Die sittlichen Tugenden

Geliebte Gottes!

Die heiligmachende Gnade gibt uns ein übernatürliches Sein als Kinder Gottes. Das Gnadenleben läßt uns jedoch nicht einfach nur Kinder Gottes sein, es gibt uns darüber hinaus auch die übernatürlichen Kräfte, als Kinder Gottes tätig zu werden. Denn mit der heiligmachenden Gnade werden der Seele sieben übernatürliche Tugenden eingegossen – die drei göttlichen Tugenden und die vier sittlichen Tugenden. Diese sieben Haupttugenden bilden zusammen unseren übernatürlichen Bewegungsapparat, durch dessen Betätigung wir für die Ewigkeit verdienstliche Werke tun und so den ewigen Lohn verdienen sollen.

Wie wir schon sagten, ist die Tugend ganz allgemein eine Fertigkeit, eine Gewandtheit, gute Werke zu tun. Das Merkmal, daß man eine Tugend erworben hat, besteht darin, schnell, leicht, beständig und mit einer gewissen Freude das Gute zu tun. – Den Gegensatz zur Tugend bildet das Laster. Das Laster ist eine durch Gewohnheit erworbene Fertigkeit, sündhafte Werke zu tun.

Bezüglich der drei göttlichen Tugenden – Glaube, Hoffnung und Liebe – haben wir am vergangenen Sonntag gesehen, daß sie in einem direkten, geistigen und übernatürlichen Verkehr mit Gott bestehen: Durch den Glauben halten wir für wahr was Gott sagt. Durch die Hoffnung erwarten wir von Gott, was er verheißen hat. Durch die Liebe geben wir uns Gott hin, der Sich uns wiederum ganz schenkt. Ferner haben wir gesehen, wann wir diese Tugenden üben sollen bzw. erwecken müssen: Nämlich so oft wie möglich; insbesondere beim Sakramentenempfang, in der Versuchung und in Lebensgefahr.

Die sittliche Tugend steht über den Extremen

Heute wollen wir uns den sittlichen Tugenden zuwenden. Sie heißen sittliche Tugenden, weil sie zunächst darauf ausgerichtet sind, unser menschliches Verhalten, unser Benehmen, also unsere Sitten zu ordnen; und zwar so zu ordnen, daß unser sittliches Tun Gott wohlgefällig ist.

Die sittlichen Tugenden unterscheiden sich von den göttlichen vor allem darin, daß sie sich nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar auf Gott richten. Sie richten sich nicht direkt auf Gott, sondern unmittelbar auf das menschliche Tun, welches sie ordnen und auf diese Weise gottwohlgefällig machen. Ein zweiter Unterschied besteht darin, daß die sittlichen Tugenden ein Maß kennen, während die göttlichen Tugenden nie weit genug gehen können. Der Glaube kann nicht zu tief sein, die Hoffnung nie zu fest, die Liebe nie zu groß. Die sittlichen Tugenden hingegen befinden sich in der Mitte zwischen zwei Extremen; zwischen dem Extrem der Übertreibung, also des Übermaßes, und dem Extrem des Zuwenig, des Mangels an Tugendhaftigkeit. – So bewahrt etwa die Tugend der Tapferkeit die Mitte zwischen der Waghalsigkeit, die dazu führen würde, ohne genügenden Grund leichtfertig sein Leben aufs Spiel zu setzen, und der ängstlichen Furcht, die ohne vernünftigen Grund sofort die Flucht ergreift. Freilich darf das Sprichwort „In medio stat virtus“, daß die sittlichen Tugenden in der Mitte zwischen den Extremen stehen, nicht mit Mittelmäßigkeit verwechselt werden. Die Mittelmäßigkeit oder Lauheit flieht das höhere Gute wie ein Extrem, das man meiden müßte. Die wahre Mitte der echten sittlichen Tugenden ist in Wirklichkeit nicht einfach ein Kompromiß zwischen zwei entgegengesetzten Lastern – nicht ein bißchen weniger hiervon und ein bißchen mehr davon – sondern ein Gipfel, den zu erreichen eine sittliche Anstrengung verlangt. Es ist ein schmaler Höhengrad, auf dem sich sowohl zur Rechten als auch zur Linken die Abgründe der Übertreibung und des Zuwenig auftun. So besteht die Tugend der Tapferkeit nicht in einem Mittelmaß aus den Exzessen der leichtfertigen Waghalsigkeit und der feigen Ängstlichkeit, sondern ein erhabener Gipfel zwischen den beiden Extremen.

Die vier Kardinaltugenden

Der sittlichen Tugenden sind viele – genauso auch der Laster – und wir würden kein Ende finden, wenn wir sie alle im Einzelnen erklären wollten. Ja, es wäre schon schwer, sie überhaupt alle vollständig aufzuzählen. Aber schon die Stoiker, also die heidnischen Philosophen des Altertums, haben es verstanden, alle Tugenden auf vier Grundtugenden zurückzuführen, die sogenannten vier Kardinaltugenden. Alle sittlichen Tugenden lassen sich also gleichsam in vier Familien einteilen, an deren Spitze jeweils, gleich dem Familienoberhaupt, eine der vier Kardinaltugenden steht, umrahmt von ihren jeweiligen Töchtern. Wir wollen uns bei der Erklärung der sittlichen Tugenden deshalb darauf beschränken die vier Kardinaltugenden kurz darzulegen. Welches sind also die vier Kardinaltugenden? Es sind:

  1. Die Tugend der Klugheit.
  2. Die Tugend der Gerechtigkeit.
  3. Die Tugend der Mäßigkeit.
  4. Die Tugend des Starkmutes.

Um die ersten beiden Kardinaltugenden, die Klugheit und die Gerechtigkeit, zu verstehen, müssen wir uns kurz daran erinnern, daß unsere Seele zwei geistige Kräfte besitzt. Wie der Leib zwei Hände und zwei Arme hat, mit denen er alle seine Werke verrichtet, so hat auch die Seele zwei Hauptkräfte, nämlich den Verstand und den freien Willen. Mit ihnen verrichtet die Seele alle ihre Werke. – Welche Werke sind das? Erkennen und Wollen! Mit dem Verstand erkennt unsere Seele. Und mit dem freien Willen fällt sie Entscheidungen. Nun können wir sagen, daß die Klugheit die Tugend des Verstandes ist und die Gerechtigkeit die Tugend des Willens. Die Klugheit ordnet den Verstand auf das Gute hin, daß der Verstand nämlich wirklichkeitsgemäß urteilt. Die Gerechtigkeit ordnet den Willen auf das Gute, daß er jedem das erweist, was er ihm schuldig ist. Doch betrachten wir die Tugenden im Einzelnen.

Die Tugend der Klugheit

Wann sagt man von einem Menschen, er sei klug? Um es kurz zu machen: Klug ist derjenige, der zum richtigen Ziel und Zweck auch die richtigen Wege weiß und die richtigen Mittel kennt, welche zur Anwendung gebracht werden müssen, um das Ziel in der rechten Weise zu erreichen.

Denken wir uns eine Gruppe Menschen, die entschlossen ist, in ein fremdes Land auszuwandern, um sich dort eine neue Existenz aufzubauen und dort glücklich zu werden. Was fordert die Klugheit von ihnen? Zunächst, daß sie die Frage gut überdenken, in welches Land sie ziehen wollen. Diejenigen sind die Klügsten, welche als Ziel ihrer Auswanderung ein Land wählen, wo sie mit ihren körperlichen Kräften und Geldmitteln; mit ihren Kenntnissen und beruflichen Fertigkeiten am leichtesten und sichersten ein besseres Auskommen finden werden; aber auch wo sie ihre kulturellen Bräuche und insbesondere ihre Religion ungehindert ausüben können. – Es wäre also dumm und töricht, wenn sie in ein Land zögen, dessen Klima sie nicht ertragen können; in ein Land, wo Krieg, Hungersnot oder ansteckende Krankheiten herrschen; in ein Land, wo es weder fruchtbaren Boden, noch eine blühende Wirtschaft gibt; weder Straßen noch Verkehr; in ein Land wo die katholische Religion verboten ist, oder gar verfolgt wird. – Doch nehmen wir an, die Auswanderungslustigen hätten gut gewählt. Dann fordert die Klugheit ferner, daß sie sich genau nach den Mitteln und Wegen erkundigen, wie ihr Vorhaben legal, sicher, schnell und möglichst billig zur realisieren sei. Sie müssen Erkundigungen bei den Behörden einholen; Anträge stellen; Verträge kündigen; neue Verträge abschließen; den Umzug planen; die Reise organisieren und die Kosten vorausberechnen.

Ganz ähnlich fragt die übernatürliche Klugheit. Sie ist jene übernatürliche Fertigkeit des Verstandes, die überall und in allen Lebenslagen die Handlungen des Menschen auf sein letztes Ziel ausrichtet und deshalb die geeigneten Mittel sucht, um es zu erreichen, um dadurch Gott angenehm zu sein. Was ist das letzte Ziel des Menschenlebens? Das ewige Heil der Seele! – Die Klugheit ist die Tugend, die uns lehrt, das ewige Ziel zu erkennen und alles auf dieses Ziel auszurichten. Die Klugheit lehrt uns, die geeigneten Mittel zu finden, die nötig sind, um das ewige Ziel zu erreichen. Beständig fragt sie: Was muß ich tun, um das ewige Heil zu erlangen? Was darf ich nicht tun, um das ewige Heil nicht zu verfehlen? Wenn sie vor eine Wahl gestellt ist, fragt sie: Was nützt mir das für die Ewigkeit? Wird mir dieser Besitz, dieser Beruf, diese Stellung, diese Beschäftigung, diese Erholung, diese Freude, dieser Umgang, diese Freundschaft, diese Ehe, zum Heil eher nützlich oder eher schädlich sein? Das meint der Heiland mit Seiner Frage: „Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber an seiner Seele Schaden leidet?“ (Mt. 16, 26). – Klugheit ist also nicht Taktik. Klugheit ist nicht List. Klugheit ist nicht schlaues Sich-Durchschlängeln, sondern Klugheit ist die Hinordnung auf das ewige Ziel und das Finden der geeigneten Mittel, um es zu erreichen. Deshalb fragt und überlegt die Tugend der Klugheit in allen Lebenslagen, welche Wege zu beschreiten sind und welche Wege zu meiden sind, um das ewige Vaterland des Himmels zu erreichen. Danach wird sie ihre Wahl treffen. Dieselbe Frage wiederholt sie im Glück und im Unglück, in gesunden und kranken Tagen; in der Jugend und im Alter: Wie kann ich dieses oder jenes gebrauchen, um an mein wahres und letztes Ziel zu gelangen?

Wenn die Klugheit auch nicht die höchste sittliche Tugend ist, so ist sie doch die wichtigste. Sie ist die „auriga virtutum“, die Wagenlenkerin aller anderen Tugenden. All unsere Handlungen und Werke sind nämlich nur dann tugendhaft und gut, wenn sie ihren Ursprung in der vernunftgemäßen Überlegung der Klugheit haben. Wer nur zufällig, gleichsam aus Versehen, das Gute tut, dessen Verhalten ist nicht schon gut und tugendhaft. Nur wer aus vernünftiger Überlegung das Gute tut, der handelt recht. Mit einem Wort: Die Tugend der Klugheit ist für das christliche Leben dasselbe, was für ein Schiff auf Hoher See der Kompaß ist. Der Kompaß zeigt den richtigen Weg auf der weiten Meeresfläche.

Die Tugend der Gerechtigkeit

Doch zur Klugheit muß sich notwendigerweise die Tugend der Gerechtigkeit gesellen, denn das Ziel, den Weg und die geeigneten Mittel zu kennen ist erst der Anfang. Die Hauptsache besteht nun darin, daß man auch den entschiedenen Willen hat, die geeigneten Mittel wirklich zur Anwendung zu bringen, und den richtigen Weg auch tatsächlich zu gehen. Darin besteht nun wesentlich die Tugend der Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit gibt dem Menschen den beharrlichen Willen, den Weg, der zur ewigen Herrlichkeit des Himmels führt, tatsächlich zu gehen, ohne davon nach links oder rechts abzuweichen. Wie tut sie das? Indem sie jedem das Seinige gibt. Indem sie jedem das gibt was ihm gebührt: „Gott, was Gottes ist. Dem Kaiser, was des Kaisers ist“ (Mt. 22, 21). Dem Mitmenschen, was diesem von Rechts wegen zukommt. Und sich selbst das, was recht ist.

Die Gerechtigkeit ist die Tugend die uns geneigt macht, jedem das Geschuldete zu geben. Wir schulden dem Staat Gehorsam, in allem, wo er das Recht hat zu gebieten. Wir schulden dem Nächsten den gerechten Ausgleich für das, was er uns gibt oder was er für uns tut. Leistung und Gegenleistung müssen in einem ausgeglichenen Verhältnis stehen, weshalb die Tugend der Gerechtigkeit bildlich meist mit einer ausgeglichenen Waage dargestellt wird. Die Staatslenker haben eine Pflicht der Gerechtigkeit gegen ihre Untertanen. Sie müssen nämlich die Güter und die Lasten des Staates gerecht verteilen, je nach Maßgabe der Kräfte und Leistungen der Untertanen. Die Gerechtigkeit ist aber auch die Tugend der Bürger, wenn sie im Austausch miteinander bezahlen, was sie schuldig sind. Die Tugend der Richter, wenn sie die Schuldigen strafen nach ihrer jeweiligen Schuld. Die Tugend der Menschen untereinander; des Mannes gegen die Frau, der Frau gegen den Mann, der Eltern gegen die Kinder, der Kinder gegen die Eltern, usw. insofern jeder dem anderen das gibt, was ihm gebührt. – Die Gerechtigkeit ist sodann das Fundament des Friedens. Denn es kann nur Frieden geben, wenn die rechte Ordnung gewahrt wird, wenn das Gleichgewicht zwischen Anspruch und Leistung erzielt ist.

Der moderne Mensch achtet zu sehr darauf, seine Rechte geltend zu machen, seine Rechte einzufordern; wenn möglich sogar mehr als recht ist. Der gerechte Mensch fragt hingegen nicht: „Worauf habe ich Anspruch? Was steht mir zu?“, sondern zuerst: „Was bin ich schuldig?“ Die Gerechtigkeit ist nicht zuerst darauf ausgerichtet einzufordern, sondern das Schuldige zu leisten; nicht mehr, aber vor allem nicht weniger!

Kurz: Die Gerechtigkeit besteht darin, daß man bestrebt ist, einem jeden dasjenige und soviel zu geben, was man ihm schuldig ist. Die Gerechtigkeit umfaßt alle Lebensbereiche des Menschen. Deshalb ist sie die höchste sittliche Tugend, die das ganze sittliche Leben des Menschen – sein ganzes Denken, Reden und Tun – beherrschen muß. Deshalb ist sie strenggenommen erst dann erreicht, wenn der Mensch alle anderen Tugenden erworben hat. Erst dann ist er schlechthin ein Gerechter, so wie er in der Heiligen Schrift gepriesen wird. Das Buch der Sprüche sagt: „Der Weg des Gerechten ist wie ein glänzendes Licht; es schreitet voran und wächst bis zum vollkommenen Tag“ (Spr. 4, 18). Der vollkommene Tag ist der nie endende, vom ewigen Licht Gottes erleuchtete Tag der himmlischen Herrlichkeit.

Die Garde gegen die ungeordneten Leidenschaften

Wenn aber nun ein Mensch, ein Christ, ein Katholik, die Tugend der Klugheit besitzt, die ihm das Ziel des ewigen Lebens und auch den Weg zeigt, der dahin führt. Wenn er ferner die Tugend der Gerechtigkeit besitzt, d.h. die beständige Entschlossenheit des Willens, Gott, den Menschen und sich selber das zu geben, was er schuldig ist; um darin zu verharren bis ans Ende seines Lebens, so werden ihm doch mit Gewißheit Hindernisse in den Weg treten und zwar Hindernisse von zweierlei Art: Nämlich Hindernisse angenehmer Art und Hindernisse unangenehmer Art. Um das übermäßige Verlangen unserer Leidenschaften nach angenehmen Dingen im Zaum zu halten, bedarf die Gerechtigkeit einer Leibwache, nämlich der Tugend der Mäßigkeit. Damit die Gerechtigkeit hingegen nicht durch den Ansturm jener Leidenschaften vom rechten Weg abgebracht wird, die vor unangenehmen Dingen Reißaus nehmen, bedarf sie auch der Flankendeckung durch die Tugend des Starkmutes.

Die Tugend der Mäßigkeit

Die Tugend der Mäßigkeit begegnet den Hindernissen angenehmer Art, welche die Seele gleich dem süßen Gesang der Sirenen auf Abwege zu locken suchen. Hindernisse, die den Sinnen schmeicheln; die sich mit der angeborenen Bequemlichkeit und Trägheit gut vertragen; welche die sinnlichen Lüste des Geschmacksinns und die sexuellen Gelüste des Fleisches befriedigen. Hindernisse, welche die Lust, das Vergnügen, den Genuß, den Komfort oder das Ansehen in der Welt versprechen. Um dem heftigen Ansturm all dieser Versuchungen entgegenzutreten, springt der angefochtenen Gerechtigkeit die Tugend der Mäßigkeit zur Seite, welche die anstürmenden Lockungen in die Flucht schlägt.

Die Mäßigkeit ist jene Tugend, welche den Menschen in allem, was angenehm ist, Maß zu halten lehrt; jenes Maß, das von der Sünde fernhält, das dem Geist die Herrschaft über den Körper sichert; jenes Maß, das den Fortschritt auf dem Weg zum Himmel nicht hemmt sondern fördert. Die Dinge haben ein Maß, und dieses Maß ist für uns maßgebend. Die Mäßigkeit lehrt uns vor allem, das Triebleben zu beherrschen. Es sind vornehmlich zwei Triebe, die den Menschen immer wieder gefährden, nämlich die Gaumenlust und die Geschlechtslust. Er eine richtet sich auf die Erhaltung des Einzelnen, der andere auf die Erhaltung der Art. Es sind die Triebe, die wir mit den Tieren gemeinsam haben. Beide sind an sich gut. Deshalb ist es um so wichtiger, gerade diese Triebe durch die Tugend der Mäßigung zu beherrschen. Der hl. Franz von Sales sagt: „Ich liebe nur weniges auf Erden. Und dieses Wenige nur wenig.“ Das ist die richtige Einstellung.

Neben den beiden genannten Gefahren, die durch die Mäßigkeit kontrolliert werden sollen, gibt es noch solche, geistiger Natur; etwa den Ehrgeiz und die Geltungssucht. Dieses geistige Begehren muß ebenfalls durch die Mäßigung gezügelt werden. Die Zügel sind die Bescheidenheit und die Demut. Der hl. Paulus sagt: „Ich züchtige meinen Leib und bringe ihn in Dienstbarkeit, damit ich nicht selber verworfen werde, nachdem ich anderen gepredigt habe“ (1. Kor 9, 27). Er züchtigte seinen Leib, d.h. er beherrschte das ungeordnete Begehren des Fleisches und des Geistes durch die Tugend der Mäßigkeit.

Die Tugend des Starkmutes

Aber es treten der Gerechtigkeit auch unangenehme, widrige, abschreckende Hindernisse entgegen. Wer auf dem geraden, (ge-)rechten Weg gehen will, der zum Himmel führt, der mag sich darauf gefaßt machen, daß er den Spott der Welt, das Hohnlächeln seiner Nachbarn, Kollegen, Bekannten, Verwandten und vielleicht sogar seiner Familienangehörigen zu spüren bekommt; die Zurücksetzung, die Ausgrenzung; die Verachtung, zuweilen die Benachteiligung bis hin zur Verfolgung durch die Mitmenschen. Das muß der Christ tapfer ertragen, ohne dabei die Gerechtigkeit zu verletzen. Das, und außerdem noch all die Beschwerden, welche in der Übung der Gerechtigkeit selbst schon liegen und oft auch noch durch Leiden und Prüfungen, die Gott zur Reinigung der Seele verhängt, verschärft werden. Diesen Hindernissen gegenüber braucht der tugendhafte Christ dringend die vierte Kardinaltugend – gleich einer zweiten Leibwache – an der Seite der Gerechtigkeit. Und das ist die Tugend des Starkmutes.

Der Starkmut ist jene Tugend, die vor keinem Hindernis furchtsam zurückschreckt, die um Gottes willen alle Nachteile in Kauf nimmt und alle Widrigkeiten geduldig erträgt; die alle Gefahren und Hindernisse, selbst den Tod, verachtet und so über alles triumphiert.

Man erzählt vom römischen Kaiser Constantius Chlorus, dem Vater Constantins des Großen, der ein Heide war, daß er viele Christen in seinem Umfeld hatte. Er beschloß sie auf die Probe zu stellen, indem er zu ihnen sagte: „Ihr habt die Wahl, entweder euren Glauben abzulegen und in meinen Diensten zu bleiben, oder bei eurem Glauben zu verharren, dafür aber aus meinem Dienst entfernt und streng bestraft zu werden.“ Viele Christen gaben den Dienst auf und erwarteten die angedrohte Strafe. Andere schworen dem Glauben ab und meinten so, ihre Existenz gesichert zu haben. Aber dann trat etwas ein, was keiner erwartet hatte. Kaiser Constantius lobte die standhaften Christen und sagte: „Wenn ihr eurem Glauben treu bleibt, so werdet ihr auch mir treu bleiben. Und wer seinen Gott verleugnet, der wird auch einem irdischen Herrn kaum die Treue halten.“

Alle Heiligen sind tapfer gewesen. Es gibt keine feigen Heiligen. Am hellsten und deutlichsten leuchtet die Tugend des Starkmutes jedoch aus dem Leben und insbesondere aus dem Tod der hl. Märtyrer. Um den Siegeskranz des ewigen Lebens zu erlangen gaben sie das höchste Gut, das sie besaßen – das leibliche Leben – oft ohne mit der Wimper zu zucken hin und überwanden die größten Qualen, mit denen man sie zum Glaubensabfall bewegen wollte, in heldenhafter Standhaftigkeit.

Unser göttlicher Erlöser sagt: „Das Himmelreich leidet Gewalt, und die Gewalt brauchen, reißen es an sich“ (Mt. 11, 12). Deshalb fordert der hl. Paulus die Epheser auf: „Meine Brüder, werdet stark im Herrn! Zieht an die Waffenrüstung Gottes, daß ihr standhalten könnt gegen die Nachstellungen des Teufels, denn wir haben nicht bloß zu kämpfen mit Fleisch und Blut, sondern mit Mächten und Gewalten, mit den finsteren Weltbeherrschern, mit den bösen Geistern in den Lüften“ (Eph. 6, 11 f.).

Das Zusammenwirken von Ruderern und Riemen

Neben den drei göttlichen Tugenden – Glaube, Hoffnung und Liebe – sind es also die vier sittlichen Kardinaltugenden – Klugheit, Gerechtigkeit, Mäßigkeit und Starkmut –, welche der Menschenseele zusammen mit der heiligmachenden Gnade eingegossen werden.

Wenn wir die begnadete Seele mit einem Schiff vergleichen, das auf dem aufgepeitschten Meer des irdischen Lebens darum kämpft, den Hafen der ewigen Glückseligkeit zu erreichen, dann sind die eingegossenen Tugenden gleichsam die Ruderriemen des Seelenschiffleins. Ohne das koordinierte und beharrliche Rudern könnte das Schiff nicht vorwärts kommen. Ohne die Ruder der eingegossenen Tugenden würde das Seelenschiff von der rauhen See der Versuchungen unweigerlich aufs Riff der Todsünde geworfen werden und dort zerschellen. Zwar schenkt uns Gott mit der heiligmachenden Gnade die eingegossenen Tugenden. Doch das Schiff und die Ruder allein genügen nicht. Die Riemen bewegen sich nicht von selbst. An jeder Ruderbank muß folglich auch ein kräftiger, ausdauernder Ruderer sitzen. Die Ruderer sind unsere natürlichen Tugenden, die wir uns durch fortwährende Bemühung aneignen müssen. Es müssen trainierte, kräftige und ausdauernde Tugenden sein, die wir durch beharrliche Übung erwerben und bewahren müssen.

Freilich nützen die kräftigsten Ruderer (d.h. die natürlichen Tugenden) allein nichts. Ihre Arme sind zu kurz, um überhaupt ins Wasser hinab zu reichen. Wie die Ruderer ihre Ruderriemen benötigen, um die Kräfte ihrer Muskeln im Wasser geltend zu machen und das Schiff voranzubringen, so bedürfen unsere natürlichen Tugenden der übernatürlichen Verlängerung durch die eingegossenen Tugenden, wodurch unser Tun christusförmig, vergöttlicht und für die Ewigkeit verdienstlich wird. Nichtsdestotrotz darf unser Bemühen um die natürlichen Tugenden nie aufhören.

Die Tugend der Klugheit zeigt uns den Weg. Die Tugend der Gerechtigkeit will ihn gehen. Die Mäßigkeit überwindet die angenehmen Lockungen, die zwar Süßigkeit versprechen aber in den Abgrund reißen. Und der Starkmut triumphiert über alle vom Guten abschreckenden Hindernisse. Schon in ganz natürlichen, rein irdischen Dingen ist ein kluger Kopf mehr wert, als ein starker Arm oder ein dickes Bankkonto. Wenn es sich aber um das übernatürliche, ewige Ziel handelt, wer ist klüger als jener, der seinen Blick in allen Lagen des Lebens auf den Hafen der ewigen Heimat richtet und auf den Kompaß, der den Kurs dorthin anzeigt? Er wird alle Dinge richtig einschätzen. Er wird Gefahren rechtzeitig erahnen, erkennen und umschiffen können. Die Klugheit lenkt die Gerechtigkeit, damit diese der vorgegebenen Route in der Tat folgt, welche sie als die richtige, die rechte, die gerechte kennt? Größte Dummheit ist es hingegen, den Weg zum Himmel zu kennen und ihn nicht zu gehen! In der rechten Bahn gehalten wird das Seelenschiff von den Tugenden der Mäßigkeit zur Rechten und vom Starkmut zur Linken, damit es allen sirenischen Lockungen und erschütternden Schrecknissen zum Trotz, stets auf dem richtigen Kurs verharrt, bis es sich Zug um Zug dem ewigen Hafen genähert hat, in den das Schifflein schließlich mit dem letzten Atemzug einläuft und von den Chören der Engel und Heiligen mit großem Jubel in Empfang genommen werden wird.

Wahrlich: Klugheit und Gerechtigkeit, Mäßigkeit und Starkmut sind der Reichtum des gottwohlgefälligen Menschen. Er wird von der Heiligen Schrift seliggepriesen: „Glückselig der Mann, der ohne Fehler befunden wird, der dem Gold nicht nachjagt und nicht auf Geld und Schätze seine Hoffnung setzt. Wer ist der, auf daß wir ihn preisen? Denn Wunderbares hat er in seinem Leben vollbracht“ (Sir. 31, 8 f.). Amen.

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