Der schlafende Christus

Geliebte Gottes!

Manchmal tut einem ein Schrecken gut. Nicht umsonst spricht man vom „heilsamen Schrecken“. Man müßte gelegentlich in einem schleudernden Auto sitzen, eine dünne Eisdecke unter den Füßen knacken und knirschen hören, oder ähnliches. Im Schrecken wird offenbar, wie es um einen steht. Im Schrecken gibt man sich, wie man ist; nicht wie man sich selbst sieht oder wie man vor anderen erscheinen möchte. Selbstwahrnehmung und Wirklichkeit klaffen ja sehr oft weit auseinander. Noch lange nicht jeder, der sich für einen guten Katholiken hält, betet im Schrecken. Manch einer duckt sich nur und schreit auf.

Auch die Apostel im Schiff haben geschrien: „Herr, hilf uns! Wir gehen zugrunde“ (Mt. 8, 25). Und nach dem Bericht des hl. Markus war ihr Schreien sogar ein Vorwurf: „Meister, kümmert es dich nicht, daß wir zugrunde gehen!“ (Mk. 4, 38). Man könnte zwar mit gutem Willen ein Gebet aus ihrem Schreien heraushören. Jedenfalls war es aber noch ein sehr mangelhaftes Gebet; weil sie nämlich glaubten, den Herrn erst wecken zu müssen. Deshalb zogen sie sich auch den Tadel des göttlichen Meisters zu: „Ihr Kleingläubigen!“

Ihr Kleingläubigen!

„Kleingläubige“ werden sie von Christus genannt. Ist das nicht seltsam? Kleingläubige! Man könnte einwenden, daß sie doch von Christus Hilfe erwarteten und Ihm damit doch auch zutrauten, daß Er mehr könne als sie selbst. Mehr als sie, die erfahrenen Fischer und Seefahrer, die Wasserratten, die auf dem See Genezareth mit seinen Wetterlaunen gleichsam wie zu Hause waren! Wo sie Ihm doch zutrauten, Er könne bei tosendem Sturm und leckem Boot noch helfen! Wenn das kein Glaube ist, möchte man meinen. Und doch werden die Jünger gescholten: „Ihr Kleingläubigen!“ Mit Recht! Als ob der schlafende Christus weniger mächtig sei als der wache. Seine Gewalt ist die des ewigen Gottessohnes, der niemals schläft und immer wacht. – Und wenn sie Ihn nun nicht geweckt hätten? – Mußte denn der Sturm unbedingt gestillt werden? Mußte das Boot heil ans Ufer zurückkehren? Mußten sie denn unbedingt vor dem Tod in den Wellen bewahrt bleiben? Gäbe es für ihr Weiterleben eine unbedingte Notwendigkeit? Wenn sie in die Tiefe gesunken wären, wie weit? Wohin? Doch auch nur in die Hand Gottes, welche sie im Leben hält und im Tode auffängt. Das hatten sie nicht bedacht. So weit reichte ihr Glaube noch nicht. Der Sachverhalt, den der hl. Paulus später in die Worte kleiden würde „Ob wir nun leben oder sterben, wir sind des Herrn“ (Röm. 14, 8), war den Jüngern damals noch nicht aufgegangen. Darum waren sie Klein-Gläubige. D.h. sie hatten Glauben, aber noch einen zu kleinen. Geringer als er notwendig gewesen wäre, um sich in den Stürmen und Bedrängnissen dieser Weltzeit standhaft bewähren zu können.

Freilich, man kann nicht an alles denken in einer Schrecksekunde. Aber man denkt an das, was wirklich innerer Besitz der Seele ist. An das, woran wir uns als allerletztes festklammern, wenn wir in der Gefahr sind „unterzugehen“. – Das ist für jeden von uns ein Anlaß zur Selbstprüfung. Welches sind wohl die Strohhalme an denen wir uns in einer bedrohlichen Situation festklammern? – Wenn es nicht Gott und Sein hl. Wille wäre, dann würde der Herr auch uns mit Recht „Kleingläubige“ heißen.

Zweck der Lebensstürme

Um ans Tageslicht zu fördern, wie es um uns steht, läßt Gott es immer wieder zu, daß der Wellengang unseres Lebens von so manchem Sturm aufgepeitscht wird. Wie der hl. Petrus Chrysologus sagt: „Nicht heitere und stille Witterung erprobt die Kenntnis des Steuermannes …, da kann auch der schlechteste das Schiff lenken. Beim Stürmen des Orkans aber sucht man den allergeschicktesten Steuermann auf.““Der Sturm weist den erfahrenen Steuermann aus. Und ein frommer Schriftsteller schreibt im Geiste des hl. Augustinus: „Du hast dich Jesus übergeben, fühlst dich so selig in Seinem Dienste, meinst, es müsse immer heiterer Himmel bleiben. Weißt du nicht, was der weise Sirach sagt: ‚Mein Sohn, willst du den Dienst Gottes antreten, … mach dich auf Anfechtung gefaßt‘ (Sir. 2, 1 ff.)? Glaube ja nicht, daß der Herr schlafe, wenn Er Versuchungen über dich kommen läßt, oder dich mit Traurigkeit heimsuche. Nur zu oft ist gerade das die Ursache, daß du selbst Jesus in dir einschlafen ließest. Dein Glaube ist so matt geworden, dein Eifer so abgespannt, du so schläfrig zu allem Guten; darum erheben sich die Versuchungen mächtiger, weil die Sünde mehr Gewalt über dich bekam, weil Gott aus weisen Absichten mit seinem Troste sich zurückzog. Aber Er will dich nur vom gefährlichen Schlafe müßiger Behaglichkeit aufschrecken; will dich demütig und wachsam machen, dich zum Gebet nötigen, dir Gelegenheit verschaffen zu höherer Tugend, zu glänzenderer Belohnung. Wie Orkane die Luft reinigen, Stürme das Meer vor Fäulnis bewahren, die Biene aus bitteren Pflanzen süßesten Honig bereitet, das Gold im Feuer geläutert wird, so der Gerechte in Versuchungen und Trübsalen. Wann glänzte die Tugend des Joseph, des Tobias oder der Susanna schöner, als zur Zeit der Bedrängnis und der Anfechtung? Daher mahnt auch der hl. Apostel Jakobus: ‚Haltet es für lauter Freude, … wenn ihr in mancherlei Anfechtung fallet. … Selig der Mann, der in der Anfechtung standhält.‘ (Jak. 1, 12).“ Eine solche Sichtweise erfordert einen reifen Glauben!

Der Mensch ist also der Steuermann seiner Seele. Die Stürme des Lebens rütteln ihn wach, halten ihn zum Gebet an und prüfen dabei die Reife seines Glaubens. – Auch mit reiferem Glauben hätten die Apostel zweifelsohne gebetet. Sie hätten wahrscheinlich auch um Rettung aus der Seenot gebetet, ja womöglich sogar mit den gleichen Worten: „Herr, hilf uns, wir gehen zugrunde!“ Es ist dem Menschen ja aufgegeben, in der Not zu beten. Erst recht in Todesgefahr! Aber mit reiferem Glauben hätten die Jünger nicht geschrien. Sie hätten nicht Christus zu wecken versucht und Ihm erst recht nicht, von Panik ergriffen, Vorhaltungen gemacht, als ob Ihn ihre Not nicht kümmern würde.

Der schlafende Gott

Der „schlafende Christus“ ist eine Betrachtung wert, weil Er bis heute zur Prüfung für die Gläubigen wird. Keinem von uns wird die Begegnung mit dem „schlafenden Christus“ im Leben ganz erspart. Da ist die Mutter am Krankenbett ihres Kindes und der Vater, der für seinen störrischen Sohn betet. Sie begegnen Ihm. Der kleine Mann, der sein Recht nicht durchsetzen kann, weil sein Geld nicht für den Anwalt reicht oder der Mächtigere über bessere Beziehungen verfügt. Da ist die Krankenschwester und der Altenpfleger, die es aus Gewissensgründen ablehnen, der staatlich verordneten „Solidarität“ Folge zu leisten und dabei ihre Arbeitsstelle aus Spiel setzen. Da sind die Eheleute, die ihre Entfremdung nicht aufhalten können. Die Katholiken in der Zerstreuung, die wie lange schon um einen wahren Papst beten, und doch im Gegenteil sehen müssen, wie das Chaos und das Verderben immer weitere Kreise zieht und dabei alle christlichen Grundsätze zu Fall kommen. Da ist sodann der unheilbar Erkrankte, der noch minderjährige Kinder hat, und der Alte, den der Tod vergessen zu haben scheint. Sie alle beten. Wir alle sind in unserem Leben immer wieder heftigen Stürmen ausgesetzt. Wir alle beten. Doch Christus scheint zu schlafen.

Im Alten Testament hatte einst der Prophet Elias die Baalspriester, die vergebens lautstark zu ihrem Gott um Feuer für das Opfer schrien, verhöhnt: „Ruft doch lauter. Er ist ja ein Gott! … Vielleicht schläft er auch und muß erst aufwachen“ (1. Kön. 18, 27). – Ja, schläft Gott nicht wirklich? Trifft der Hohn des Propheten Elias nicht zuletzt uns selbst, die wir heute vom Sturm, dieser furchtbaren, immer weiter um sich greifenden Krisen hin und her geworfen sind; die wir heute mit Ihm und Seiner Kirche in einem versinkenden Boot fahren? Es ist ja längst nicht nur eine Glaubenskrise, eine Familienkrise, eine Ehekrise. Wir erleben inzwischen in allen Lebensbereichen allerorten Krisen. Wir erleben eine „Alles-Krise“, und Gott schläft, während Seine Sache, während Kirche und Welt am versinken sind. Ist das nicht die Erfahrung unserer Tage? Gott schläft! – Weil es so scheinen mag, darum haben wir unbedingt jenen Sturm auf dem See Genezareth und den schlafenden Christus im Boot gebraucht – und Seinen Tadel „Ihr Kleingläubigen!“

Mehr beten?

Das normale Rezept derer, die immer einen guten Rat wissen, lautet: „Klar! Man muß mehr beten!“ Natürlich, man betet fast immer zu wenig, und dann gibt es Leute, die nicht nur wenig, sondern gar nicht beten. Es ist aber nicht wahr, daß „mehr beten“ das Allheilmittel ist. – „Besser beten“ ließe sich schon eher hören. „Mehr beten“ kann nämlich viel menschlichen Eigensinn und viel Mißtrauen in Gottes Weisheit und Güte verraten und den Tadel „Ihr Kleingläubige!“ sehr wohl verdienen.

„Besser beten“ bedeutet vor allem gottergeben beten. So ungefähr wie jenes Schwesternpaar – Martha und Maria – von dem uns das Evangelium berichtet, deren Bruder Lazarus schwer erkrankt war und die deshalb unserem Herrn Jesus Christus sagen ließen: „Herr, den Du liebhast, er ist krank“ (Joh. 11, 3). Wieviel Sicherheit, Vertrauen und Ergebenheit steckt doch in diesem Gebet! Es findet sich darin das Wissen um Seine grenzenlose Güte und um Seine göttliche Macht; zugleich wieviel bescheidenes Sich-fügen! – Niemals kann ein Mensch Gott herunterbeten auf die Ebene seiner eigenen Wünsche und winzigen Einsichten. Er sollte es deshalb auch gar nicht erst versuchen. Der Sinn des Bittgebetes ist ja nicht Gottes Willen zu ändern, nicht Ihn umzustimmen, gleichsam gegen Gottes Ratschlüsse anzubeten, sondern statt dessen, uns selbst hinaufzubeten auf die Höhe des göttlichen Willens. Der hl. Thomas sagt sinngemäß: „Wir beten nicht, um den göttlichen Ratschluß zu ändern, sondern um zu erhalten, was Gott beschlossen hat durch das Gebet zu geben.“ Noch so manches könnte Gott uns dann gewähren, wenn wir grundsätzlich mit Seinem Willen einverstanden wären und unser kindischer Eigensinn nichts mehr ertrotzen wollte. Wir wären reif auch für ein bißchen mehr Sonne im Diesseits und zugleich fröhlich, wenn der Schatten auch bleibt. Der wache und reife Beter ist gläubig genug, um immer zu denken: „Herr, Dein Wille geschehe!“ und kindlich genug zu sagen: „Erlöse uns von dem Übel!“ und: „Gib uns heute unser tägliches Brot!“ Und darum ist der der Erhörung sicher, entweder der Erhörung seiner Worte oder seiner Gedanken. Beides ist ihm recht. Darum schreit er nicht beim Beten, sondern bleibt innerlich ruhig. Geborgen in der allmächtigen Hand Gottes.

Gottergebenes Beten

Gerade darum ist Beten eine hohe Kunst, die nur die Besten einigermaßen beherrschen. All das andere ist mehr oder weniger ein Versuch zu beten, nicht nutzlos, keineswegs; freilich nicht schlecht; ein Versuch, der uns übt, es immer besser zu machen und vielleicht eines Tages zum wirklichen Beten zu kommen.

„Herr, lehre mich beten!“ (vgl. Lk. 11, 1). Diese Bitte wäre schon ein großer Fortschritt, der uns dem wirklichen Gebet, das auf einem tiefen Glauben gründet, sehr viel näher brächte. Vielleicht wagen wir uns dann auch eines Tages in großer Not und Bedrängnis an jenes Gebet des Menschensohnes heran, als dessen Seele im Ölgarten vom Angststurm gepeitscht wurde: „Vater, wenn es möglich ist, dann gehe dieser Kelch an Mir vorüber. Aber nicht Mein Wille geschehe, sondern der Deine!“ (Mt. 26, 39). Das ist das vollkommene Gebet eines Menschen, dem es einerseits aufgegeben ist, seine Not vor Gott auszusprechen, und der doch den Willen des Vaters ganz bejaht. In dieser vollkommenen Verbindung beider Elemente ist dieses Gebet einmalig. Darum ist schließlich richtiges Beten abhängig von der richtigen Gesamteinstellung des Menschen zu Gott; zu der richtigen Bewertung dieses irdischen Lebens und des zeitlichen Glücks; von seiner praktischen, täglich neu versuchten Pflichterfüllung und Ergebung in den göttlichen Willen. Nur so ein Mensch kann beten. Und umgekehrt: So ein Beter kann dann auch richtig leben und bekommt von Gott die notwendige Gnadenhilfe, derer er dazu bedarf. Die Christenheit hat diese Erfahrung gemacht und sie in dem Grundsatz niedergelegt: „Wer recht zu beten weiß, weiß auch recht zu leben.“ Wenn man den Satz umkehrt, stimmt er auch: „Wer recht zu leben weiß, weiß auch recht zu beten.“

Christus an Bord!

Als ein weiteres Mittel neben dem gottergebenen Beten ist ferner – nicht die gewohnheitsmäßige, nicht die laue, sondern – die gläubige und eifrige Kommunion zu nennen. In der eucharistischen Vereinigung mit unserem Herrn können wir unseren Glauben an Seine göttliche Allmacht erneuern und bekräftigen. An Seine göttliche Allmacht, die jeden Sturm bezähmen kann, wann Sie will. – Gerade beim Kommunionempfang während der Feier der heiligen Messe haben wir dazu Gelegenheit und wir sollten uns darüber hinaus auch täglich in der geistigen Kommunion darin üben.

Im Allerheiligsten Altarsakrament ist unser göttlicher Erlöser wirklich, wahrhaft und wesentlich gegenwärtig. Doch es ist, als ob Er schliefe. Er rührt sich nicht. Er streckt Seinen Arm nicht sichtbar aus, wenn auch die Feinde um uns noch so toben. Er ist ganz still. Und doch lassen Ihn uns die Augen des Glaubens in der hl. Hostie erkennen als unseren Herrn und Gott, der dem Wind und den Wellen gebietet. Ist unser Leben also vom Sturm umtost; drohen Leiden, Anfechtungen und Verfolgungen unser Seelenschiff zu überfluten; wenn wir kommunizieren, so steigt Jesus in das Boot unserer Seele. Er verläßt uns nicht. Er ist bei uns, auch wenn Er zu schlafen scheint. Sodann sprechen wir ruhig und vertrauend: „Herr, rette uns! Wir gehen zugrunde! Nicht mein, sondern Dein Wille geschehe!“ Und unser Erlöser, der bei uns ist und bei uns bleibt, wird in dem Moment den Sturm zu schweigen bringen, den Er bestimmt. Und zwar wenn Er es will, wann Er es will, wie Er es will und wie lange Er es will. Ein weiser Mann hat einmal gesagt: „Gott hilft immer, aber Er kommt häufig eine Viertelstunde später als wir meinen, um unseren Glauben zu erproben.“

Noch scheint der Herr zu schlafen. Noch gebietet Er nicht der Zerstörung, der Korruption und der Unterdrückung Einhalt. Noch sieht er dem Verfall und der Zerrüttung zu. Aber der Glaube sagt uns und daran ist kein Zweifel: Einmal wird sich der Herr erheben. Einmal wird Er von dem Zustand aufstehen, den manche für einen Schlaf halten. Einmal wird Er sich recken und dem höllischen Sturm Einhalt gebieten. Wenn aber diese Stunde einst gekommen ist, dann wird eine große Stille sein – in der eigenen Seele, in der Kirche, in der Gesellschaft, in der Welt. Machen wir uns angesichts der Stürme unserer Tage gläubig und vertrauend die Worte der heutigen Offertoriums-Antiphon zu eigen: „Die Rechte des Herrn vollbringt mächtige Taten, die Rechte des Herrn erhört mich. Ich werde nicht sterben, sondern Leben haben und verkünden die Werke des Herrn“ (Ps. 117, 16 f.) Amen.

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