Fest der hll. Apostel Philippus und Jakobus
Die göttliche Gnade
Geliebte Gottes!
Am vergangenen Sonntag konnten wir uns davon überzeugen, daß der übernatürliche Glaube die unbedingte Vorbedingung dafür ist, um zum ewigen Leben zu gelangen, welches wir in seiner ganzen Fülle und Herrlichkeit im auferstandenen Erlöser, Jesus Christus, dem Sieger über Sünde, Tod und Teufel, verwirklicht sehen. Um unser Vorhaben voranzubringen, den Organismus des übernatürlichen Lebens im Innern der begnadeten Seele zu beleuchten, müssen wir uns heute dem Begriff der göttlichen Gnade zuwenden.
Das Wesen der Gnade im allgemeinen
Was versteht man also unter der göttlichen Gnade? Die Antwort lautet: Unter der göttlichen Gnade versteht man jede innere, übernatürliche Gabe, welche uns von Gott um der Verdienste Jesu Christi willen zu unserem ewigen Heil geschenkt wird. – Mit einem Wort: Die Gnade ist ein Geschenk! – Wer gibt es? Von wem kommt dieses Geschenk? Von Gott. Denn Gott allein kann es geben. – Wem wird es gegeben? Dem Menschen. Also uns. – Und wozu? Zu welchem Zweck? Zur Erlangung des ewigen Lebens. Zum ewigen Heil. Alle Gnaden werden gegeben, um das ewige Heil anzubahnen, um uns auf dem Weg zum ewigen Heil zu fördern, um uns zum ewigen Heil hinzuführen. – Wir bekommen die Gnade zwar geschenkt, dennoch gilt auch in der Gnadenordnung Gottes das allgemeine Prinzip: „Von nichts kommt nichts.“ Keine Wirkung ohne hinreichende Ursache. – Wer hat also die göttliche Gnade verdient, damit sie uns geschenkt werden kann? Unser göttlicher Erlöser, Jesus Christus, der menschgewordene Sohn Gottes. Sie ist die Frucht Seines Leidens und Sterbens am Kreuz. – Wie ist dieses Geschenk beschaffen? Die Gnade ist wesentlich „innerlich“ und „übernatürlich“. – Sie ist innerlich! Bei dem Wort „Geschenk“ denken wir zumeist an äußerliche Dinge. Der Patriarch Jakob schenkte seinem Sohn Joseph ein buntgestreiftes Gewand (vgl. Gen. 37, 3). Das ist ein äußerliches Geschenk. Die Gnade ist ein innerliches Geschenk! D.h. es ist nicht für den Leib, sondern für die Seele gegeben. Und es ist im Innern des Menschen, in der Seele, niedergelegt. Es ist also wie die Seele immateriell. – Die Gnade ist schließlich, und das ist ihr wesentlichstes Merkmal, ein „übernatürliches“ Geschenk. – Was bedeutet das? Es bedeutet: Die Gnade gehört nicht zur menschlichen Natur. Sie ragt weit darüber hinaus. Sie ist höher als unsere Menschennatur und steht deshalb – würde sie uns nicht von Gott geschenkt werden – gänzlich außerhalb unserer Reichweite. Wir stehen vor der übernatürlichen Gnade wie das kleine Kind vor dem Regal in der Speisekammer auf dessen oberster Fläche das Marmeladenglas in unerreichbarer Höhe steht. Das Kind kann sich noch so sehr strecken, es kann das Glas nicht erreichen. Es bedarf schon des Vaters, der es ihm herab reicht. – Die Gnade gehört weder zur menschlichen Natur, noch zu den Kräften der menschlichen Natur. Um den Unterschied zwischen Natur und Übernatur zu verstehen seien einige anschauliche Beispiele angeführt: Die Natur eines Stuhles besteht beispielsweise aus vier Beinen, einer Sitzfläche und einer Rückenlehne. Die Natur des Stuhles besteht also aus all dem, was den Stuhl zu dem macht, was er ist – ein Stuhl. Zur Natur eines Stuhles gehört es hingegen nicht auf seinen vier Beinen im Zimmer umherzulaufen, wie es etwa der Natur einer Katze oder eines Hundes eigen ist. Sollte es, wie in so manchem Märchen erzählt wird, geschehen, daß ein Stuhl beginnt sich zu bewegen und auf allen Vieren umherläuft, dann wäre dieser Stuhl über die Kräfte seiner Natur hinaus in den Bereich der Übernatur erhoben. Er könnte etwas leisten, das seine Natur übersteigt. Ähnliches, wenngleich gänzlich ohne Fabelei, berichtet uns die Heilige Schrift von der Eselin des Bileam (vgl. Num. 22). Als die Israeliten das Heilige Land in Besitz nahmen und den Stamm der Amoriter besiegt hatten, fürchtete Balak, der König der Moabiter, um sein Reich. Er ließ den Wahrsager Bileam rufen, damit dieser durch einen Fluch über das auserwählte Volk Gottes dessen Niederlage vorbereite, damit sich Israel nicht weiter ausbreiten könne. Entgegen der Anweisung Gottes, brach der von Gewinnsucht getriebene Bileam, auf seiner Eselin reitend, mit der Absicht auf, dem Wunsch Balaks Folge zu leisten und das Volk Israel zu verfluchen. Da trat dem Bileam an einem Hohlweg ein Engel mit gezücktem Schwert entgegen, um ihm den Weg zu versperren. Bileam konnte den Engel nicht sehen. Die Eselin schon. Weil die Eselin sich sonderbar und störrisch verhielt, schlug Bileam mit blinder Wut auf das Reittier ein. Sodann heißt es: „Da öffnete der Herr den Mund der Eselin und sie sagte zu Bileam: ‚Was habe ich dir getan? Denn schon dreimal hast du mich geschlagen.‘ … ‚Bin ich denn nicht deine Eselin, auf der du geritten bist von jeher bis auf den heutigen Tag? Habe ich mich denn jemals so gegen dich benommen?‘“ (Num. 22, 28. 30). Es gehört nicht zur Natur eines Esels, daß er sprechen kann. Was für den Menschen natürlich ist, ist für den Esel übernatürlich. Die Gabe vernünftig zu sprechen übersteigt die Kräfte der Natur eines Esels. Deshalb war die Eselin des Bileam in diesem Augenblick von Gott übernatürlich begabt worden. – Und weiter heißt es in der Heiligen Schrift: „Nun öffnete der Herr die Augen des Bileam. Da sah er den Engel des Herrn am Weg stehen, das gezückte Schwert in seiner Hand. Er verneigte sich und warf sich auf sein Antlitz“ (Num. 22, 31). Die Fähigkeit reine Geister, wie es die Engel sind, sehen zu können, übersteigt die menschliche Natur. Bileams Gesichtsinn wurde also in diesem Augenblick übernatürlich erhoben, damit er Dinge sehen konnte, die dem menschlichen Auge von Natur aus verborgen bleiben. – Das ist also gemeint, wenn wir sagen, die Gnade ist übernatürlich. Es bedeutet, daß die Gnade den Menschen über seine Natur hinaus erhebt, ihm Kräfte und Fertigkeiten verleiht, die weit über die Kräfte seiner Natur hinausreichen. Eben weil die Gnade übernatürlich ist und weit über der Natur steht, deshalb kann sie auch durch keinerlei Anstrengung menschlicher Kräfte erlangt oder durch irgendeine herausragende Leistung verdient werden. Deshalb bleibt die Gnade auch stets ein ungeschuldetes Geschenk. Selbst der vollkommenste Mensch könnte keinen Anspruch darauf erheben. – Aufgrund ihres übernatürlichen Charakters ist die göttliche Gnade also eine kostbare Sache; ein überaus kostbares Geschenk; das aus der Hand Gottes kommt; das zu Gott und zum ewigen Leben hinführt; das durch den Preis des kostbaren Blutes des Sohnes Gottes erworben wurde.
Einteilung der Gnade
Es gibt nun mehrere Arten der Gnade. Die hauptsächliche und wichtigste Einteilung der Gnade ist die in ihre beiden Hauptgattungen. Man unterscheidet (1.) die „helfende Gnade“ – auch „Beistandsgnade“ genannt – von der (2.) „heiligmachenden Gnade“. – Wodurch unterscheiden sich diese beiden Hauptformen der göttlichen Gnade? Wie machen wir es, wenn wir etwa zwei Bäume voneinander unterscheiden wollen, die sich an Größe und Gestalt ziemlich ähnlich sind? Es finden sich Unterschiede an den Früchten, in der Blüte, in der Form der Blätter, im Holz, in der Rinde, oder in den Wurzeln. Wenn mehrere Unterschiede vorhanden sind, so betont man gewöhnlich denjenigen, der am deutlichsten ins Auge fällt. – Es ist vielleicht nicht der tiefste, aber doch der auffälligste Unterschied. So fragen wir auch in unserem Fall: Welches ist der Unterschied zwischen der „helfenden Gnade“ und der „heiligmachenden Gnade“? Welcher Unterschied ist am leichtesten zu erkennen und zu behalten? Der auffälligste Unterschied liegt in ihrer verschiedenen Dauer. Die „helfende Gnade“ wird nur für den Augenblick, für eine bestimmte Situation gegeben und geht vorüber. Mehr oder weniger schnell, aber sie geht vorüber, so wie auch das Licht eines Blitzes nur kurz aufleuchtet, ehe es wieder verschwindet. – Im Gegensatz dazu verhält sich die „heiligmachende Gnade“. Die „heiligmachende Gnade“ bleibt in der Seele. Sie dauert fort. Sie bleibt so lange in der Seele, bis sie durch eine Todsünde, wie der Name schon sagt „getötet“ wird. Die „heiligmachende Gnade“ ist also der Sonne ähnlich. Die Sonne strahlt ununterbrochen, immerfort; so lange, bis sie am Ende der Welt durch die Hand des Schöpfers ausgelöscht wird. Die Sonne der „heiligmachenden Gnade“ aber scheint bis in alle Ewigkeit, wenn sie nicht durch den Menschen selbst mittels einer Todsünde zerstört und ausgelöscht wird.
Nachdem wir uns durch diese vorangegangenen Bemerkungen sozusagen den Weg gebahnt haben, gehen wir ans Werk, um die erste der beiden Gattungen, also die vorübergehende „helfende Gnade“ genauer ins Auge zu fassen. Es sind vier Fragen, die wir uns dabei stellen müssen, und von denen wir die ersten beiden heute noch beantworten wollen. Sie lauten: 1. Worin besteht die „helfende Gnade“? 2. Wozu ist sie notwendig? 3. Wem wird sie gegeben? Und 4. Wie wirkt sie?
Das Wesen der „helfenden Gnade“
Was ist also die „helfende Gnade“? Worin besteht sie? – Antwort: Die „helfende Gnade“ besteht darin, daß Gott unseren Verstand erleuchtet und unseren Willen dazu bewegt, das Böse zu meiden und das Gute zu tun. – Die „helfende Gnade“ ist also eine Einwirkung Gottes auf die Kräfte unserer Seele. Was bedeutet das? Die leblosen Körper wirken aufeinander ein. Wie groß ist etwa der Einfluß, den die Sonne auf alle irdischen und himmlischen Körper ausübt. Ihr Licht befähigt unsere Augen zum Sehen. Ihre Strahlen wärmen und wirken auf den Stoffwechsel der Pflanzen, der Tiere und des Menschen ein. – Auch unser Leib wird beeinflußt durch die Einwirkung anderer Dinge: etwa der Luft, des Wassers; durch die Sauberkeit unserer Wohnung, der Kleidung; durch die Qualität der Nahrung. Und auch wir selbst wirken auf die anderen Körper ein. Mit unseren Händen legen, heben, tragen, zerreiben, zerteilen, formen und behandeln wir die Körper nach unserem Belieben. Ein Mensch wirkt ferner auch auf andere Menschen ein: durch Belehrung, Ermahnung, Befehl, Warnung, Drohung, durch Versprechungen, oder das persönliche Beispiel; kurz: durch Wort und Tat. – Wir sehen: Die Geschöpfe wirken in ganz vielfältiger Weise aufeinander ein. Daher ist es nicht verwunderlich, wenn auch Gott, der Schöpfer und Herr aller Dinge, auf Seine Geschöpfe einwirkt; und zwar sehr stark, mit großer Macht. – Christus sagt, daß kein Sperling vom Dach fällt und kein Haar von unserem Haupt, ohne den Willen Gottes (vgl. Mt. 10, 29-31). Gott erhält und leitet alle Dinge in ihrem Dasein; in ihrem Leben; in ihrer Tätigkeit. Doch das ist lediglich ein natürlicher Einfluß!
Es gibt auch eine übernatürliche Einwirkung Gottes auf die Kräfte unserer Seele. Was sind das für Kräfte? – Wie unser Leib Augen hat, um zu sehen und Hände, mit denen er alles tut, was er tut, so hat auch die Seele zwei Kräfte, mit denen sie alle ihre Handlungen vornimmt und verrichtet. – Wie heißen diese Kräfte? Sie heißen: Verstand und freier Wille. Der Verstand ist dabei gleichsam das Auge der Seele. Mit dem Verstand erkennen wir die Welt um uns herum. Der Verstand benennt und beurteilt die Dinge. Mit dem Verstand können wir nachdenken, schlußfolgern, uns an Kenntnisse erinnern, die wir in unserem Gedächtnis abgespeichert haben. – Der freie Wille ist gleichsam die Hand der Seele. Mit dem freien Willen bestimmt und lenkt die Seele alle ihre Gedanken, ihre Worte, ihre Handlungen und ihre Unterlassungen. – Worin besteht nun die Einwirkung Gottes auf diese beiden Kräfte? – Wie wirkt Er auf den Verstand? Indem Er ihn erleuchtet. Wir haben den Verstand mit dem Auge verglichen. Auch das beste Auge kann nicht sehen ohne Licht. Was tun wir, wenn wir dem Auge helfen wollen, damit es besser sehen kann? Wir bringen den Gegenstand der gesehen werden soll, etwa die Zeilen die gelesen werden sollen, in besseres, in helleres Licht. Wir verbessern das Licht. Oder: Wir schärfen die Sehkraft des Auges durch eine Brille, eine Lupe, ein Mikroskop, ein Fernglas, oder ein Teleskop. – Der Verstand ist das Auge der Seele. Was tut Gott, wenn Er auf dieses Auge einwirken will? Er erleuchtet den Verstand mit übernatürlichem Licht, so daß er Dinge sieht, die er sonst nicht sehen würde; daß er an den Dingen das sieht, was er sonst nicht beachten würde. Daß der Mensch etwa den Zweck sieht, zu dem er erschaffen ist; daß er die Wege sieht, die zum ewigen Ziel führen; und daß er auch jene Abwege sieht, die ins Verderben führen. Gott wirkt auf den Verstand des Menschen ein, daß er Dinge einsieht, die dem natürlich denkenden Menschen gar nicht in den Sinn kommen. Etwa den Wert der Guten Werke oder die Kraft des Leidens! Welcher natürlich denkende Mensch könnte schon den Wert und die Kraft des Leidens einsehen, sowie den herrlichen Lohn, mit dem Gott das mit Ergebung getragene Leid vergilt? Wie der natürlich denkende Mensch die hl. Märtyrer sieht, das hat uns die Lesung aus dem Buch der Weisheit soeben geschildert: „Das sind jene, die wir einst verlachten und mit schimpflichen Worten verhöhnten. Wir Toren hielten ihr Leben für Unsinn und ihr Ende für ehrlos“ (Weis. 5, 4). Nur der von Gott erleuchtete Verstand kann ferner einsehen: die Gefährlichkeit der Versuchung; die Wirkung des Gebetes; die Abscheulichkeit er Sünde; die Schönheit der Tugend; die Herrlichkeit des Himmels; die Vollkommenheit Gottes.
Stellen wir uns einen Gefangenen vor, der in einem finsteren Kerker an eiserne Ketten, die in der Wand eingelassen sind, gefesselt ist. Der Kerker hat einen Ausgang, aber der Gefangene sieht ihn aufgrund der Finsternis nicht. Draußen tobt ein Gewitter. Blitze zucken und beleuchten den Raum durch eine kleine, schmale Öffnung in der Wand des Kerkers nur für den Bruchteil einer Sekunde taghell. Der Gefangene sieht den Ausgang, von dem er bisher nichts wußte. Er erkennt die Wirklichkeit um sich herum, die ihm vorhin noch verborgen war. Seine Hoffnung wird belebt. Er bewegt sich und tastet nach dem Ausgang, so gut und soweit er kann.
Worin besteht sodann die Einwirkung Gottes auf den freien Willen des Menschen? Er besteht darin, daß Er den Willen des Menschen bewegt. – Wozu? Das Böse zu meiden und das Gute zu tun. Wie alle irdischen Körper geneigt sind, zu Boden zu fallen, so ist der Wille des Menschen von Jugend auf zum Bösen geneigt. Das ist eine Tatsache, die wir aus eigener Erfahrung zu Genüge kennen. Wie der Körper, der daliegt, schwerfällig ist und sich aus eigener Kraft nicht in Bewegung setzen kann, so ist unser Wille aus sich selbst schwerfällig und nicht imstande, das übernatürlich Gute zu verlangen, geschweige denn zu tun. – Wie kommt also der Wille des Menschen in Bewegung, damit er nach dem übernatürlich Guten strebt, was ja oft mit Selbstverleugnung, Opfer und Verzicht verbunden ist? So wie der Körper durch eine äußere Kraft bewegt, gezogen, gehoben, gestoßen, geworfen werden kann, so bewegt Gott durch Seine Gnadenhilfe den Willen des Menschen, daß er das Böse nicht nur erkennt, sondern auch meidet; daß er das Gute nicht nur mit dem Verstand einsieht, sondern es auch freiwillig tut. Mit welcher Kraft kann bereits die Hand eines kleinen Jungen einen Stein durch die Luft schleudern. So sehr, daß der Getroffene Schmerzen fühlen wird. Mit welcher ungeheuren Kraft feuert ein Schützenpanzer die schwersten Geschosse in kilometerweite Entfernung! Aber welche Kraft kann Gottes Gnade erst dem schwachen menschlichen Willen geben, wenn der Allmächtige ihm unter die Arme greift, wenn Gott dem schwachen Willen hilft sich zu bewegen. Völlig zu Recht ruft der hl. Paulus aus: „Alles vermag ich in Dem, der mich stärkt“ (Phil. 4, 13).
Denken wir noch einmal an den Gefangenen in dem finsteren Kerker. Der erste Blitz hat ihm gezeigt, wo der Ausgang zu finden ist. Aber der Gefangene ist mit schweren Ketten an die Mauer geschmiedet, so daß gar keine Gittertür nötig ist, um ihn zurückzuhalten. Die schweren Kettenglieder halten ihn gefesselt. Da schlägt ein zweiter Blitz ein, der die Kette sprengt. Mit welcher Eile wird der Gefangene jetzt aus seinem Kerker fliehen! Der erste Blitz erleuchtete seine Augen; der zweite zertrümmerte seine Fesseln und gibt ihm eine Bewegungsfreiheit, die er vorher nicht kannte.
Halten wir also fest: Die „helfende Gnade“ besteht darin, daß Gott unseren Verstand übernatürlich erleuchtet und unseren Willen übernatürlich dazu bewegt, das Böse zu meiden und das Gute zu tun. Dementsprechend wird die „helfende Gnade“ auch weiter unterteilt in die auf den Verstand einwirkende „erleuchtende Gnade“ und die auf den Willen einwirkende „bewegende Gnade“.
Die Notwendigkeit der „helfenden Gnade“
Bleibt für heute noch die Frage zu beantworten, wozu die „helfende Gnade“ notwendig ist. Und wir müssen antworten, daß sie für unser ewiges Heil absolut notwendig ist. Ohne ihre Hilfe, können wir nicht das Geringste tun, um zum ewigen Leben zu gelangen. – Daß der Mensch sein Seelenheil ohne den Erlöser Jesus Christus nicht erlangen kann, ist unter Christen unumstritten. Nun sagt aber der Herr: „Niemand kann zu Mir kommen, wenn der Vater, der Mich gesandt hat, ihn nicht zieht“ (Joh. 6, 44). So schwerfällig ist unser Wille, daß er von der Gnade Gottes erst einmal zum Erlöser hingezogen werden muß. Folglich ist die „helfende Gnade“ für unser Seelenheil so notwendig, daß wir ohne sie nicht das Geringste anfangen, fortsetzen oder vollenden können, was unserem ewigen Heil dienlich wäre. Das ist eine von den wichtigsten Wahrheiten unseres Glaubens. Es handelt sich um ein Dogma, das jeder Christ glauben muß: „Niemand kann ohne die Gnade Gottes selig werden.“
Gewiß kann der Mensch aus seinen eigenen natürlichen Kräften so manches Böse meiden und viel Gutes tun. Wir sehen das an den Ungläubigen. Sie können durchaus gewisse Sünden meiden und natürliche Gute Werke tun. Ihre Einsicht ist ja nicht ganz verdunkelt. Ihr freier Wille ist nicht vollständig ohnmächtig. Aber der Mensch ist, seitdem die Erbsünde über das Menschengeschlecht gekommen ist und sich von Generation zu Generation weitervererbt, nicht einem Gesunden zu vergleichen, sondern einem Halbblinden, der nicht gut sieht; einem Kranken oder Verwundeten, der kaum alleine stehen und gehen kann. – Wird ein Verwundeter den Kampf mit vielen und starken Gegnern bestehen können? Wohl kaum! Er ist zu schwach. So haben wir die Hilfe der Gnade dringend notwendig in den Augenblicken der schweren Versuchung; damit wir sie überwinden können, also um das Böse zu meiden. – Wenn es sich aber um die Erlangung des höchsten Gutes handelt, den Himmel, das ewige Leben, Gott Selbst, dann vermögen unsere natürlichen Kräfte aus sich selbst heraus, rein gar nichts, um dieses Ziel zu erlangen. Denn unser ewiges Ziel ist ein übernatürliches. Wie das Marmeladenglas ist es vollkommen außerhalb der Reichweite unserer natürlichen Guten Werke. Wir können uns noch so sehr danach ausstrecken. Wir können das übernatürliche Ziel aus unseren eigenen Kräften nicht erreichen, weil wir aus uns nur natürlich Gute Werke, aber keine übernatürlich Guten Werke vollbringen können. Dazu bedürfen wir der Gnadenhilfe des Erlösers. Deshalb sagt Christus im heutigen Evangelium zu den Aposteln: „Niemand kommt zum Vater, außer durch Mich“ (Joh. 14, 6). Und wenig später sprach Er es noch deutlicher aus: „Ohne Mich könnt ihr nichts tun“ (Joh. 15, 5). – Ja, wir können nicht einmal einen frommen Gedanken fassen, ohne von der „helfenden Gnade“ dazu befähigt zu werden. Der hl. Paulus sagt: „Nicht weil wir tüchtig sind, durch uns selbst etwas zu denken, wie aus eigener Kraft, sondern unsere Tüchtigkeit ist aus Gott“ (2. Kor. 3, 5). Keinen Schritt können wir tun, der zum ewigen Leben förderlich ist, ohne die Gnadenhilfe Gottes. Wir können nicht einmal den Namen Jesus ohne die Gnade so aussprechen, wie es sein soll, nämlich mit Glauben und Vertrauen. Wiederum ist es der hl. Paulus, der sagt: „Niemand kann sagen: Herr Jesus, außer im Heiligen Geist“ (2. Kor. 12, 3). Noch viel weniger können wir ohne Gnade solche Werke tun, die der Belohnung mit dem ewigen Leben würdig sind. Noch einmal: Unsere Werke sind ohne die Gnade, lediglich natürliche Werke. Damit können wir nur eine natürliche Belohnung als gerechten Lohn verdienen. Das ewige Leben ist aber übernatürlich. Ohne die Hilfe der Gnade könnten wir es weder als unser Ziel erkennen, noch erstreben, geschweige denn es erreichen. Alle Schritte auf dem Weg zum ewigen Leben, also Gebet, Bekehrung, Buße, Selbstverleugnung aus Liebe zu Gott, Überwindung der Versuchungen, übernatürliche Tugend und Verdienst, sowie die Beharrlichkeit bis ans Ende sind einfach nicht möglich ohne den helfenden Einfluß der Beistandsgnade. Wenn aber der Anfang des Weges, die Fortsetzung des Weges, die Vollendung des Weges ohne Gnade unmöglich sind, dann ist es klar, daß die ewige Seligkeit ohne die „helfende Gnade“ nicht erlangt werden kann. Der Völkerapostel sagt: „Gott ist es, der in euch das Wollen und das Vollbringen wirkt nach Seinem Wohlgefallen“ (Phil. 2, 13). Und an anderer Stelle: „Also liegt es nicht am Wollen oder Laufen eines Menschen, sondern am Erbarmen Gottes“ (Röm. 9, 16).
Demut und Vertrauen
Das ist eine Wahrheit, die wir glauben müssen; eine Wahrheit, die uns demütigt. Wir haben eine Aufgabe zu lösen. Wir haben unsere ewige Bestimmung zu erfüllen. Wir müssen zum ewigen Leben gelangen. Und Wehe, wenn es nicht gelingt. – Wenn wir aber unsere eigenen Kräfte betrachten, ist klar, daß wir aus eigener Anstrengung dazu nicht in der Lage sind. Mit eigenen Mitteln können wir das Ziel unmöglich erreichen. Wir müssen Gott also demütig um Seine Hilfe anflehen. Aber selbst zum Gebet bedürfen wir schon Gottes gnadenhafter Hilfe. Ja, damit wir überhaupt um die heilsnotwendige Gnade bitten wollen, muß uns Gott schon mit der helfenden Gnade zuvorkommen, wie der hl. Augustinus erklärt: „So findet sich auch das Gebet selbst unter den Gnadengaben. Der Völkerapostel sagt nämlich: ‚Um was wir beten sollen, wie es sein muß, das wissen wir nicht; aber der (Heilige) Geist Selbst bittet für uns mit unaussprechlichen Seufzern.‘ (Röm. 8, 26). Was heißt ‚Er (der Heilige Geist) bittet‘ anderes als: Er bewirkt, daß wir bitten? Es ist ja das sicherste Anzeichen der Hilfsbedürftigkeit, mit Seufzern zu bitten. Doch müssen wir glauben, daß der Heilige Geist nichts bedarf. Dennoch heißt es: ‚Er bittet für uns mit unaussprechlichen Seufzern‘, weil Er bewirkt, daß wir bitten, indem Er uns die Neigung zum Bitten und Seufzen einflößt, nach dem Wort des Evangeliums: ‚Nicht ihr seid es, die da reden, sondern der Geist eures Vaters ist es, der in euch redet.‘ (Mt. 10, 20). Auch vollzieht sich diese Einwirkung nicht so an uns, als ob wir dabei nichts tun würden. Daß uns der Heilige Geist beisteht, ist nur so ausgedrückt, daß es heißt, Er tue selbst, was Er doch nur in uns bewirkt“ (Ep. ad Sixt.).
Der eine mag am Anfang seines Lebensweges stehen, ein anderer am Ende. Keiner kann das ewige Leben erreichen, ohne den Beistand der göttlichen Gnade. Der eine mag ein großer Heiliger sein, der andere ein großer Sünder. Keiner kann sich versprechen durch eigene Kraft ans ewige Ziel zu kommen. Der eine mag schon viel Gnade von Gott bekommen haben, der andere wenig; ohne neue Gnade kommt aber keiner auf dem Weg zum Himmel voran. – Schauen wir hin, wohin wir wollen; schauen wir auf den Himmel oder auf die Hölle; schauen wir auf uns selbst oder auf andere Menschen; auf unsere Vergangenheit oder auf unsere Zukunft. Nichts, rein gar nichts kann uns eine Stütze geben, wenn uns nicht die Gnadenhilfe zuvorkommt.
Ja, was sind wir ohne Gott und ohne Seine Gnade? Verlorene Geschöpfe! Dem ewigen Tod der Verdammnis geweiht! Wahrhaftig, das sollte uns Veranlassung und Grund sein, uns zu demütigen. Ohne Gnade, ohne die Gnade Gottes sind wir weniger als nichts. Und gleichzeitig sollen wir doch ein großes Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit haben, der uns mit Seiner Gnade zu Hilfe eilten will, uns über all unsere natürlichen Fähigkeiten und Kräfte hinaus befähigt, damit wir unser ewiges Heil wirken können. Denn, was der hl. Paulus von sich sagt, das gilt auch für jeden demütigen Menschen: „Alles vermag ich in Dem, der mich stärkt.“ Mit Hilfe der göttlichen Gnade, die uns Gott täglich unzählige Male in hinreichendem Maße anbietet, können wir das ewige Leben erkennen, begehren, verlangen, verdienen, erlangen und erhalten.
„So bleibt“, wie Augustinus sagt, „keine andere richtige Auffassung der Schriftstelle: ‚Es liegt nicht am Wollen und Laufen eines Menschen, sondern am Erbarmen Gottes‘, übrig, als daß wir alles Gott zuschreiben, der den guten Willen des Menschen zur Unterstützung vorbereitet und nach der Vorbereitung unterstützt. Denn in der Heiligen Schrift heißt es sowohl: ‚Seine Barmherzigkeit wird mir zuvorkommen‘ (Ps. 58, 11), als auch: ‚Seine Barmherzigkeit wird mir nachfolgen.‘ (Ps. 22, 6). – Dem, der nicht will, kommt sie zuvor, damit er will; dem aber, der will, folgt sie nach, damit er nicht vergeblich will“ (Manuale 9, 32). Amen.