschlagen, ja, eine einzige Wunde! „Von der Fußsohle bis zum Scheitel ist nichts Heiles an ihm“ (Is. 1, 6). So hat Er an allen Seinen Gliedern für alle Glieder der Menschheit der Kraft nach Genugtuung geleistet.

b) Die Sprache der Sünde

Ferner erzählen uns die Wunden des Gekreuzigten, wie Christus für jede Art von Sünden genüge getan hat. Man kann die Sünden einteilen, wie man will: Alle Arten von Sünden sind in Sein Fleisch eingemeißelt. Jede Gattung der Sünde findet an Ihm ihre gerechte Strafe und ihre vollumfängliche Genugtuung.

Erstens: Man teilt die Sünden ein in „Sünden des Geistes“ und „Sünden des Fleisches“. Betrachten wir Sein Fleisch und wir sehen, daß Er für die „Sünden des Fleisches“ gesühnt hat. Er hat aber auch genuggetan für die „Sünden des Geistes“. Sprach Er doch schon im Ölgarten: „Meine Seele ist betrübt bis in den Tod“ (Mt. 26,38). Er fing an sich zu betrüben und tiefe Abscheu zu empfinden. Er geriet in Todesangst. Er zitterte an allen Gliedern. Ihm trat Blutschweiß auf die Stirn. Das waren Regungen und Wirkungen Seines gequälten Geistes.

Zweitens: Man kann alle erdenklichen Sünden, zu denen die Menschen fähig sind, in sieben Gruppen unterteilen, und jede von ihnen einer der sieben Hauptsünden zuordnen. Für alle hat unser Herr genuggetan:

Etwa für die „Sünden des Stolzes“. Gedemütigt hat Er Sich selbst, als Er den Jüngern noch im Abendmahlsaal die Füße wusch. Gedemütigt wurde Er von Seinen Feinden. Er wurde ins Gesicht geschlagen, angespien, verhöhnt und verspottet. Er trägt die Dornenkrone auf dem Haupt. Er bekam sie von hoffärtigen, überheblichen, stolzen Menschen aufgesetzt. – Ja, kann ein Mensch tiefer in den Staub getreten werden, als daß er einem Mörder wie Barabbas nachgesetzt und wie ein Rebell an den Schandpfahl des Kreuzes geheftet wurde? – „Ein Wurm bin ich, kein Mensch mehr“ (Ps. 21,7). So betet Christus am Kreuz. Ein Wurm! Zertreten vom Stolz aller Menschen; zertreten von unserem Stolz!

Die „Sünden des Neides“ hat Er gesühnt, indem Er die unzähligen Verwünschungen, Lästerungen und Verleumdungen Seiner Feinde geduldig anhörte; ohne sich zur rechtfertigen; ohne Seinen Feinden Ihre eigenen Verfehlungen unter die Nase zu reiben. Er tat damit genüge für unsere Mißgunst und unsere Schadenfreude, die das Gut des anderen als persönlichen Schaden betrachtet und sich am Mißerfolg des Nächsten weidet, wie der spottende Pöbel es unter dem Kreuz getan hat: „Anderen hat Er geholfen, Sich selbst kann Er nicht helfen“ (Mt. 27, 42).

Auch die Sühne für die „Sünden des Geizes“ finden sich an Ihm: Hatte Er schon zu Lebzeiten nichts, wohin Er Sein Haupt hätte legen können; erst recht jetzt, wo die quälenden Schübe der Schmerzen seinen ganzen Leib durchzucken und Ihn Sein verzerrtes Antlitz hin und her werfen lassen. – Schauen wir Ihn uns an: So arm ist Er, daß Er in Seiner Sterbestunde nichts hat, außer einen Stoffetzen, der Seine Lenden bedeckt. Materielle Güter hat Er nicht. Doch Er beraubt sich selbst der geistigen. Sogar des einzigen Trostes, der Ihm geblieben war, entäußerte Er sich mit den Worten: „Frau, siehe deinen Sohn. – Sohn, siehe deine Mutter“ (Joh. 19, 26). Unser Herr verzichtet auf den teuersten Schatz, den Er besaß; das schönste Kleinod, das Meisterwerk Seiner Hände; die Unbefleckte, die Makellose, die ganz Heilige. Er tut es, um völlig entblößt, ganz arm und ohne jeden Trost zu sein; um unsere Raffsucht, unsere Sorge um zeitliche Absicherung, aber auch unsere Ehrsucht und unseren Geltungsdrang zu sühnen.

Die „Sünden der Unkeuschheit“ finden sich an Ihm gesühnt. Schauen wir, wie Sein entblößter Leib zerrissen ist. Sein ganzer Körper ist entstellt, geschwollen; ist durchpflügt von den Geißeln. Die Haut ist ganz und gar zerfetzt, Sein Fleisch ist bis auf die Knochen zerrissen, so daß man seine Gebeine zählen kann. Die empfindsamsten Glieder – Hände und Füße – sind mit Nägeln durchbohrt.

Auch für die „Sünden der Unmäßigkeit“ hat Er gebüßt, als Er ausrief: „Mich dürstet!“ (Joh. 19, 28) Seine Kehle ist ausgetrocknet, wie eine Tonscherbe. Was bekommt Er? Einen gräßlichen Trank aus Essig und Galle, um unsere Völlerei, unsere Gaumenlust, unsere übertriebene Gesundheitspflege und unsere mangelnde Abtötung bei Tisch zu sühnen.

Auch die „Sünden des Jähzornes“ sühnt Er; denn so weit ist Er von jeder Rache entfernt. Keine einzige Drohung, sondern einzig ein versöhnliches Wort findet den Weg über Seine Lippen: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun“ (Mt. 27, 42). Sein Wort ist mild, um unsere verletzenden Worte zu sühnen; unsere Widerworte, unsere Wut, unser Toben, unseren Durst nach Rache.

Für die „Sünden der Trägheit“: Wie ein Riese ist Er den Kreuzweg gelaufen. Immer wieder hat Er sich, als Ihm Seine entkräfteten Beine den Dienst versagten, erneut nach oben gekämpft. Wie die Sonne ihre Bahn durcheilt, so hat auch Christus keine Rast gemacht, ehe Er ausrufen konnte: „Es ist vollbracht“ (Joh. 19, 30). Seine Treue Pflichterfüllung hält Er unserer Weichlichkeit und Saumseligkeit entgegen, mit der wir dem Kreuz unserer Standespflichten auszuweichen suchen.

Drittens teilt man die Sünden ein, in Sünden „in Gedanken, Worten und Werken“. Eine sehr gewöhnliche, landläufige Einteilung. – Unser Heiland hat gebüßt für die Gedankensünden. Die spitzen Dornen bohren sich in Sein heiliges Haupt, den Sitz und sozusagen die Wiege aller Gedanken; zur Sühne unserer bösen Gedanken und freventlichen Urteile. – Er hat ferner gebüßt für die Zungensünden. Sein geschwollenes Antlitz, die aufgeplatzten Lippen zeigen die Spuren der Backenstreiche. Er ist gräßlich entstellt mit dem Gemisch von Schweiß und Blut; und von dem übelriechenden Speichel, den die rohen Soldaten in Sein heiliges Angesicht gespien haben. Wer möchte den Mund anspeien, der das Urteil über Leben und Tod sprechen soll? Das tun jedoch alle, die schamlose, verleumderische und lügnerische Reden führen. – Er hat gebüßt für die Sünden in Werken, indem Er, der Allmächtige, sich an Händen und Füßen an das Kreuz annageln, und sich damit jeder Freiheit und Handlungsfähigkeit berauben ließ.

Viertens: Teilt man die Sünden ein in „Tatsünden“ und in „Unterlassungssünden“. Alles, was Seine Feinde Ihm angetan haben, ist darauf gerichtet, Sein Leiden durch die Tat, aktiv zu vermehren und zu steigern. – Und Seine Freunde? Die Apostel und Jünger unterlassen alles, was Sein Leiden hätte mildern können. Sie unterlassen es, mit Ihm zu wachen und zu beten. Sie unterlassen es Seine Gottheit vor den Richtern und dem gesamten Volk zu bekennen. Sie unterlassen es, ihrem Treueversprechen im Abendmahlsaal Taten folgen zu lassen. – Auch unsere Nachlässigkeit im Gebetsleben, in der Glaubensbildung, im öffentlichen Bekenntnis vor anderen Menschen, in der Erfüllung unserer Standespflichten ist darin mit eingeschlossen. – Der Hauptgrund, warum es heute um die Kirche und um unsere Gesellschaft so schlecht bestellt ist, liegt nicht in erster Linie an den Taten der Bösen, sondern an den Unterlassungen der Guten, die das Böse, das sich in ihrem Einfluß- und Verantwortungsbereich ereignet, einfach geschehen lassen.

Fünftens kann man sagen, in jeder Sünde liege eine Abwendung von Gott und eine ungeordnete Hinwendung zu den Geschöpfen. Für beides hat unser Heiland Schadensersatz geleistet. Für die Abwendung von Gott, indem Er die Qual der Gottverlassenheit auf Sich nahm: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen“ (Mt. 27, 46). – Für die ungeordnete Hinwendung zu den Geschöpfen: Denn alle erdenklichen Geschöpfe wenden sich gegen Ihn, um Ihm alles erdenkliche Leid zu bereiten.

Schließlich teilt man die Sünde ein – sechstens – in „läßliche Sünden“ und in „Todsünden“. Für alle hat er gebüßt. Für die „läßlichen Sünden“ durch die Qualen, die Ihm zwar Schmerz bereiteten, aber Ihm das Leben nicht nahmen. Das soll uns zeigen, daß auch die „läßlichen Sünden“ keineswegs so geringfügig sind, wie wir aufgrund unserer Oberflächlichkeit geneigt sind anzunehmen. Sie bereiteten Ihm Qualen, schlagen Ihm Wunden. Allein, töten tun sie Ihn nicht. – Für die „Todsünden“ hat Er gesühnt, indem Er Sein Haupt neigte und nach dreistündiger Todesqual starb. Sein Tod zeigt damit an, wozu die Todsünde imstande wäre, wenn es möglich wäre Gott zu töten. Ja, jede Todsünde enthält eine derart abgrundtiefe Bosheit und letale Gewalt, daß sie Gott töten würde, wenn das möglich wäre. Deshalb ließ Er es geschehen, daß man mit einer Lanze Sein Herz durchbohrte. Aus der Seitenwunde flossen Blut und Wasser, das, was noch darin war.

Es war alles ausgegeben: seine Jugend, seine Kraft, sein kostbares Blut; es war nichts mehr drin in dem entseelten Leib. Es war alles ausgegeben bis zum letzten Blutstropfen. Das alles rufen uns die Wunden Jesu entgegen. Sie sagen uns, daß alle unsere Sünden sie geschlagen haben; und daß all unsere Sünden durch sie in jeder erdenklichen Hinsicht vollkommen gesühnt worden sind.

„Was tust du für Mich?“

Die Wundmale Jesu reden. Was lehren sie uns? Was fordern sie von uns? Sie sagen uns, daß auch wir durch Buße für unsere Sünden Genugtuung leisten müssen. Sie sagen uns, daß das Leben ein Kampf ist; daß es keinen Ostersonntag ohne einen Karfreitag geben kann; daß es für uns am Jüngsten Tag kein verklärtes „leeres Grab“ geben wird, wenn nicht auch ein Kreuz in unserem zeitlichen Leben steht; daß kein Heiligenschein ohne Dornenkrone verliehen wird, und daß wir nicht mit Christus zum ewigen Leben auferstehen werden, wenn wir nicht mit Ihm leiden. Das ist die Sprache der Wunden Jesu. Sie sind die Genugtuung für unsere Sünden. Aber sie rufen uns auf, unseren Anteil daran zu tragen. – Der Christus mit den Wundmalen brachte uns nicht den Frieden, der keinen Kampf kennt, denn Gott verabscheut die Friedfertigkeit derjenigen, die gegen das Böse streiten sollen. – Die Wunden Jesu sagen: „Das tat Ich für dich! Was tust du für mich?“

Am Karfreitag nahm Er den Kampf mit dem Bösen auf. Aus den stürzenden Bächen des Hasses ließ Er sich unzählige Wunden schlagen, von denen jede einzelne genügt hätte, um die Welt zu erlösen und das Böse zu überwinden. Wenn Er, unser Herr und Gott, auch nach Seiner Auferstehung fünf Wundmale trug, so müssen wir als Seine Jünger am Tag der großen Siegesfeier, wenn Er wiederkommen wird, um zu richten die Lebenden und die Toten, bereit sein, Ihm die Wunden zu zeigen, die wir für Seine Sache und in Seinem Namen davongetragen haben. Er wird einem jeden von uns die Frage stellen: „Zeige Mir deine Hände und deine Füße! Zeige mir dein Haupt und dein Herz!“ Und wehe denen, die mit leeren Händen und ohne Wundmale vom Kalvarienberg ihres Lebens herabkommen!

Nehmen wir deshalb unsere Zuflucht zur schmerzhaften Mutter. Sie wird uns die notwendige Gnade und Kraft vermitteln unser Kreuz tapfer zu tragen. Wenn in wenigen Augenblicken das Kreuzesopfer unseres göttlichen Erlösers auf dem Altar erneuert wird, dann steht auch Maria unter dem Kreuz und ruft uns zu: Siehe, mein Kind, wie der Gerechte stirbt, wenn Er für die Sünden der Ungerechten büßen will. Schau da, wie der Unschuldige stirbt, wenn Er die Sünden der Schuldigen auf sich genommen hat. Höre die Sprache Seiner Wunden! Nimm Zuflucht zu Seinen heiligen fünf Wunden; schöpfe aus diesen sprudelnden Quellen die Genugtuung für Deine Sünden und die für Dein Kreuztragen notwendige übernatürliche Gnadenkraft; trinke daraus das ewige Heil. Und dann pack an! Nimm tapfer Dein Kreuz auf Dich und sprich voll Vertrauen: „O Herr, laß Dein Blut und Deine Pein an mir doch nicht verloren sein!“ Amen.

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