Sonntag Quinquagesima
„Und hätte ich die Liebe nicht, es nützte mir nichts.“ (1. Kor. 13, 3)
Geliebte Gottes!
Die Lesung des heutigen Sonntags Quinquagesima ist allgemein bekannt als das „Hohelied der Liebe“. Es ist eine der bekanntesten Abschnitte der Heiligen Schrift; inhaltlich reich und voll bedeutsamer Lehren.
Was ist Liebe?
Bevor wir uns dem Text des Hoheliedes der Liebe genauer zuwenden, müssen wir zuerst definieren, was mit „Liebe“ hier überhaupt gemeint ist. Das Wort Liebe ist ja heute bekanntlich eines der am meisten mißverstandenen Worte. „Liebe“ oder „Caritas“ bezeichnet im Sprachgebrauch der Heiligen Schrift zuallererst die „Liebe zu Gott“. – Heute wird die Liebe meist mit „lieb sein“ verwechselt, also mit einem netten, gefälligen und freundlichen Auftreten anderen gegenüber. Das ist eine äußerst mangelhafte Vorstellung von der Liebe. In Wirklichkeit heiß jemand lieben, einem anderen Gutes wollen, ihm Gutes wünschen und ihm nach Kräften Gutes tun, um auf diese Weise zu seiner Vervollkommnung beizutragen. Das ist die Definition der Liebe. – Nun stellt sich natürlich im Hinblick auf die Caritas des hl. Paulus gleich die Frage: Wie können wir Gott denn überhaupt noch Gutes wollen oder wünschen? Wie können wir Ihm Gutes tun? Auf welche Weise könnten wir zu Seiner Vervollkommnung beitragen? Gott ist doch der unendlich Vollkommene! Offensichtlich braucht Er von uns kein Gut und keine Hilfe, weil Er doch alles hat und alles kann! – Wir müssen also noch genauer hinschauen und erkennen, worin die Liebe in ihrem Wesenskern besteht. Die Liebe besteht wesentlich in der Vereinigung des Willens der Liebenden. Dasselbe wollen und dasselbe nicht wollen wie der Geliebte. Obwohl wir natürlich Gott strenggenommen nichts Gutes tun und nichts zu Seiner unendlichen Vollkommenheit beitragen können, so bezeigen wir Gott unsere Liebe, indem wir Seinen Willen erfüllen. Wenn wir Gottes Gebote einhalten so vereinigen wir unseren Willen mit dem Seinen. Wir sagen Ihm: „Ich will das, was Du willst, mein Gott! Ich finde es gut, was Du, mein Schöpfer und Herr angeordnet hast. Ich bin mit Dir eines Willens.“ Darin besteht die Caritas, die übernatürliche Gottesliebe.
Daran anknüpfend ruft uns der hl. Paulus an anderer Stelle zu: „Das ist der Wille Gottes, eure Heiligung“ (1. Thess. 4, 3). Indem wir unsere Seelen retten, indem wir sie heiligen und auch anderen dabei helfen, ihre Seele zu heiligen und zu retten, erfüllen wir den Willen Gottes. Wir tun gewissermaßen Gott damit etwas Gutes und beweisen unsere Liebe zu Ihm. Zur Gottesliebe gehört deshalb alles, was zur Heiligung und Rettung der Seele notwendig ist: die Verteidigung der Ehre Gottes; das Bekenntnis des wahren Glaubens; der Gnadenstand; kurz die Erfüllung aller Seiner Gebote.
Gott ist der erste und unmittelbare Gegenstand der Caritas. Der zweite Gegenstand der Caritas ist der Nächste. Wir sollen unsere Mitmenschen lieben – und das ist entscheidend – um Gottes Willen! Wir müssen den Nächsten lieben um Gottes willen! Man kann bekanntlich andere Menschen auf eine rein natürlich Weise lieben, etwa weil sie so sympathisch sind, weil man sie bewundert, aus Dankbarkeit, oder weil man Mitleid mit ihnen hat. Diese Form der rein natürlichen Nächstenliebe ist uns sehr naheliegend. Es ist aber nur eine rein menschliche Nächstenliebe, so wie sie etwa die Freimaurer predigen und wie sie heute die meisten Menschen verstehen. Sie ist überhaupt nicht übernatürlich. Das soll nicht heißen, daß die rein natürliche Nächstenliebe falsch wäre. Aber man muß doch sagen, daß sie im Hinblick auf die Heiligung und Rettung der Seelen keinen Wert hat. Die rein natürliche Nächstenliebe hat keinen übernatürlichen Wert und deshalb auch kein übernatürliches Verdienst bei Gott. – Die übernatürliche Nächstenliebe hingegen ist für die Ewigkeit verdienstlich. Damit die Nächstenliebe übernatürlich ist, muß sie aus der Gottesliebe hervorgehen. Wir müssen den Nächsten lieben um Gottes willen. Wir müssen alle Menschen lieben, weil Gott sie liebt. Und weil Gott alle Menschen liebt, deshalb erwartet Er von uns, daß auch wir sie lieben. Zur Veranschaulichung denke man an die Liebe des Schwiegersohnes zu seiner Schwiegermutter. Der Schwiegersohn liebt seine Schwiegermutter in der Regel nicht übermäßig. Aber er liebt seine Schwiegermutter um seiner Frau willen. Das Motiv seiner Liebe ist der Gedanke: „Es ist die Mutter meiner Frau. Meine Frau liebt sie. Deshalb will auch ich, daß es meiner Schwiegermutter gut geht. Deshalb helfe ich ihr, wenn sie meiner Hilfe bedarf.“ – Übertragen auf die Nächstenliebe bedeutet das, daß das Motiv für die übernatürliche Nächstenliebe der Gedanke an Gott sein muß. Wir wünschen dem Nächsten Gutes und tun ihm Gutes – und zwar in erster Linie übernatürlich Gutes –, weil Gott ihn liebt, egal wie schrecklich und unmöglich der Nächste uns gegenüber auch sein mag. Gott liebt ihn. Er hat ihn für den Himmel erschaffen. Christus hat die Seele des Nächsten durch Sein Leiden am Kreuz und durch die Vergießung Seines kostbaren Blutes erlöst. So teuer ist Gott die Seele des Nächsten, also muß sie auch mir teuer sein. Soweit die Erklärung, was mit der übernatürlichen Caritas gemeint ist. Erst jetzt können wir verstehen, was uns der hl. Paulus in dem „Hohelied der Liebe“ eigentlich genau sagen will.
„Es nützte mir nichts.“
In der Gemeinde von Korinth, an welche der hl. Paulus seinen Brief richtete, war damals die irrige Meinung vorherrschend, als wäre die „Gabe des Zungenredens“ die höchste und vorrangigste aller übernatürlichen Gnaden und Gaben. Dem widerspricht der hl. Paulus, indem er den Korinthern klar macht, daß die übernatürliche Caritas von viel größerer Bedeutung ist als das Zungenreden; daß das Zungenreden eines Tages vielleicht verschwinden werde (vgl. 1. Kor. 13, 8) – und genau so kam es später auch. Die Liebe hingegen ist etwas, das ewig währt.
Der Völkerapostel betont außerdem, daß die Liebe die erste und wichtigste aller Tugenden ist. Denn nichts von alledem, was wir Gutes denken, reden und tun, spielt letztlich für die Heiligung und Rettung unserer Seelen eine Rolle, wenn es nicht aus der übernatürlichen Liebe zu Gott hervorgeht. Wir können unseren ganzen Besitz zur Speisung der Armen austeilen (vgl. 1. Kor. 13, 3). Wir könnten sogar unseren Leib zum Verbrennen hingeben, also unser Leben opfern. Und wenn all unsere guten Werke, ein bergeversetzender Glaube, eine engelgleiche Rednergabe, ja selbst die heldenhaftesten Opfer ohne die Gottesliebe gewirkt wären, so hätten sie keinen Wert für unsere Erlösung. Deshalb der wiederkehrende Zusatz: „Und hätte ich die Liebe nicht, ... so nützte es mir nichts“ (1. Kor. 13, 3).
Die übernatürliche Liebe ist deshalb die wichtigste aller Tugenden, weil sie alle anderen Tugenden belebt. Klugheit, Gerechtigkeit, Starkmut, Mäßigkeit, Keuschheit, einfach alle Tugenden müssen von der übernatürlichen Liebe durchformt seien, damit sie Früchte für die Ewigkeit bringen können. Es verhält sich dabei genauso wie mit dem Saft in einem Baum. Der Saft, beispielsweise in einem Apfelbaum, zirkuliert überall; in den Wurzeln, im Stamm, in den Ästen und in den Zweigen. Nur die Teile des Baumes sind lebendig, die vom Saft durchströmt werden. Auch können nur an den Zweigen Äpfel wachsen, die vom Saft des Baumes belebt werden. Genauso können die sittlichen Tugenden für die Ewigkeit nur fruchtbar werden, wenn sie von dem Saft der übernatürlichen Liebe durchdrungen sind. Die übernatürliche Liebe ist die Seele all unserer verdienstlichen Werke. Sie ist wie die Seele, welche einen Leib lebendig macht. Die sittlichen Tugenden allein sind nur wie der Leib. Wenn ihnen die Caritas fehlt, sind sie zwar da, aber für die Ewigkeit wie tot, ein Leichnam, eine entseelte Hülle, ein Zombie. Die Liebe ist der Motor, der alles sittlich Gute auf Gott hin bewegt. Die äußeren tugendhaften Werke sind nur die äußeren Erscheinungsweisen der in ihnen wohnenden übernatürlichen Liebe. Wenn nun also, was Gott verhüten möge, unsere sittlichen Tugenden durch eine Todsünde von der übernatürlichen Liebe losgerissen werden, dann verdorren diese guten Werke wie der Baum, in dem kein Saft mehr fließt. Eine einzige Todsünde tötet die übernatürliche Liebe. Sobald das der Fall ist und noch nicht durch das Bußsakrament wieder geheilt wurde, nützen alle guten, tugendhaften Werke nichts mehr im Hinblick auf den ewigen Lohn. Gott vergilt unsere guten Taten dann nur mit helfenden Gnaden, die uns zur Buße antreiben. Aber sie werden nicht belohnt im Himmel. Wenn wir eine Todsünde begehen, dann behalten wir zwar weiterhin gewisse tugendhafte Eigenschaften. Etwa die Höflichkeit, die freundliche Bescheidenheit, die bereitwillige Hilfsbereitschaft, die Tapferkeit oder die Mäßigkeit. Unsere guten Gewohnheiten gehen mit einer einzigen Todsünde nicht plötzlich alle verloren, genauso wie umgekehrt ja auch unsere schlechten Gewohnheiten, unsere Laster, nicht auf einmal verschwinden, sobald wir ihnen einmal widerstanden haben. Gute Gewohnheiten verschwinden nicht einfach so. Weil ihnen aber die übernatürliche Liebe fehlt, haben die im Stande der Todsünde gewirkten guten Werke keinen verdienstlichen Wert mehr in der Ewigkeit.
Wir sollten aufgrund dieser Ermahnung also nicht naiv sein, indem wir unsere Hoffnung auf das Ewige Leben auf unsere natürlichen Tugenden, Vorzüge und auf unsere guten Gewohnheiten bauen, als ob es, um in den Himmel einzugehen, im großen und ganzen genügen würde, ein guter Mensch zu sein. Wir sollten nicht meinen, allein die Tatsache hilfsbereit und großzügig zu sein – etwa durch Spenden zu caritativen Zwecken oder durch andere tugendhafte Werke – wäre schon hinreichend, um ein Freund Gottes zu sein. Ohne übernatürliche Gottesliebe helfen derlei Dinge nichts. Ein Mitglied der Mafia kann der Kirche noch so viel Geld spenden oder eine noch so schöne Heiligenstatue stiften. Es nützt ihm nichts, wenn er fortfährt, ein Verbrecherleben zu führen. Man kann sich nicht in den Himmel einkaufen, indem man manchmal etwas Gutes für Gott tut. Solche Menschen fahren genauso in die Hölle, wenn sie im Tod nicht mit der wahren Gottesliebe erfüllt sind, welche sie zur Bekehrung und zur Buße antreibt.
Die Wirkweise der Caritas
Die übernatürliche Liebe ist die Königin aller Tugenden. Denn sie läßt den Menschen solche Werke tun, zu denen er von Natur aus keine Neigung in sich verspürt. Wir sind alle von Natur aus nicht dazu geneigt, unseren Feinden zu vergeben. Im Gegenteil! Wir sind auch ganz und gar nicht dazu geneigt, denjenigen Gutes zu tun, die uns Böses zufügt haben. Das Gebot der Feindesliebe, das uns Christus vorschreibt, ist für den erbsündlich geschwächten Menschen sehr, sehr schwer zu erfüllen. Es widerstreitet unserer Natur, die nach gerechter Vergeltung verlangt.
Wie wir sagten, stellt die Liebe eine Einheit mit Gott her. Die Vereinigung der Seele mit Gott hat ihren Bestand in der heiligmachenden Gnade. Die heiligmachende Gnade zielt darauf ab, die menschliche Seele durch die Liebe in Gott umzugestalten. Das meinte der hl. Augustinus, wenn er in seinen Weihnachtensansprachen den absonderlich klingenden Satz aussprach: „Gott wurde Mensch, damit der Mensch Gott werde.“ Er meinte damit natürlich nicht, daß der Mensch im eigentlichen Sinne zu Gott wird. Aber die heiligmachende Gnade arbeitet darauf hin, den Menschen umzuformen und ihn Gott ähnlich zu gestalten. – Ein Protestant, der im 19. Jahrhundert in das französische Dörfchen Ars kam, um sich den dortigen Pfarrer persönlich anzuschauen, wurde hinterher gefragt. „Und welchen Eindruck haben Sie von diesem Pfarrer gewonnen?“ Und der Protestant antwortete: „Ich habe Gott in einem Menschen gesehen.“ Das ist es, was die heiligmachende Gnade in jedem von uns zu verwirklichen versucht. Und die allererste Wirkung der heiligmachenden Gnade, womit sie unsere Seele umgestaltet, ist die übernatürliche Tugend der Liebe zu Gott. Die Gottesliebe arbeitet in einer Seele und formt sie um, soweit wir sie nicht durch die Anhänglichkeit geschaffene Dinge und Personen behindern. Wir sehen die Wirktätigkeit der Caritas ganz besonders deutlich im Leben der Heiligen. Etwa an den Heiligen, die, obwohl sie aus wohlhabenden, adligen Geschlechtern stammten, alles für die Armen und Notleidenden aufgeopfert haben. So beispielsweise der hl. Karl Borromäus. Er stammte aus einer der damals reichsten und mächtigsten Familien auf dem Gebiet des heutigen Italien. Er gab seinen ganzen Besitz den Armen und wurde Priester. Und er blieb stets sehr aufmerksam für die Bedürfnisse ins Elend geratener Menschen. Auch dann noch, als er später der Kardinal-Erzbischof von Mailand geworden war. Als Mailand von der Pest heimsucht wurde, floh der weltliche Statthalter. Der Erzbischof, der sich damals außerhalb der Stadt aufhielt, kehrte hingegen in die Stadt zurück und blieb dort unter Lebensgefahr. Er organisierte Maßnahmen zur Bekämpfung der Seuche und zog selbst durch die Straßen, um den Sterbenden persönlich die Letzte Ölung zu spenden. Er war bereit, sein Leben hinzuopfern für das Seelenheil der Sterbenden. Daran wurde die übernatürliche Liebe auf vollkommene Weise sichtbar. Die Gottesliebe gestaltet einen Menschen um in Christus. Christus hat am Kreuz Sein Leben hingegeben zu unserer Erlösung. Und die Gottesliebe arbeitet auch in unserer Seele darauf hin, daß wir dem göttlichen Erlöser in allem gleichförmig werden. Sie tut es unter der Voraussetzung, daß wir sie nicht durch unsere Anhänglichkeit an geschaffene Güter, durch die freiwillige läßliche Sünde behindern oder sie gar durch die Todsünde komplett zerstört. Eine einzige Todsünde löscht die Liebe gänzlich aus.
Eigenschaften der übernatürlichen Liebe
Der hl. Paulus fährt sodann fort, uns über die Eigenschaften der Liebe zu belehren. Er sagt: „Die Liebe beneidet nicht“ (1. Kor. 13, 4). D.h. der von der Gottesliebe erfüllte Mensch ist nicht auf die Güter, Begabungen und Erfolge eines anderen eifersüchtig. Hingegen freut er sich mit dem Nächsten und für ihn. Die übernatürliche Liebe gibt eine Freude am Glück des anderen, als wäre es das eigene Glück. Die brüderliche Liebe verbindet uns mit unserem Nächsten, so daß wir uns mit ihm freuen über das Gute, das ihm widerfährt; aber auch, daß wir uns mit ihm betrüben, über seine Verluste und Mißerfolge. Bis zum Erscheinen Christi auf Erden und bis zur Predigt der Apostel hat die Welt derlei Dinge nie zu hören bekommen. Die heidnische Welt war getrieben von Ehrgeiz, Stolz und Rachsucht. Die christliche Lehre von der Liebe war für die Heiden wie von einer anderen Welt. Und in der Tat, sie stammt von einer anderen Welt, nämlich aus der übernatürlichen Welt der Gnade.
Paulus sagt weiter: „Die Liebe handelt nicht prahlerisch“ (ebd.). Das bedeutet, sie stellt ihre Taten nicht zur Schau. „Sie bläht sich nicht auf“ (ebd.). Sie vergrößert ihre Verdienste nicht großsprecherisch und stellt sie nicht in ein besseres Licht. „Sie ist nicht ehrgeizig, nicht selbstsüchtig“ (1. Kor. 13, 5). Sie ist in allem demütig und bescheiden. Die Liebe strebt nicht nach Karriere, Ehre oder Macht. Sie strebt nach dem, was angemessen ist. Also nach dem, was in Übereinstimmung mit den Geboten Gottes steht und nach dem, was dem Gemeinwohl – nicht zuerst dem eigenen Nutzen – dienlich ist. Es ist damit keineswegs gesagt, es werde die Liebe verletzt, wenn jemand etwa eine höhere Position in der Firma, im Geschäft, in der Politik oder sonstwo anstrebt. Es handelt sich dabei um ein ehrenwertes Streben, insofern man für den höheren Posten tatsächlich qualifiziert ist. Wenn jemand die Fähigkeiten besitzt, hat es nichts mit Ehrgeiz zu tun, ein höheres Ziel anzustreben. Der Ehrgeiz im negativen Sinn besteht darin, daß jemand nach Ämtern, Führungspositionen oder Privilegien strebt, obwohl dieselben seine Fähigkeiten übersteigen oder über den eigenen Verdiensten liegen.
„Die Liebe läßt sich nicht erbittern“ (ebd.). D.h. sie beschwört nicht Wut und Zorn in der Seele herauf. Die übernatürliche Liebe überwindet den starken natürlichen Drang in uns zurückzuschlagen; jenen wehzutun, die uns verletzt haben. Sobald uns jemand verletzt, spüren wir ganz natürlich, wie die Wut in uns aufsteigt. Die übernatürliche Liebe überwindet dieses natürliche Verlangen nach bitterer und unerbittlicher Rache.
„Die Liebe denkt nichts Arges“ (ebd.). Sie geht zunächst immer davon aus, daß der andere in guter Absicht handelt. So kann sie schnell vergeben und vergessen. – Wohlgemerkt! Die übernatürliche Liebe macht uns geneigt dazu! Denn es gibt nun einmal bedauerlicherweise Menschen, die sehr wohl in böser Absicht handeln und uns absichtlich Schaden zufügen wollen. Die Lehre von der Caritas will uns keine naive Traumwelt vorspiegeln, in der es nichts Böses gäbe, vor dem man sich hüten müsse, daß man jedermann naiv vertrauen müsse und alle Fehler mit Unvermögen zu entschuldigen seien. Die wahre Liebe ist klug und sehr realistisch. Aber sie macht uns geneigt, zu vergeben, selbst wenn uns absichtlich Böses zugefügt worden ist. Die Liebe überwindet das Böse durch das Gute. Darin besteht ihre große Schönheit und ihre gewaltige Kraft. Darin tritt ihr göttlicher Ursprung hervor. Daran erkennt man vielleicht am meisten, daß sie eine göttliche Tugend ist. Sie verähnlicht uns mit Christus, der am Kreuz betete: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun“ (Lk. 23, 34).
„Die Liebe freut sich nicht am Unrecht, sondern hat Freude an der Wahrheit“ (1. Kor. 13, 6). Die Caritas empfindet keine Genugtuung darin, wenn einen Feind ein Unglück trifft, außer er würde dadurch aufhören zu sündigen. Bisweilen ist es gut, daß Sünder krank werden oder sonstwie Schaden erleiden. Insofern sie dadurch gezwungen werden mit dem Sündigen aufzuhören, in sich zu gehen und zu bereuen, freut sich die wahre Liebe darüber. Sie freut sich, weil sie für den Sünder das Beste will. Das Beste ist das ewige Heil. Das ewige Leben kann der Sünder jedoch nur erreichen, wenn er sich bekehrt und Buße tut. Wir dürfen nicht meinen, daß unser Gebet um die Rettung der Sünder etwa bezwecken würde, daß Gott es mit jenen Sündern im Gericht nicht so genau nehmen werde wie mit anderen; oder daß Er bei ihnen eine Ausnahme machen werde und jenen Sündern auch im Stande der Todsünde die Himmelspforten öffnen würde. Nein. Wenn wir um die Rettung der Sünder beten, dann beten wir um ihre Bekehrung. Der Sünder bekehrt sich in der Regel jedoch erst, wenn er erkannt hat, daß sich seine Hoffnungen auf die Genüsse und Lüste dieser Welt als nicht tragfähig erwiesen haben. Das ist sehr schmerzhaft für den Sünder. Aber es ist ein heilsamer Schmerz. Und insofern dieser Schmerz zum Besten des Sünders gereicht, nämlich zu seiner Bekehrung, oder wenigstens dazu, daß er aufhört, weitere Schuld auf sich zu häufen, freut sich die wahre Liebe darüber. – Es ist also besonders wichtig zu begreifen: Jemanden lieben heißt nicht immer einfach nur lieb und nett zu sein. Lieben heißt das Beste für den anderen zu wollen – das übernatürlich Beste – und ihm auch dazu zu verhelfen. Das ist von großer Bedeutung auch für die Eltern. Die wahre Liebe in der Erziehung ihrer Kindern äußert sich darin, daß sie ihre Kinder befähigen, Gott zu lieben, Seinen Willen zu tun, den Versuchungen zu entsagen. Das verlangt, daß sie ihren Kindern eine gewisse Disziplin abverlangen und eventuelles Fehlverhalten in angemessener Weise kritisieren und sanktionieren.
„Die Liebe trägt alles“ (1. Kor. 13, 7). Das bedeutet, sie ist dazu bereit Gott oder dem Nächsten gerne einen Dienst zu erweisen. Insbesondere den Dienst der Geduld mit seinen Schwächen. „Einer trage des andere Last, so werdet ihr das Gesetz Christi [das Gesetz der Liebe] erfüllen“ (Gal. 6, 2). Dazu muß die Liebe tapfer und stark sein. Denn die Fehler und Schwächen des Nächsten zu ertragen, verlangt mehr Stärke als wütend dagegen vorzugehen. Die Caritas befähigt uns dazu, die Fehler anderer zu ertragen ohne darüber zu klagen und ohne sie anderen Personen gegenüber in Gesprächen zu offenbaren. Die Caritas ist sehr diskret was die Fehler anderer Menschen angeht.
„Die Liebe glaubt alles“ (ebd.). Das will heißen, daß sie zunächst stets davon ausgeht, daß der Nächste die Wahrheit sagt. Erst dann läßt sie sich zur gegenteiligen Annahme bewegen, wenn es dafür nachvollziehbare Gründe gibt und sich diese Gründe nach erfolgter Nachforschung erhärten. Die Liebe ist also nicht mißtrauisch. – „Sie hofft alles“ (ebd.). D.h. sie hofft vom und für den Nächsten das Beste, auch wenn sie ihn bisweilen straucheln sieht, gibt nie die Hoffnung auf seine Bekehrung auf und hilft ihm aufzustehen. – „Sie duldet alles“ (ebd.). Die Liebe macht den Rücken breit, nimmt alle Ungerechtigkeit, alles Leid und jeden Schmerz geduldig an, um den Sünder auf den Weg zu Gott zurückzuführen.
„Die größte unter ihnen ist die Liebe.“
Nachdem der hl. Paulus die übernatürliche Liebe beschrieben hat, begründet er ihren Vorrang unter den drei göttlichen Tugenden – Glaube, Hoffnung und Liebe. „Die größte unter ihnen ist die Liebe“ (1. Kor. 13, 13). Der Glaube ist die Tugend, wodurch wir für wahr halten, was Gott gesagt hat. Wir nehmen die Offenbarung Gottes an. Wir bejahen die Glaubenslehre, so wie sie uns von der katholischen Kirche vorgelegt und erklärt wird. Die Tugend des Glaubens unterscheidet sich wesentlich von der protestantischen Vorstellung vom Glauben. Für den Protestanten besteht der Glaube in einem Vertrauen auf Gott. Der Protestant vertraut, daß ihn Gott retten wird, weil ihn der Protestant als seinen Erlöser anerkannt hat. Für die Protestanten besteht der Glaube in einem Akt des Vertrauens. Für den Katholiken besteht der Glaube in einem Akt der Zustimmung des Verstandes zu den Wahrheiten, die Gott geoffenbart hat und die durch die katholische Kirche gelehrt werden. Das ist der übernatürliche Glaube. Er ist eine göttliche Tugend, weil er sich auf die Wahrhaftigkeit Gottes ausrichtet. Er hält alles für wahr, was Gott sagt und weil es Gott gesagt hat.
Die Tugend der übernatürliche Hoffnung läßt uns zuversichtlich darauf vertrauen, daß Gott seine gegebenen Versprechen einhalten wird. Wenn wir die Gebote halten, wird uns Gott das ewige Leben schenken. Wenn wir in der heiligmachenden Gnade sterben, wird Gott uns in den Himmel aufnehmen. Darauf richtet sich unsere Hoffnung. Sie liefert uns den Antrieb, das Gute zu tun und im Guten auszuharren, koste es, was es wolle. Auch die Hoffnung ist eine göttliche Tugend, weil sie sich auf die Treue Gottes ausrichtet. Sie erwartet, daß Gott alles einhält, was Er versprochen hat.
Die Caritas ist schließlich die Tugend, wodurch wir Gott lieben und unseren Nächsten um Gottes willen, so wie wir es ausführlich erklärt haben. – Das sind die Definitionen der drei göttlichen Tugenden. Sie sind das Fundament des gesamten geistlichen Lebens. Unter ihnen ragt jedoch die Liebe auf besondere Weise hervor. Denn Glaube und Hoffnung werden aufhören, die Liebe hingegen bleibt ewig. „Die Liebe hört nie auf“ (1. Kor. 13, 8). Wenn wir einst in den Himmel kommen, wird der Glaube nicht mehr notwendig sein, denn dann schauen wir Gott von Angesicht zu Angesicht (vgl. 1 Kor. 13, 12). Deshalb wird der Glaube überflüssig sein. – Und natürlich wird auch die Hoffnung aufhören. Wenn wir Gott einst im Himmel besitzen, dann brauchen wir auf die Gemeinschaft mit Gott nicht mehr zu hoffen. Man kann nicht mehr auf etwas hoffen, was man bereits erhalten hat. Die Hoffnung wird im Himmel enden, weil sie erfüllt sein wird. Allein die Liebe wird ewig bleiben. Denn im Himmel werden wir die gesamte Ewigkeit hindurch im Wesentlichen nichts anderes tun als Gott zu lieben.
Der Ökumenismus tötet die übernatürliche Liebe
Es ist nach dem hl. Papst Pius X. vielleicht der ungeheuerlichste Irrtum der modernen Zeit, daß die Menschen meinen, es könne eine wahre Liebe geben ohne den wahren Glauben; als könne man Gott lieben, ohne den katholischen Glauben zu haben. Gerade in dieser Wahnvorstellung besteht die ungeheuerliche Transformation der katholischen Religion seit dem 2. Vatikanum. Die Absicht der Modernisten bestand und besteht darin, die katholische Religion in einen dogmenfreien Humanismus umzuformen. Die Glaubenslehre ist in der Konzilskirche sekundär. Primäres Ziel ist es, die Menschen in einer rein innerweltlichen, humanen Nächstenliebe und Solidarität zusammenzuführen und zu einen, egal, was sie glauben. Und genau das ist es, was wir seit 60 Jahren immer deutlicher und immer unverhohlener aus Rom zu hören bekommen. Der Ökumenismus, welchen uns das sog. 2. Vatikanum beschert hat, besagt, daß alle Religionen auf der Suche nach der Wahrheit seien; daß keine Religion sich über die andere erheben dürfe, indem sie für sich in Anspruch nimmt, die Wahrheit zu besitzen; die Wahrheit, zu der sich alle anderen Menschen bekehren müßten. Darin besteht jedoch gerade der Anspruch der katholischen Religion. Deswegen findet sich in den Predigten der Novus-Ordo-Kirche kaum katholische Doktrin, sondern eine weichgespülte, abgedroschene Menschenfreundlichkeit nach dem Motto: „Seid nett zueinander, dann wird alles gut.“ Es sind leere Phrasen, die vielleicht das Gefühl ansprechen, aber nicht den Verstand, weil sie dessen, was die Vernunft anspricht, entbehren – der Wahrheit. Es gibt keine Liebe ohne die Wahrheit! Es ist auch keine Liebe, die Wahrheit zu verschweigen. Im Gegenteil! Denn die Wahrheit des katholischen Glaubens ist die Grundvoraussetzung zur Erlangung dessen, was das Beste für jeden Menschen ist. Und das dem anderen vorzuenthalten, ihn in seinem Irrtum freundlich und nett zu beschwichtigen, ist alles andere, bloß keine Liebe. Die ökumenistische Liebes-Botschaft der Konzilskirche hat also nichts mit der katholischen Religion zu tun. Die katholische Religion ist allein die Religion der Liebe, weil sie die Religion der Wahrheit ist. In der Konzilsideologie ist keine Idee mehr von übernatürlicher Liebe enthalten. Deshalb kann sie die Menschen nicht zur übernatürlichen Liebe führen, aber damit auch nicht in den Himmel.
Ein Frühling für die Gottesliebe
Unsere Fastenzeit muß deshalb um so mehr ein wahrer Frühling, d. h. ein Wachstumsschub für unsere übernatürliche Gottesliebe sein. Die Übung des Fastens ist kein Selbstzweck. Wir fasten in erster Linie, um unsere Gottesliebe zu vermehren; um Hindernisse, welche dem Wachstum der Gottesliebe in unserer Seele entgegenstehen, zu entfernen oder wenigstens zu unterdrücken. Die freiwillige läßliche Sünde behindert die Liebe in ihrer Ausübung. Sie ist wie ein lähmender Kälteschock, der alle Tätigkeiten der Liebe verringert und verlangsamt. Die läßliche Sünde zerstört die übernatürliche Liebe nicht. Die Liebe bleibt in der Seele. Aber die Liebe wird durch die läßliche Sünde blockiert. Die Wirkkraft der Liebe wird verringert. – Die Fastenzeit ist uns deshalb geschenkt, nicht nur um die Todsünde auszuschalten, sondern auch um die läßlichen Sünden zu bekämpfen, um mit schlechten Gewohnheiten zu brechen, damit sich die Gottesliebe in unserer Seele weiter entfalten kann. Das ist der hauptsächliche Zweck der Bußübungen. Und selbst wenn der eine oder andere unter uns nicht mehr durch die Kirche zum Fasten verpflichtet ist, so sollte trotzdem jeder eine gewisse Abtötung auf sich nehmen, um sich von den zur Gewohnheit gewordenen läßlichen Sünden losreißen zu können.
Wenn also jemand sein Gebetsleben vernachlässigt hat, so bemühe er sich aus Liebe zu Gott um Gewissenhaftigkeit im Gebet. Wenn einer unkeusch war, so sei er jetzt keusch. Wenn einer ungeduldig war, so über er sich fortan in Geduld und ertrage die Fehler des anderen. Wenn jemand von Rachsucht getrieben ist, so verzeihe er das erlittene Unrecht, um Gottes willen. Wer getratscht hat, der lerne zu schweigen, aus Liebe zu Gott. Wer herzlos war gegen das Leid des Nächsten, der sei jetzt mitfühlend. Wer überheblich war, der sei fortan demütig. Wer Zwietracht gesät hat, bemühe sich die Eintracht wiederherzustellen. Wer gelogen hat, der rede nur noch wahrhaftig. Alles aus Liebe zu Gott! Und wer Gott beleidigt hat durch Selbstsucht und Eigenliebe, der ehre Ihn nun durch die Caritas. Amen.