Die helfende Gnade

Geliebte Gottes!

Die göttliche Gnade ist eine innere, übernatürliche Gabe, welche uns von Gott um der Verdienste Jesu Christi willen zu unserem ewigen Heil auf unverdiente Weise geschenkt wird. Sie wird in zwei Gattungen eingeteilt – in die „helfende Gnade“ und die „heiligmachende Gnade“. Während die heiligmachende Gnade in der Seele fortdauert, solange sie nicht durch eine Todsünde zerstört wird, wird die helfende Gnade nur für bestimmte, zeitlich begrenzte Situationen, ja bisweilen nur für den Augenblick gegeben. Mittels der helfenden Gnade wirkt Gott auf die beiden Kräfte unserer Seele ein, indem Er den Verstand erleuchtet und den Willen bewegt, damit wir das Böse meiden und das Gute tun. Die helfende Gnade ist zur Erlangung des ewigen Heiles unbedingt notwendig, weil wir nur mittels ihrer Hilfe solche Werke tun können, die uns zur Erlangung und Erhaltung des ewigen Lebens dienlich sind. Denn ohne die „helfende Gnade“ kann der Mensch nicht selig werden. Soviel haben wir am vergangenen Sonntag über die göttliche Gnade im Allgemeinen und über die „helfende Gnade“ im speziellen erfahren. Zwei Fragen sind dabei jedoch noch offen geblieben. Sie lauteten:

1. Wem wird die „helfende Gnade“ gegeben?
2. Auf welche Weise wirkt die „helfende Gnade“?

Diese beiden Fragen wollen wir heute versuchen genauer zu beleuchten.

Der allgemeine Heilswille Gottes

Die Antwort, wem die „helfende Gnade“ tatsächlich gegeben wird, lautet natürlich: Allen. Gott eilt allen Menschen zu Hilfe. Er schenkt allen Menschen „helfende Gnade“. Ja, mehr noch. Er schenkt allen Menschen hinreichend Gnade. D.h. Er schenkt jedem Einzelnen ein solches Maß an helfender Gnade, daß er damit selig werden könnte.

Die Richtigkeit dieser Antwort ist leicht aus drei Tatsachen zu erkennen. Einerseits ist der Schatz der göttlichen Gnade unermeßlich groß. Die Verdienste, die unser göttlicher Erlöser Jesus Christus bei Seinem Leiden und Sterben am Kreuz erworben hat, sind unendlich groß und zahlreich. Die Schatzkammer der göttlichen Gnaden wird also niemals erschöpft sein. Gott mag austeilen soviel Er will. Er wird dabei nicht ärmer. Schon deswegen dürfen wir mit einer freigebigen Austeilung der göttlichen Gnade rechnen. – Zum zweiten ist außerdem die Güte Gottes unaussprechlich groß. Ja, Gott hat ein wahres Verlangen danach, daß alle Menschen zur ewigen Seligkeit gelangen. Der hl. Paulus sagt: „Gott will, daß alle Menschen selig werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen“ (1. Tim. 2, 4). – Die dritte Tatsache, die berücksichtigt werden muß ist die, daß der Mensch ohne die Gnade nicht selig werden kann. Ja, aus eigenen Kräften noch nicht einmal einen Schritt auf dem Wege zum ewigen Leben vorwärtskommen kann. Weil das uns gesetzte letzte Ziel, die ewige Seligkeit des Himmels, ein übernatürliches Ziel ist, wir jedoch außerstande sind durch unsere natürlichen Kräfte dorthin zu gelangen, so sind wir folglich absolut auf die Hilfe der göttlichen Gnade angewiesen. – Stellen wir nun diese drei unbestreitbaren Sätze nebeneinander: 1. Christus hat die Gnade in unendlichem Maß verdient. 2. Gott will das Heil aller Menschen. 3. Der Mensch kann ohne die Gnade nicht zum Heil gelangen. Was folgt daraus? – Es folgt notwendigerweise daraus, daß Gott allen Menschen tatsächlich Seine Gnade gibt. So hat es die katholische Kirche stets gelehrt. So haben es die gläubigen Katholiken stets geglaubt. Die dem entgegenstehende Irrlehre, daß es Menschen gäbe, die nach Gottes Willen von vorneherein für die Hölle vorherbestimmt seien, deren Verdammung Gott beabsichtigt habe, ist auf das nachdrücklichste vom Lehramt der katholischen Kirche verworfen worden.

Das unterschiedliche Gnadenmaß

Wenn nun die Kirche lehrt, daß alle Menschen von Gott Gnade bekommen, so ist damit keineswegs gesagt, daß alle gleichviel Gnade, sozusagen genau dasselbe Maß der Gnade erhalten. Das ist nicht der Fall. Wer wollte behaupten, daß die heiligen Engel alle dasselbe Maß der Gnade erhalten hätten? Wer wollte erwarten oder verlangen, jenes Maß und jene Zahl der Gnaden zu erlangen, welches der allerseligsten Jungfrau Maria, der „Gnadenvollen“, zuteil geworden ist? Niemand im Himmel und auf Erden kann ernsthaft daran denken. – Wir sehen und lesen, daß gewisse heilige oder heiligmäßige Menschen gewisse Versuchungen spielend überwinden, an die wir nicht einmal denken dürfen; Werke unternehmen, so schwer und langwierig, daß sie uns erdrücken würden; Leiden ertragen, so schwer und hart, daß wir davor zurückschaudern; auf dem Weg zum ewigen Leben so schnell, mit so großen und sicheren Schritten voranschreiten, während wir kaum in Jahren einen Schritt auf dem Weg zur Vollkommenheit vorankommen. – Erklärt sich das alles nur daraus, daß der eine eben williger, freudiger, standhafter ist als der andere? Nur zum kleinsten Teil ist damit die Sache erklärt. Ganz ist die Sache hingegen erklärt, wenn wir berücksichtigen und beherzigen, daß die Menschen, die ja schon von Natur aus so verschieden sind in ihren geistigen, musischen und künstlerischen Fähigkeiten, in ihren körperlichen Kräften; so verschieden in ihren Charakteranlagen, in ihrer Bildung, in der Erziehung, die sie genossen haben und in ihrem sozialen Umfeld. Ist es da verwunderlich, daß diese auf dem Gebiet der Natur von Gott so unterschiedlich begabten Menschen, auch im Bereich der Übernatur ein verschiedenes Maß der göttlichen Gnade erhalten; vom höchsten Maß bis zu dem kleinsten, das jemals gegeben wurde? – Wenn also das Maß und die Zahl der Gnaden, die dem einzelnen zuteil werden, so verschieden ist und allein nach dem Willen Gottes bemessen werden muß, der Seine Gaben austeilt, wie Er will, so bleibt doch eine Frage übrig, die sehr berechtigt zu sein scheint, nämlich: Wieviel Gnade erhalten diejenigen, die am wenigsten bekommen? Mit anderen Worten: Welches ist das kleinste Maß? – Auch diejenigen, die am wenigsten bekommen, erhalten doch so viel, als dafür hinreichen würde, daß sie selig werden können. – Wenn einem Ertrinkenden, der mühsam mit den Wellen kämpft, vom Ufer aus ein Seil zugeworfen wird, so ist die Frage, ob das eine Ende des Seiles so nahe zu ihm herankommt, daß der Ertrinkende es mit seinen Händen erreichen kann. Kommt das Seil nahe genug, so ist es „hinreichend“, um ihn zu retten. Wenn es nicht zu ihm hinreicht, dann ist es nicht hinreichend.

Die menschliche Mitwirkung mit der helfenden Gnade

Aber wohlgemerkt: Das zugeworfene Seil, auch wenn es ihm so nahe kommt, daß er es erreichen kann, vermag den Ertrinkenden allein noch nicht zu retten. Er muß auch seinen Arm und seine Hand ausstrecken. Er muß das Seil ergreifen und festhalten. Er muß sich ziehen lassen und darf nicht wieder loslassen. Wenn er sich nicht bemüht. Wenn er das Seil nicht ergreift. Wenn er das einmal ergriffene Seil später wieder losläßt, es vielleicht von sich stößt, so wird er auch nicht gerettet werden; obwohl ihm doch hinreichende Hilfe zuteil wurde; obwohl er also hätte gerettet werden können.

Gott gibt allen Menschen hinreichend Gnade, daß sie selig werden können. Werden aber alle selig? Bei weitem nicht. – Aber alle erhalten doch hinreichende Gnade. Ja, aber nur einige benutzen sie und werden selig. Wenn die helfende Gnade benutzt wird, dann nennt man sie „wirksame Gnade“. Andere benutzen die angebotene Gnadenhilfe Gottes nicht und werden nicht selig. Und doch wäre die ihnen erteilte Gnade hinreichend gewesen, weshalb die ungenutzte Gnade, im Gegensatz zur genutzten, einfach nur „hinreichende Gnade“ genannt wird.

Wenn wir nun weiter fragen, ob der Unterschied zwischen der wirksamen und der hinreichenden Gnade bloß darin besteht, daß der Mensch allein mit der einen mitwirkt, im anderen Fall seine Mitwirkung verweigert, so nähern wir uns einem Abgrund geheimnisvoller Fragen mit unermeßlicher Tiefe, an deren Lösung die gelehrtesten und zum Teil heiligsten Männer der Kirche, sehr viel Scharfsinn und große Anstrengung aufgewendet haben, ohne die Frage ganz zu lösen. Wir stoßen letztlich an das Geheimnis des Zusammenspiels der göttlichen Gnade einerseits und der menschlichen Freiheit andererseits. Um nicht in diesem Geheimnis zu ertrinken, wollen wir uns mit dem Gesagten begnügen und von diesem Punkt aus zwei Bemerkungen anknüpfen, die für unser christliches Leben von größter Wichtigkeit sind. Denn, wenn die Gnade Gottes für unser ewiges Heil unbedingt notwendig ist und doch in so verschiedenem Maße ausgeteilt wird, dann ist es doch gewiß wichtig, ein großes Maß „wirksamer Gnade“ von Gott zu empfangen, ein volles, ein gerütteltes und geschütteltes Maß. Wie ist das möglich? 1. Wir müssen beharrlich um die Gnade Gottes beten. Freilich, schon um zu beten, muß man, wie wir letzten Sonntag gesehen haben, von der Gnade bewegt werden, sonst kann man gar nicht beten. Völlig richtig! Aber vielleicht ist dies die erste, die gewöhnlichste, die allgemeinste aller helfenden Gnaden Gottes; die Gnadenhilfe, welche uns zum Beten anregt; das eine Ende des Seiles, das uns zugeworfen wird. Sollte uns Gott weitere Gnaden geben, wenn wir noch nicht einmal so viel tun wollten, als Ihn darum zu bitten? „Bittet, und ihr werdet empfangen. Suchet, und ihr werdet finden; klopfet an, und es wird euch aufgetan. Denn jeder, der bittet empfängt, und wer sucht, der findet und wer anklopft, dem wird aufgetan“ (Lk. 11, 9). Das ist das Geheimnis des christlichen Lebens! Das ist das Geheimmittel, des jeder gebrauchen kann, um selig zu werden: Darum beten! – 2. Das andere Mittel, um reichlich Gnade zu bekommen, besteht darin, der Wirkung der Gnade keine Hindernisse zu setzen. Oder anders ausgedrückt: daß wir die Gnaden, die wir bekommen, gut benutzen. Der gute Gebrauch der Gnade ist das beste Mittel, um neue, noch größere und noch zahlreichere Gnaden zu bekommen. Denn wer die Gnade gut gebraucht, der macht sich vor Gott weiterer Gnaden würdig. Hingegen verliert selbst der reichste Mann die Lust daran, demjenigen Bettler weitere Almosen zu geben, der die empfangenen Gaben schlecht angewendet oder verschleudert hat.

Ein Beispiel: Ein Mann wurde im Krieg gefangengenommen und in einem hohen Turm eingekerkert, wo er der Vollstreckung des Todesurteils entgegenharrte. Seine Zelle hatte zwar eine Fensteröffnung, doch war es aufgrund der Turmhöhe unmöglich, zu entkommen. Ohne Seil würde jeder Fluchtversuch den sicheren Tod bedeuten. Also fand er sich mit seinem Schicksal ab. Doch eines Tages geschah es, da flog ein Pfeil durch das Turmfenster in die Zelle des Gefangenen. Als er den Pfeil begutachtete, bemerkte er, daß ein Stück Papier um den Schaft des Pfeiles gewickelt war. Darauf befand sich in der Handschrift eines treuen Freundes eine kurze Zeile. Er las: „Knüpfe einen Faden aus deinem Haar und laß es aus dem Fenster herab.“ Es dauerte ein wenig, bis der Gefangene begriff, was sein Freund vor hatte. Dann machte er sich an die Arbeit. Haare und Bart waren in der Zeit seiner Gefangenschaft gewachsen, was ihm die Arbeit etwas erleichterte. Geduldig und beharrlich knüpfte er Haar an Haar, bis der Haarfaden in seiner Länge aus dem Turmfenster gehalten hinunter bis zum Boden reichte. Nun konnte sein Freund, der sich unten vor dem Turm versteckt hatte, an das Haar einen festen Zwirnfaden anknüpfen. Diesen zog der Gefangene an dem zusammengeknüpften Haar nach oben. Als er den Zwirnfaden in der Hand hielt, knüpfte der Freund unten an den Faden eine dünne Schnur, die der Gefangene nun mit dem festen Zwirn emporzog. Mit der dünnen Schnur aber konnte er eine dickere Schnur, und mit der dicken Schnur ein Seil emporziehen. Dieses befestigte der Gefangene an einem festen Gegenstand in der Turmzelle und ließ sich aus dem Fenster an dem Seil die Turmmauer herab. So erlangte der Gefangene die Freiheit und entging dem Scharfrichter. – Die Anwendung ist einfach. Der Gefangene, das sind wir. Unser Freund, das ist Gott, unser Erlöser Jesus Christus. Der Pfeil ist Seine vorauseilende Gnade, welche uns die Idee zum Gebet eingibt: „Bittet und ihr werdet empfangen“, so lautet die kurze Botschaft, die uns bisweilen wie ein Gedankenblitz, wie ein Pfeil, in den Sinn kommt. Die aneinandergeknüpften Haare, sind unsere in beharrlicher Geduld verrichteten Gebete und Opfer. Wenn sie ein gewisses Maß erreicht haben, wird Gott daran eine erste wirksame Gnadenhilfe knüpfen können. Freilich, noch zu dünn, um schon die Rettung zu bringen. Wir können uns noch nicht zurücklehnen, sondern müssen unermüdlich weiter tätig bleiben; uns immer größerer Gnaden würdig machen, indem wir mittels der kleineren, die größeren erwerben. Solange, bis uns Gott die Gnade der Gnaden – die „Gnade der Beharrlichkeit bis ans Ende“ – auf dem Sterbelager zukommen läßt. Die Gnade der Beharrlichkeit ist das Seil, welches uns der Vollstreckung des Verdammungsurteils entkommen läßt.

Der Mensch muß also die Gnade, selbst die kleinste, gut gebrauchen, damit er sich größerer Gnaden, ja der größten Gnade würdig macht. Das meint auch Christus, wenn Er sagt: „Denn wer da hat“ – d.h. wer die Gnade gut gebraucht – „dem wird gegeben und er wird im Übermaß haben. Wer aber nicht hat“, wer also die Gnade ungenutzt liegenläßt, oder sich ihrer unwürdig erweist, „dem wird auch das genommen, was er hat“ (Mt. 25, 29).

Was sollen wir also tun, wenn einerseits alles allein von der Gnade Gottes abhängt, und wir andererseits doch die Verantwortung für die Wirksamkeit der Gnade tragen? Wir sollen dabei so vorgehen, wie es der hl. Ignatius von Loyola rät: „Bete, als hinge alles von Gott ab. Handle, als hinge alles von Dir ab. In allen Angelegenheiten handele, wie wenn Du alles und Gott nichts täte. Vertraue aber, als wenn Du nichts und Gott alles täte.“

Die Wirkungsweise der Gnade

In dem bisher gesagten ist eigentlich auch schon die Antwort auf die letzte Frage in unserem kurzen Überblick über die „helfende Gnade“ eingeschlossen. Die Frage lautet: In welcher Art und Weise wirkt die „helfende Gnade“? Wo sie wirkt, das wissen wir. In den Kräften der Seele. Im Verstand und im freien Willen. Was sie bewirkt, das wissen wir auch. Sie erleuchtet den Verstand und sie bewegt den freien Willen. Aber wie wirkt sie? Auf welche Weise? So daß sie uns zwingt? Oder so, daß sie uns den freien Willen läßt, uns zu entscheiden wie wir wollen?

Als Christoph Columbus bei seiner ersten Entdeckungsreise schon lange Zeit unterwegs war und noch immer kein Land gefunden hatte, da verlangte seine Mannschaft danach aufzugeben und wieder in die Heimat umzukehren. Aber Columbus bewegte sie dazu, weiter zu fahren. Wie? Durch Zwang? Das konnte er nicht. Er war einer alleine. Sie waren viele. – Aber er wirkte auf die Mannschaft ein. Er zeigte ihnen das Beispiel seines Heldenmutes, seine feste Überzeugung, daß sie Land finden würden. Er wies sie hin auf die Ehre, den Ruhm, die großen Vorteilen, die aus ihrem Unternehmen erwachsen würden; und andererseits auf die Schmach, die ihnen bei der verfrühten Heimkehr bevorstünde. So bewog er sie zur Weiterfahrt, nicht durch Zwang, sondern durch Einflußnahme auf ihren Verstand und ihr Ehrgefühl, dem sie sich willig hingaben. – Ein anderer Spanier entdeckte später mit seinen Gefährten ebenfalls ein neues Land. Aber beim Anblick der zahlreichen und tapferen Bewohner, der unermeßlichen Gefahren und Beschwerden verlangten auch seine Genossen die Umkehr. Er bewog sie zu bleiben. Wodurch? Durch Einflußnahme auf ihren Geist oder ihr Ehrgefühl? Es ist möglich, daß er das genauso versucht hat, wie einst Columbus. Aber er zwang sie schließlich, ob sie nun wollten oder nicht. Und wie? Er steckte sämtliche Schiffe in Brand, so daß eine Rückfahrt ausgeschlossen war. Nun mußten sie mit ihrem Anführer Hernando Cortez in Mexiko bleiben. Sie waren gezwungen.

Wie wirkt nun die Gnade auf den freien Willen des Menschen ein? Das ist die Frage. Durch Zwang? Nein! Die Gnade zwingt den menschlichen Willen nicht. Gewiß, die Gnade versucht den Willen zu bewegen, indem sie ihn an die Größe Gottes, die Häßlichkeit der Sünde, die Schrecken der Hölle, die Schönheit des Himmels erinnert; indem sie ihn stärkt und antreibt zu den Werken der Reue, der Buße, der Selbstverleugnung, der Gottes- und Nächstenliebe. Sie bewegt ihn, aber sie zwingt ihn nicht. Die Gnade läßt dem menschlichen Willen die freie Selbstbestimmung.

Wenn nämlich die göttliche Gnade dem menschlichen Willen Zwang antäte, so würde die Gnade immer und in allen Fällen und bei allen Menschen unfehlbar ihren Zweck erreichen. Sie wäre „unwiderstehlich“. Das aber ist offensichtlich nicht der Fall. Wie wäre sonst die Klage des Heilandes erklärbar: „Jerusalem, Jerusalem, wie oft wollte Ich deine Kinder sammeln, wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel sammelt, du aber hast nicht gewollt“ (Mt. 23, 37). Ohne Zweifel spricht Christus hier von den Gnaden, die Er den Bewohnern Jerusalems zahlreich erwiesen hatte. Er sagte Selbst, daß sie diese Gnaden zurückgewiesen hätten. „Du aber hast nicht gewollt.“ – Weil die Gnade den Menschen nicht zwingt, mahnt auch der hl. Paulus die Gläubigen von Korinth: „Wir ermahnen euch, daß ihr die Gnade Gottes nicht vergeblich empfanget“ (2. Kor. 6, 1). – Die Gnade Gottes kann also auch vergeblich empfangen werden, indem der Empfänger ihrem Einfluß widersteht. Deshalb mahnt auch die Kirche täglich zur Fügsamkeit, indem sie jeden Morgen ihre Diener den Psalm 94 beten läßt, wo es heißt: „Heute, da ihr Seine Stimme hört, verhärtet euer Herz nicht“ (Ps. 94, 8). Und Johannes Cassian sagt: „Bei uns aber liegt es, täglich der uns ziehenden Gnade Gottes demütig zu folgen oder aber mit hartem Nacken ihr zu widerstehen“ (conl. pat. 13, 3). Es liegt bei uns, ob wir der Gnade, der Stimme Gottes, folgen oder unser Herz dagegen verhärten wollen. Es liegt an uns, ob wir, vom erleuchtenden Blitz der Gnade getroffen, trotzdem damit fortfahren schlechte Gedanken zu denken, böse Worte zu sagen, sündhafte Handlungen zu tun oder das geforderte Gute zu unterlassen.

Freilich wäre Gott mächtig genug, so große und so kraftvolle „helfende Gnaden“ zu geben, daß der menschliche Wille ihnen nicht mehr widerstehen könnte. Gott könnte solche Gnaden geben, aber Er tut es nicht. – Und es ist eigentlich auch leicht einzusehen, warum Er das nicht tut. Wenn die Gnade Gottes unwiderstehlich wäre, was würde daraus folgen? Bedenken wir das wohl! Was müßte man von den Verdammten sagen müssen? Man müßte sagen, sie hätten keine Gnade bekommen; denn wenn sie die Gnade bekommen hätten, so hätten sie ihr ja nicht widerstehen können und wären mit Gewißheit selig geworden. Man müßte also sagen, daß die Verdammten zu unrecht verdammt worden wären. – Was müßte man sodann von den Seligen des Himmels sagen? Man müßte sagen, daß sie den Himmel nicht verdient hätten, denn sie hätten ja der Gnade gar nicht widerstehen können. Ihre guten Werke wären völlig und ganz allein Gottes Werke, ohne auch nur den geringsten Anteil des Menschen, der einen Lohn verdienen würde. – Wenn die Gnade in unwiderstehlichem Maß gegeben werden würde, wenn uns Gott also zwänge, dann würde Schuld und Verdienst gleichermaßen aufhören. Dann würden die einen völlig willkürlich, also ungerecht, bestraft; während die anderen völlig willkürlich, also unverdient, belohnt würden. – Nein, die göttliche Gnade zwingt den menschlichen Willen nicht, weder äußerlich noch innerlich. Sie läßt ihm seine Freiheit und eröffnet dem Menschen so die Möglichkeit des Verdienstes.

„Wähle also das Leben, damit Du lebest.“

Ja, wenn wir doch die Gnade und den gewaltigen Reichtum der göttlichen Gnaden erkennen und sozusagen mit Augen sehen könnten! Wir würden sehen, wie sich jeden Augenblick aus dem geöffneten Herzen des auferstandenen Erlösers, ohne Unterlaß zahllose Gnaden in die Herzen der Menschen ergießen; zahlreicher als die Sonnenstrahlen, die in jedem Moment auf die Erde treffen um sie zu erleuchten und zu erwärmen. Gnaden, die wie plötzliche Blitze die Seele erleuchten, die Seele erschüttern, bewegen, drängen, ziehen – weg von der Sünde, hin zu Guten Werken; Gnaden, welche die Seele beim Anfang, beim Fortschritt, bei der Vollendung jedes verdienstlichen Werkes und bei dem ganzen Werk des Heiles begleiten; Gnaden, die den Sündern und den Gerechten, den Gläubigen und den Ungläubigen, zuweilen stärker, zuweilen schwächer; bald seltener, bald häufiger angeboten werden. Aber alle diese Gnaden, so groß oder so klein sie auch sein mögen, lassen uns unseren freien Willen. Und so spricht Gott auch zu uns, wie damals zu Seinem auserwählten Volk: „Ich habe vor Dich gelegt Leben und Tod, Segen und Fluch, wähle also das Leben, damit Du lebest“ (Deut. 30, 19). – Da also von der „helfenden Gnade“ alles abhängt, nehmen wir sie mit Dank an. Benutzen wir sie auf das sorgfältigste! Und von ihr geleitet, werden wir das ewige Leben in unserer Seele empfangen, bewahren, vermehren und einst auch zu unserem ewigen Glück unverlierbar besitzen. Amen.

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