Der Aufstieg zum Gipfel der Weisheit – 1. Teil

Geliebte Gottes!

Vor kurzem haben wir von den „Gaben des Heiligen Geistes“ als von einer zweiten Art von Fertigkeiten gehört, welche eine Seele im Gnadenstand neben den eingegossenen Tugenden besitzt, um mit ihrer Hilfe übernatürliche, gute und verdienstliche Werke zu tun. Ja, mehr noch, um durch sie vollkommene Werke zu vollbringen!

Wie der lateinische Name „dona“ schon sagt, handelt es sich bei diesen Fertigkeiten um „Gaben“, also um Geschenke. Die Gaben sind Geschenke des dreifaltigen Gottes, heißen aber genauer „Gaben des Heiligen Geistes“, weil sich der Heilige Geist der Seele, in der Er ja bereits durch die heiligmachende Gnade wohnt, auf besondere Weise mitteilt; in ihr wirkt, ihr also gleichsam Sein Wirken schenkt.

Tugenden und Geistesgaben

Die Gaben des Heiligen Geistes haben den Zweck, die eingegossenen Tugenden zu vervollkommnen. Denn auch die Akte der eingegossenen Tugenden, obwohl sie von der Seele schnell, leicht, beständig und freudig geübt werden können, bleiben doch zumeist unvollkommen. Die Tugenden befähigen uns lediglich dazu gemäß unserer menschlichen Eigenart gut zu handeln. Wir forschen, überlegen und arbeiten mit ihrer Hilfe. Unser Verstand, unsere Klugheit lenkt unser Tun. Wir sind dabei die Aktiven.

Nicht selten gelangt der Mensch jedoch in Situationen, bei denen selbst die übernatürlichen Tugenden nicht mehr ausreichen, um das Gute schnell und leicht zu tun. Es genügt schon eine indiskrete Frage um die Tugend der Klugheit in Schwierigkeiten zu bringen, einerseits das Geheimnis zu wahren und dabei doch nicht zu lügen. – Darum werden der Seele jene besonderen, bleibenden Eigenschaften verliehen, die sie fähig machen, den Eingebungen des Heiligen Geistes gerne und leicht zu folgen. Mittels der Gaben ist es dann der Heilige Geist, der auf eine der menschlichen Art überlegene Weise wirkt. Ehe wir noch Zeit haben, zu überlegen und die Regeln der Klugheit zu Rate zu ziehen, sendet Er uns göttliche Antriebe, Erleuchtungen und Eingebungen, die zwar mit unserer Zustimmung auf uns einwirken, aber ohne verzögernde Überlegung unsererseits, so, wie es Christus Seinen Jüngern verheißen hat: „Der Geist eures Vaters wird durch euch reden“ (Mt. 10, 20). Der Heilige Geist ergreift dabei die Initiative und die Seele ist dabei mehr passiv als aktiv, wie der hl. Thomas von Aquin sagt. Die Seele „verhält sich nicht so sehr als Bewegendes, sondern mehr als Bewegtes“ (S.th. II-II q. 52, a.2). Daher sind die unter dem Einfluß der Gaben vollzogenen Gedanken, Worte und Werke der Seele für gewöhnlich vollkommener als die mittels der Tugenden ausgeführten. Diese Lehre kann durch einige Vergleiche veranschaulicht werden: Etwa durch den Vergleich mit dem Schiff, den wir zuletzt bereits bemüht hatten. – Die Tugenden üben, heißt rudern. Die Gaben benützen, heißt segeln. Bei letzterem geht es schneller vorwärts und die Mühe ist geringer.

Ein anderer Vergleich stellt vor allem die Vervollkommnung der Tugendakte durch die Gaben des Heiligen Geistes heraus: Stellen wir uns eine Mutter vor, die ihrem Kind das Gehen lehren will. Sie wird das Kind unterstützen, doch führt kein Weg daran vorbei, daß das Kind selbst einige Schritte macht um vorwärts zu kommen. Anfangs sind die Schritte unsicher und unbeholfen. Oft fällt das Kind wieder hin, bis es nach und nach eine gewisse Fertigkeit erlangt den geöffneten Armen der Mutter entgegenzugehen. Das von der Mutter unterstützte Kind gleicht dem Christen, der sich in den Tugenden übt, anfangs oft ungeschickt und nur mit kleinen Schritten vorwärts kommend. Will die Mutter schneller vorwärtskommen, so wird sie dem Kind stützend unter die Arme greifen und es leicht anschieben. Droht dem Kind Gefahr, dann wird sie es eilends emporheben und auf dem Arm hinweg tragen. Was die Mutter in dieser Weise im Bereich des Körperlichen tut, das vermag der Heilige Geist im geistlichen Bereich der Seele. Die Gaben des Heiligen Geistes begleiten also bisweilen die tugendhaften Tippelschritte des Christen, bisweilen aber erheben sie das Gotteskind derart, daß es im Sauseschritt vorwärtskommt und dabei die vollkommensten Akte wirkt.

Ja, mittels der Gaben können die Tugenden zu solcher Vollkommenheit gebracht werden, daß sie übermenschlich, heldenhaft, „heroisch“ genannt werden. Das sind jene heroischen Tugenden, deren Vorhandensein zu Beginn eines Seligsprechungsprozesses, geprüft wird. Der sogenannte „heroische Tugendgrad“ einer heiligmäßigen Person, ist also ohne die Einwirkung des Heiligen Geistes gar nicht möglich, was die Bedeutung und die Vorzüglichkeit der Gaben des Heiligen Geistes hervortreten läßt.

Die Gaben des Heiligen Geistes sind also jene übernatürlichen Fertigkeiten, die unserer Seele eine solche Geschmeidigkeit verleihen, daß sie den göttlichen Einsprechungen und Antrieben des Heiligen Geistes schnell Folge leisten kann.

Die Stufen zur Erlangung der Weisheit

Wenn die Gaben also die zahlreichen Tugenden vervollkommnen, wie kommt es, daß man von nur sieben Gaben des Heiligen Geistes spricht? Der hl. Thomas beschreibt in seiner Theologischen Summe mehr als dreißig Tugenden. Müßte es dann nicht ebenso viele Geistesgaben geben? Wie kommt man auf die Siebenzahl, obwohl man mehr als sieben Tugenden unterscheidet?

Zum einen lassen sich die vielen Tugenden zu sieben Gruppen, gleichsam zu sieben Familien, zusammenfassen, an deren Spitze jeweils eine der Kardinaltugenden steht. Diesen sieben Haupttugenden – Glaube, Hoffnung, Liebe, Klugheit, Gerechtigkeit, Starkmut und Mäßigkeit – von denen wir bereits gehört haben, entsprechen die sieben Gaben des Heiligen Geistes, welche dieselben vervollkommnen.

Der eigentliche Grund für die Siebenzahl der Gaben, liegt jedoch in der göttlichen Offenbarung begründet. Der Prophet Isaias weissagt vom kommenden Messias folgendes: „Auf Ihm wird ruhen der Geist des Herrn; der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Wissenschaft, der Frömmigkeit und der Furcht des Herrn“ (Is. 11, 2). Demnach sind es sieben unterschiedliche Gaben, die auf Christus ruhen. Aber nicht nur auf Christus, sondern auch auf all jenen, die Christus gleichgestaltet wurden, als sie im Wasser und im Heiligen Geist zum ewigen Leben der heiligmachenden Gnade wiedergeboren worden sind. Unter den sieben Gaben überragt die Gabe der Weisheit alle anderen und schließt sie in sich, so wie die Tugend der Liebe alle anderen Tugenden überragt und in sich schließt. – Ferner heißt es im Buch der Psalmen: „Der Anfang aller Weisheit ist die Furcht des Herrn“ (Ps. 110, 9). Wenn also die Gottesfurcht den Anfang aller Weisheit markiert, dann ist die Furcht des Herrn die grundlegendste der sieben Gaben. Daraus ergibt sich, daß der Prophet Isaias in seiner Aufzählung die absteigende Reihenfolge der Gaben liefert; vom Vollkommenen zum Unvollkommeneren.

Lauschen wir ein klein wenig den Ausführungen des hl. Augustinus zu dieser Isaias-Stelle: „Auch der Prophet Isaias begann, als er die sieben Geistesgaben aufzählte, mit der Weisheit und erreichte die Furcht Gottes, so also stieg er vom Erhabenen zu uns herab, um uns den Aufstieg zu lehren. Von dem Punkt ist er ausgegangen, wohin wir wollen.“ Von der Weisheit. „Und wo er schließlich anlangte, von dort müssen wir beginnen. …“ Bei der Gottesfurcht. „Wie nämlich jener [Isaias] nicht aus Versagen, sondern aus Gelehrsamkeit, von der Weisheit bis zur Furcht herabgestiegen ist, so müssen wir von der Gottesfurcht zur Weisheit emporsteigen, nicht durch Stolz, sondern durch Fortschritt. ‚Denn die Furcht des Herrn, ist der Anfang aller Weisheit.‘ – Jene [Furcht] ist das Tal der Tränen von dem der Psalm sagt: ‚Er hat sich in seinem Herzen Wege zum Aufstieg aus dem Tränental gebahnt.‘ (Ps. 83,7). Die Demut [als die Grundlage der Gottesfurcht] wird durch das Tal bezeichnet. Aber wer wäre demütig, wenn er Gott nicht fürchtet und in dieser Furcht sein Herz zerknirscht, indem er in Tränen seine Sünden bekennt und Buße tut? Denn ‚Gott verschmäht ein zerknirschtes und gedemütigtes Herz nicht.‘ (Ps. 50,19). Aber es [das Herz] fürchte nicht, daß es im Tränentale bleibe. In jenem [durch hl. Furcht] zerknirschten und gedemütigten Herz, das Gott nicht verschmäht, hat Er selbst Wege zum Aufstieg gebahnt, durch die wir zu Ihm emporsteigen. Denn so heißt es im Psalm: ‚Er hat sich in seinem Herzen Wege zum Aufstieg aus dem Tränental gebahnt, hinauf zu dem Ort, den Gott gesetzt hat.‘ – Wo findet der Aufstieg statt? Im Herzen, sagt er. – Aber von wo sollen wir aufsteigen? Freilich vom Tal der Tränen. – Und wohin sollen wir aufsteigen? ‚Zu dem Ort‘, sagt er, ‚den Gott gesetzt hat‘. – Was aber ist dieser Ort anderes, wenn nicht der Ort der Ruhe und des Friedens? Denn dort ist die strahlende und nie verblassende Weisheit. Daher steigt Isaias, um uns in bestimmten Stufen der Lehre zu schulen, von der Weisheit zur Furcht hinab; das heißt vom Ort des ewigen Friedens in das Tal der zeitlichen Wehklage, damit wir, die wir in Schmerzen, Wehklagen und Weinen unsere Bußgesinnung zeigen, nicht in Schmerzen, Wehklagen und Weinen verbleiben, sondern uns aus diesem Tale erheben, hinauf auf den geistigen Berg, auf dem die heilige Stadt Jerusalem, unsere ewige Mutter festgegründet ist, um dort ungestörte Freude zu genießen“ (Serm. 347).

Lassen Sie uns also die Stufen des Weges, auf dem der hl. Prophet zu uns herabgestiegen ist, in umgekehrter Reihenfolge beschreiben, damit wir als seine gelehrigen Schüler, uns aus dem Tal der Tränen, Stufe um Stufe erheben können, hinauf zum ewigen Frieden der Weisheit.

Die Gabe der Gottesfurcht

Der Aufstieg zur Weisheit beginnt mit der Gabe der Gottesfurcht. Es handelt sich hierbei um nichts anderes als die ehrerbietige, kindliche Scheu vor der Größe und Heiligkeit Gottes, also um Ehrfurcht. Ehrfurcht ist ein Gemisch aus Scheu und Liebe, wobei die Scheu überwiegt. Wir fürchten dabei nicht eigentlich Gott und sein Strafgericht, sondern wir fürchten die Sünde, die Gott kränkt, die Seine erhabene Majestät beleidigt und die uns des höchsten Gutes beraubt. Wir fürchten das Böse, zu dem wir fähig sind. Und diese heilige Furcht aus Liebe zu Gott ist geeignet, uns vor dem Bösen zurückschrecken zu lassen. Die Gabe der Gottesfurcht läßt sich also mit dem großen Katechismus des hl. Papst Pius X. beschreiben als, „eine Gabe, die uns Gott verehren und fürchten läßt, seine göttliche Majestät zu beleidigen, und die uns vom Bösen abhält und zum Guten anspornt“ (Nr. 953).

Sie besteht vor allem in einem lebhaften Gefühl der Größe Gottes und dem daraus erwachsenden Abscheu vor der geringsten Sünde, die seine unendliche Majestät beleidigt. Der gottesfürchtigen Seele ist klar, was der Heiland der hl. Katharina von Siena erklärt hat, indem Er sprach: „Weißt du nicht, daß alle Qualen, welche die Seele in diesem Leben erträgt oder ertragen kann, nicht genügen, um auch nur die kleinste Sünde zu bestrafen? Die Mir, dem unendlichen Gut, zugefügte Beleidigung schreit nach unendlicher Sühne. Darum sollst du wissen, daß alle Leiden dieses Lebens nicht Strafe, sondern Züchtigung sind“ (Dial. I, 2).

Ferner ruft die Gabe der Gottesfurcht sowohl eine lebhafte Reue über die geringsten begangenen Fehler in der Seele hervor, als auch den heißen und aufrichtigen Wunsch, sie zu sühnen, und zwar durch häufige Akte der Liebe und der Aufopferung. Schließlich spornt der Heilige Geist die Seele auch zur wachsamen Sorge an, alle Gelegenheiten zur Sünde zu meiden, gemäß der Mahnung aus dem Buch Jesus Sirach: „Fliehe die Sünde, wie das Angesicht einer Schlange“ (Sir. 21, 2).

Die Gabe der Furcht ist vor allem am Beginn des geistlichen Lebens, also unmittelbar nach der Bekehrung von der Todsünde von größter Notwendigkeit. Sie unterstützt und vervollkommnet vor allem die Tugend der Mäßigkeit. Weil die alten Sünden auf die Seele des Bekehrten, meist noch eine starke Anziehungskraft ausüben und zum Rückfall locken, ist es vor allem die Tugend der Mäßigkeit im Zusammenwirken mit der Gabe der Furcht des Herrn, welche die Seele von den falschen Freuden und sündhaften Genüssen loslöst, welche sie wieder von Gott trennen könnten.

Wie kann man nun die Seele für die Einwirkung der Gottesfurcht empfänglich machen? Was ist zu tun, um das unterste Segel am Schifflein unserer Seele zu setzen? – Der hl. Augustinus sagt: „Zu allererst ist es notwendig, sich mit Gottesfurcht auf die Erforschung Seines [des göttlichen] Willens, Seiner Gebote und Verbote zu verlegen. Jene Furcht muß uns den Gedanken an unsere Sterblichkeit und an unseren künftigen Tod einprägen und muß gleichsam durch Annagelung des Fleisches alle Regungen des Hochmutes ans Holz des Kreuzes heften“ (De doct. Chr. II, 7). Man betrachte also oft, sowohl über die unendliche Größe Gottes, Seine Eigenschaften, Seine Gebote, Seine richterliche Macht über uns, als auch über die unendliche Beleidigung der göttlichen Majestät, die bereits der kleinsten Sünde innewohnt. Um in sich sodann die Gesinnung der Zerknirschung des Herzens und der Loslösung von der ungeordneten Anhänglichkeit an die Geschöpfe wach zu halten, ist es unbedingt notwendig, sein Gewissen sorgfältig zu erforschen. Und dabei ist es wohlgemerkt wichtiger, sich mehr bei der Weckung einer aufrichtigen Reue Mühe zu geben, als sich bei der akribischen Auffindung der kleinsten begangenen Fehler aufzuhalten.

Damit schließlich das Herz immer losgelöster von den geschaffenen Gütern werde, sollte man sich schließlich, wie der hl. Augustinus sagte, mit dem büßenden Jesus vereinigen; sich mehr in Ihn einverleiben, indem wir die Neigungen des Fleisches und des Stolzes kreuzigen. Je mehr wir Seinen Haß gegen die Sünde teilen und an Seiner Schmach am Kreuz teilnehmen, desto vollständiger werden wir von der Sünde und der Anhänglichkeit an alles Irdische losgelöst sein, so daß wir wirklich zu denen zählen, die als die „Armen im Geiste“ seliggepriesen werden.

Der Heilige Geist wird an denen, „die Christus angehören, [und] ihr Fleisch gekreuzigt haben, samt ihren Leidenschaften und Begehrlichkeiten“ (Gal. 5, 24) die letzten drei jener „Zwölf Früchte des Heiligen Geistes“ hervorbringen, die der hl. Paulus in der heutigen Epistel aus dem Galaterbrief aufgezählt hat, nämlich: „Bescheidenheit, Enthaltsamkeit, Keuschheit“ (Gal. 5, 23). Anfangs ist diesen Akten etwas Herbes und Bitteres eigen, ganz wie einer noch nicht reifen Frucht. Durch die Pflege der Mäßigkeit und der Gabe der Furcht wohnt ihnen jedoch mehr und mehr eine Süße inne, die bis zum Vollgeschmack der ersten Seligkeit heranreift, die unser göttlicher Erlöser den „Armen im Geiste“, also den ganz vom Tränental des Irdischen losgelösten, verheißen hat: „Selig die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich“ (Mt. 5, 3).

Die Seligkeiten, die Christus zu Beginn der Bergpredigt verheißen hat, sind ja die letzte Krönung des Wirkens Gottes in uns und beschreiben dabei jeweils die vollkommene Entfaltung einer der Geistesgaben. So ist die höchste Vollendung der Tugend der Mäßigkeit und der Gabe der Gottesfurcht, die beglückende Seligkeit derer, denen durch die vollkommene Loslösung von aller Anhänglichkeit an das Irdische, stattdessen das Erbrecht auf das Himmelreich zuteil geworden ist. „Selig die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich.“

Die Gabe der Frömmigkeit

Die zweite Gabe, die in unserem Aufstieg zur Weisheit auf die Gottesfurcht folgt, ist die Gabe der Frömmigkeit. Die Furcht alleine kann das Ziel der Liebe nicht erreichen. Denn die Furcht scheut vor Gott zurück, wie der hl. Petrus nach dem Wunder des Fischfanges: „Herr, geh weg von mir“, sagte er zu Christus. „Herr, geh weg von mir, denn ich bin ein sündiger Mensch“ (Lk. 5, 8). Das ist die Wirkung der Gottesfurcht. – Dem Drang der Liebe des Heiligen Geistes, die ja nach Vereinigung strebt, arbeitet die Gabe der Frömmigkeit entgegen. Sie bewirkt in unserem Herzen eine kindliche Zuneigung zu Gott und eine große Verehrung allen heiligen Personen und Dingen gegenüber, die mit der Heiligkeit Gottes in Beziehung stehen. Außerdem treibt sie uns an, unsere religiösen Pflichten mit heiligem Eifer zu erfüllen. Sie vervollkommnet die Tugend der Gerechtigkeit, die „Gott gibt, was Gottes ist und dem Kaiser, was des Kaisers ist“ (vgl. Mt. 22, 21).

Die Gabe der Frömmigkeit hilft uns, in Gott einen sehr guten und liebevollen Vater zu erkennen, nicht nur den höchsten Herrn, gemäß dem Wort des hl. Paulus: „Ihr habt den Geist der Kindschaft empfangen, in dem wir rufen: Abba, Vater!“ (Röm. 8, 15). Sie weitet das Herz zu Vertrauen und Liebe, ohne dabei jedoch die Gott gebührende Ehrfurcht zu verlieren. Darüber hinaus bewegt sie uns auch zur Liebe gegen den Nächsten, in dem sie uns einen „Mitbruder in Christus“ erkennen läßt. Um Gottes und Christi Willen begegnen wir dem Nächsten mit Wohlwollen und Ehrerbietung, wodurch die Seele zur wahren Herrschaft über ihre Launen und über sich selbst gelangt. So definiert das Kompendium des hl. Pius X. die Gabe wie folgt: „Die Frömmigkeit ist eine Gabe, durch die wir Gott und die Heiligen verehren und lieben, und aus Liebe zu Gott dem Nächsten gegenüber ein barmherziges und wohlwollendes Gemüt bewahren“ (Nr. 924).

Drei Bewegungen werden vom Heiligen Geist in der Seele durch diese Gabe ausgelöst: Einmal eine kindliche Ehrfurcht gegen Gott, derzufolge wir Ihn mit heiligem Eifer als unseren vielgeliebten Vater anbeten. Statt als eine drückende Last, werden die geistlichen Übungen – das Gebet, die Betrachtung, der Rosenkranz, oder der Meßbesuch – gleichsam ein Herzensanliegen, zu einer freudigen Gelegenheit, die Seele zu Gott zu erheben.

Sodann bewegt uns der Heilige Geist durch die Gabe der Frömmigkeit zu einer innigen und großmütigen Liebe, die uns dazu antreibt, bei allem was wir tun allein das Wohlgefallen Gottes und Seine höhere Ehre zu suchen, ganz wie es unser göttlicher Erlöser, Jesus Christus, selbst getan hat, wie Er sprach: „Ich tue allezeit, was Ihm [dem Vater] wohlgefällig ist“ (Joh. 8, 29). Also keine selbstsüchtige Frömmigkeit, kein Suchen nach Tröstungen; keine stereotype, leblose Frömmigkeit, die untätig bleibt, wenn sie handeln sollte; keine Gefühlsfrömmigkeit, die nur immer auf Rührung bedacht ist und sich in Träumereien verliert. Nein, sondern eine mannhafte Frömmigkeit, die durch Erfüllung des göttlichen Willens ihre Liebe beweist.

Als drittes treibt die Gabe der Frömmigkeit zu einem liebenden Gehorsam gegen Gott an. Sie läßt uns in den Räten, Geboten und Verboten nicht nur den Maßstab des göttlichen Herrn und Richters erblicken, sondern den Ausdruck der allerweisesten und väterlichsten Absichten Gottes, zu unserem Besten. Nicht die Angst vor zeitlicher und ewiger Strafe läßt die Seele den göttlichen Willen befolgen, sondern sie ist völlig an diesen überaus liebevollen Vater hingegeben, der am besten weiß, was gut für sie ist, und der sie prüft, um sie zu reinigen und mit Sich zu vereinen. In Prüfungen und Leiden erinnert die Gabe der Frömmigkeit die Seele an das Wort des hl. Paulus: „Denen, die Gott lieben, gereicht alles zum Besten“ (Röm. 8, 28).

Aus dieser Gesinnung heraus, liebt die fromme Seele auch die Personen und Dinge, die an der göttlichen Vollkommenheit teilhaben: Etwa die allerseligste Jungfrau und Gottesmutter Maria, als das überragende Ebenbild der makellosen Heiligkeit Gottes, genauso wie die Engel und Heiligen des Himmels, als Widerschein Seiner Eigenschaften. – Die Heilige Schrift erscheint als ein von unserem himmlischen Vater an uns geschriebener Brief, eine Mitteilung Seiner liebevollen Gedanken und Absichten mit uns. Dazu sagt der hl. Augustinus: „Wir dürfen daher weder der Schrift widersprechen, wenn wir sie verstehen, und sie einige Fehler von uns tadelt; noch dürfen wir sie anklagen, wenn wir sie nicht verstehen, als hätten wir bessere Einsichten und verstünden uns besser darauf, Vorschriften zu erlassen. Im Gegenteil haben wir zu denken und zu glauben, das dort Geschriebene sei, auch wenn es uns verborgen ist, besser und wahrer als das, was wir aus uns selbst zu erkennen vermögen“ (De doct. Chr. II, 7). – Neben der Hochschätzung der Heiligen Schrift treibt die Gabe der Frömmigkeit insbesondere zu einer großen Ehrerbietigkeit gegen die hl. Kirche an. Sie ist die aus der Seite Christi hervorgegangene Braut, die Seine Sendung auf Erden fortsetzt, bis zum Ende der Zeiten; unsere Mutter, die uns in der hl. Taufe zum Gnadenleben geboren hat. Im Papst erblick die Frömmigkeit zuallererst den Statthalter, also den sichtbaren Stellvertreter Jesu Christi auf Erden. Auf ihn überträgt sie deshalb die Verehrung und die Liebe zu Christus, dem unsichtbaren Haupt der Kirche, das im Himmel thront; und macht es uns zu einem Herzensanliegen dem Papst wie Christus selbst zu gehorchen.

Zumeist wird gegen die Gerechtigkeit gefehlt durch hoffärtige Selbstsucht, Wankelmütigkeit und durch unbeherrschten Zorn. Dem wirkt die Gabe der Frömmigkeit entgegen, indem sie bestrebt ist, drei weitere der zwölf Früchte des Heiligen Geistes hervorzubringen: „Sanftmut, Treue, Bescheidenheit“ (Gal. 5, 23). Auf ihre Einwirkung hin sucht die Seele alles und jeden um Gottes Willen zu lieben und zu achten. Selbst mit denjenigen geht sie sanft, gütig und bescheiden um, die ihr weniger sympathisch sind. Besonders beseelt uns die Frömmigkeit jedoch zu jener väterlichen Treue gegen alle, die durch Gottes Vorsehung unserer Obhut anvertraut sind. Sie treibt uns an, nicht nur um deren Seelenheil, sondern auch um deren Heiligkeit besorgt zu sein, so wie es der hl. Paulus gewesen ist, als er ausrief: „O meine Kindlein, die ich abermals mit Schmerzen gebäre, bis Christus in euch Gestalt angenommen hat“ (Gal. 4, 19).

Ist die Gabe der Frömmigkeit als das zweite Segel in einer Seele voll entfaltet, so erwächst ihr daraus eine zweite dauerhafte Glückseligkeit, welche Christus den Sanftmütigen verheißen hat: „Selig die Sanftmütigen, denn sie werden das Land besitzen“ (Mt. 5, 4). Die Seele genießt bereits eine gewisse Festigkeit und Beständigkeit ihres ewigen Erbteils; einen wahren Anteil am Land des Himmels, auf dem die Seele mittels der Gabe der Frömmigkeit gewissermaßen seßhaft geworden ist, und von deren Früchten sie sich bereits geistig nährt, so wie der Leib von der eigenen Erdscholle. In der Seßhaftigkeit im geistigen Vaterland, mittels der Gabe der Frömmigkeit, erblickt der hl. Augustinus den Ursprung jener besänftigenden Ruhe und Gelassenheit der Heiligen, die selbst angesichts von Ungerechtigkeiten, die ihnen zugefügt werden, ihre Sanftmut nicht verlieren. Er sagt: „Die Sanftmütigen sind also diejenigen, die dem Bösen nachgeben und dem Bösen nicht widerstreiten, sondern ‚das Böse durch das Gute überwinden‘. Diejenigen also, die nicht sanftmütig sind, mögen um irdische und zeitliche Dinge streiten und kämpfen; aber ‚selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Land erben‘, von dem sie nicht vertrieben werden können“ (De Serm. Dom. in Mont. I, 3).

An dieser Stelle wollen wir für heute auf unserem Aufstieg aus dem irdischen Tränental, empor zum Gipfel der Weisheit, innehalten, um den Heiligen Geist besonders um die ersten beiden Seiner vorzüglichen Gaben anzuflehen: „die Gabe der Frömmigkeit und der Furcht des Herrn“. So wollen wir in das hl. Meßopfer besonders diese Bitte hineinlegen: „Komm Heiliger Geist, erfülle die Herzen Deiner Gläubigen und entzünde in ihnen das Feuer Deiner Liebe. Gieße aus Deinen Geist und alles wird neu geschaffen, und Du wirst das Angesicht der Erde erneuern.“ Amen.

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