Zum Karfreitag
Aufblick zum Gekreuzigten
Geliebte Gottes!
„Daselbst schlugen sie Ihn ans Kreuz“ (Joh. 19, 18). Das Kreuz ist aufgerichtet. In der Liturgie wird es heute enthüllt. Jeder kann es sehen und den, der daran hängt. Jesus Christus hängt daran. Nägel durchbohren Ihm Hände und Füße. Sein zerfleischter Leib ist in den Purpur seines Blutes gehüllt. Die Dornenkrone bohrt sich tief in das entstellte Haupt des Gekreuzigten. Niemand vermag zu ermessen, welche Qualen Ihn in den Stunden seines Todeskampfes durchfuhren. Alle schauten damals auf. Alle blickten auf zum Gekreuzigten. Aller Augen waren auf Ihn geheftet. – Seit dem ersten Karfreitag ist das Kreuz über der Schädelstätte der Menschheitsgeschichte aufgerichtet. Die Arme des Kreuzes überschatten alle Zeiten, Völker und Nationen. Alljährlich wird es durch die Kirche enthüllt. Dabei ruft sie dreimal aus: „Ecce lignum crucis“ – „Seht, das Holz des Kreuzes, an dem das Heil der Welt gehangen.“ Nicht nur damals, vor 2000 Jahren, sondern durch alle Zeitalter der Geschichte hindurch erheben die Menschen ihren Blick zum Gekreuzigten. Durch die Art ihres Aufblicks lassen sich unter ihnen drei Gruppen von Kreuzesbetrachtern unterscheiden. Die meisten schauen zum Gekreuzigten auf in Gleichgültigkeit. Viele blicken auf Ihn, wenn sie selbst von Schmerzen gequält werden. Einige schließlich erheben ihre Augen in Liebe. Zu welcher Gruppe zählen wir? Wie blicken wir auf den Gekreuzigten?
Der Blick der Gleichgültigen
Das Evangelium berichtet uns von vielen Schaulustigen, die den Weg säumten, als unser Herr nach Golgotha zur Kreuzigung geführt wurde. Sie schlossen sich dem Liquidierungskommando an und standen gaffend unter dem Kreuz. Von den Henkersknechten heißt es: „Hierauf setzten sie sich nieder und beobachteten ihn“ (Mt. 27, 36). Nach getaner Arbeit verteilten sie Seine Kleider in vier Teile. Offensichtlich waren es vier Henkersknechte. Lediglich den wertvollen Leibrock des Herrn, der nahtlos in einem Stück durchgewebt war, zerteilten sie nicht. Sie würfelten darum, wem er gehören sollte. Während der Erlöser leidet, spielen sie ihr Spiel. – Nicht anders machen es viele Menschen heute. Sie sind der Religion des Kreuzes gegenüber völlig gleichgültig. Mit ihren Sünden jagen sie dem Gottessohn gleich Henkersknechten Nägel in die Glieder. Sie kreuzigen Ihn auf neue. Dann setzen sie sich nieder, machen es sich bequem in ihrem gottlosen Leben und schauen. – Worauf schauten die Henker damals? Zuerst freilich auf Jesus. Doch nicht, weil Er sie in irgend einer Weise interessiert hätte. Der Anblick eines Verurteilten in Todesqualen war ihnen tagtäglich vertraut. Sie waren abgestumpft. Es bedeutete ihnen nichts. Deshalb wandten sie sich den materiellen Dingen zu – Seinen Hinterlassenschaften – dem, was am Ende für sie heraussprang. – Dieselbe religiöse Gleichgültigkeit findet sich zu allen Zeiten. Solche Menschen haben vielleicht etwas von der katholischen Religion gehört. Doch für sie ist eine Religion wie die andere. Ihr Geist ist abgestumpft und von derlei Dingen gelangweilt. Deshalb wenden sie sich den materiellen Gütern dieser Welt zu. Diese Güter sind in ihren Augen viel interessanter als geistige. Das Geld und all das, was man dafür erwerben kann. Daran gilt es sich seinen Anteil sichern. „Laßt uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot“ (Is. 22, 13). Der Lebensgenuß hat oberste Priorität. Das ist ihre Religion. „Ihr Gott ist der Bauch“ (Phil. 3, 19). – Wie viele Menschen leben heute in totaler religiöser Indifferenz. Wie viele jagen Geschöpfen hinterher, ohne auch nur einen Gedanken an den Schöpfer zu verschwenden. Sie sitzen. Sie kleben am Erdboden. Gebannt wetteifern sie um Dinge, die am Ende zu Staub und Dreck zerfallen. Sie würfeln. Das Leben ist nur ein Spiel, „just fun“, nur ein sinnloser Zeitvertreib. Und unbeachtet versickert neben ihnen das Blut Christi, der wahre Lösepreis ihrer Seele; der Kaufpreis wirklicher, nimmer endender Glückseligkeit.
Noch andere standen damals unter dem Kreuz. Sicherlich auch etliche Seiner früheren Jünger. Jene also, die anfänglich an Ihn glaubten, Ihm nachgefolgt waren, sich aber später aufgrund Seiner Predigt von Ihm wieder distanziert hatten. „Diese Rede ist hart, wer kann sie ertragen?“ (Joh. 6, 60), beschwerten sie sich. „Von da an zogen sich viele seiner Jünger zurück und wandelten nicht mehr mit Ihm“ (Joh. 6, 66). Sie hatten vielleicht noch finster im Gedächtnis, daß Er gesagt hatte, Er werde nach drei Tagen wieder von den Toten auferstehen. Jetzt sind sie gekommen, um zu schauen, wie die Sache wohl ausgeht. – Es ist der gleichgültige Blick jener, die einst den katholischen Glauben hatten, dann aber aufhören, ihn zu praktizieren. Die nun aus sicherer Entfernung schauen und fachsimpeln, worauf es mit der Kirche, dem mystischen Leib Christi, hinausläuft. Was zu tun sei. Worauf man sich einstellen müsse. Die Distanz erlaubt es solchen Betrachtern, stets auf der Gewinnerseite zu stehen. Stirbt er, so kann man sagen, man habe ja immer schon gewußt, daß das alles nur Humbug ist. Aber wer weiß? Vielleicht geht es ja doch irgendwie weiter. Auch das will kommentiert werden, denn man gehörte ja einst zu seinen Anhängern und kennt sich genau aus. – Wie viele Menschen heute hatten einst den katholischen Glauben und haben aufgehört, ihn zu praktizieren? Wie viele nennen sich „gläubig“, wollen aber von der Kirche nichts wissen? Wie viele Katholiken leben in wilder Ehe? Wie viele von ihnen leben in der Todsünde, ohne sich darum zu kümmern? Wie viele Ahnungslose führen über kirchliche Dinge das große Wort? – Wenn sie doch die Gnade Gottes in ihrem Innern nie zur Ruhe kommen ließe! Wenn sie doch, solange ihnen noch Lebenszeit gegeben ist, den Weg zu Buße und Lossprechung fänden! Wenn sie sich aus ihrer selbstgefälligen Gleichgültigkeit erheben könnten, um vor dem Kreuz niederzufallen und anzubeten! Der Gekreuzigte würde sie nicht abweisen.
Gott sind die Gleichgültigen nicht egal! Damals wie heute läßt Er ihnen Seine Barmherzigkeit zuteil werden. Als mit dem Tod Jesu die Naturereignisse der Sonnenfinsternis und des Erdbebens eintraten, wurden die Gleichgültigen erschüttert. Von einigen heißt es daraufhin sogar: „All die Volksscharen aber, die zu diesem Schauspiel zusammengeströmt waren und die Vorgänge sahen, schlugen an die Brust und kehrten um“ (Lk. 23, 48). Gebe Gott, daß auch die Gleichgültigen unserer Zeit erschüttert würden und umkehren, solange noch Zeit ist! Daß ihre in teilnahmsloser Wurstigkeit verhärteten Herzen bersten, wie damals die Felsenfundamente des Kalvarienhügels. Angesichts des sich vor ihren Augen spaltenden Felsens ist es ja nicht vorstellbar, daß die Henkersknechte damals sitzen geblieben sind und fröhlich weiter gespielt haben. Nein, sie sind aufgesprungen. Sie wurden aufgescheucht. Sie wurden aus ihrer Scheinwelt wieder in die Wirklichkeit zurückgeholt. Das ist Gottes Gnade und Barmherzigkeit! Vielleicht sind die wirtschaftlichen und sozialen Erschütterungen, die als Folgen der Corona-Krise prognostiziert werden, solche Gelegenheiten. Wer weiß? Gelegenheiten, damit die Gleichgültigen bereuen, Gott, den Geber alles Guten, vergessen zu haben, damit sie sich an die Brust klopfen und anfangen Buße tun, um sobald als möglich die Lossprechung im Bußsakrament erlangen. Dann wäre das Blut Christi auch für sie nicht vergebens geflossen.
Der Blick der Leidenden
Die zweite Gruppe derer, die damals ihren Blick auf den gekreuzigten Gottessohn richteten, waren jene, die selbst am Kreuz hingen. Diejenigen, welche ebenfalls von Schmerzen, ja von großen Schmerzen gequält wurden. Schmerz, Traurigkeit, Depression, Not, Elend, all das quält die Seele des Menschen. Die Leidenden aller Zeitalter finden ihre Stellvertreter in den beiden Schächern, die zur Rechten und zur Linken des Heilands gekreuzigt worden waren. Das Evangelium nennt sie „Räuber, Verbrecher, Mörder“. Sie waren mehr als das. Sie waren Rebellen! Jerusalem befand sich damals unter der Herrschaft des Imperium Romanum. Einige Juden, man nannte sie „Zeloten“ (d.h. Eiferer), waren Freiheitskämpfer. Sie führten einen blutigen Guerillakrieg gegen die römische Besatzungsmacht, um ihren Traum von Freiheit und Unabhängigkeit zu realisieren. Pilatus wurde dieser beiden Spießgesellen habhaft und statuierte ein Exempel, indem er sie kreuzigen ließ.
Beide litten unsägliche Schmerzen. Die Kreuzigung war eine derart grausame Hinrichtungsart, daß Cicero gesagt haben soll, er hoffe, kein Römer müsse jemals einer solchen beiwohnen. Kein römischer Bürger, hätte er auch die schlimmsten Verbrechen verübt, durfte gekreuzigt werden. Der hl. Petrus wurde gekreuzigt. Der hl. Paulus nicht. Dieser besaß das Bürgerrecht Roms. Weil es verboten war, einen römischen Bürger zu kreuzigen, wurde er enthauptet. – Beide Schächer litten also unvorstellbare Schmerzen. Beide litten die gleichen Schmerzen. Beide fluchten zunächst und lästerten Gott. Anfänglich bestand kein Unterschied zwischen ihnen. Der zur Linken Christi gekreuzigte Rebell repräsentiert jene, die in ihren Schmerzen zum Himmel schreien: „Nimm mich vom Kreuz herab. Laß die Schmerzen aufhören!“ Er wandte sein Haupt, soweit er es noch konnte, unserem Herrn zu uns rief: „Bist du nicht der Christus? Dann hilf dir selbst und hilf UNS!“ Er dachte, daß Christus lediglich ein Heiler sei, ein Wunderdoktor, der dafür sorge, daß es allen gut geht. Viele unserer Zeitgenossen heute glauben, daß darin der Wesenskern des Christentums bestünde: Heilung, Humanität. Freilich, Christus hat viele Kranke gesund gemacht. Er nahm das Leid vieler hinfort. Aber nicht immer und nicht bei jedem. Seinen Freund Lazarus heilte er nicht. Er ließ es zu, daß er starb. Er befreite Johannes den Täufer nicht aus dem Gefängnis. – Gott heilt hier und dort. Doch handelt es sich dabei um keine endgültigen Heilungen. Die Geheilten wurden später wieder krank. Die von Christus vom Tode Auferweckten mußten später erneut sterben. Vollkommene und immerwährende Gesundheit wird es erst geben, wenn die ganze Schöpfung einst, nach der Wiederkunft Christi, erneuert werden wird. Bis dahin heilt der Gottessohn. Jedoch war die Abschaffung des Leidens nicht der eigentliche Grund für Sein Kommen in unsere Welt. Danach, und nur danach, verlangte der Schächer zur Linken. Er wollte nur, daß die Schmerzen aufhören. Nach Heilung stand ihm der Sinn, nicht nach Besserung. Wenn er heute leben würde, so hätte er für jede sich nur anbietende Therapie ein Vermögen ausgegeben. Doch niemals dächte er an seine Sünden. Jeder Sünder ist ein Rebell, ein Guerillakrieger. Das Wesen der Sünde besteht in ihrer Auflehnung gegen die Oberherrschaft Gottes. Doch der Gedanke, ein Rebell zu sein, kommt dem Sünder nie zu Bewußtsein. Würde Gott einen vom Schmerz gezeichneten Rebellen wunschgemäß vom Kreuz herab nehmen, so würde dieser sein gewohntes Leben in der Gesetzlosigkeit der Sünde fortsetzen wie zuvor. Wenige von uns denken an die Sünde – nicht einmal, wenn wir krank sind! Denken wir an die Krankenhäuser. Wieviel Schmerzen werden dort vergeblich gelitten? Wieviel Leiden wird dort, statt als Sühne für die begangenen Sünden angenommen zu werden, sinnlos verschwendet? So viele Schmerzen werden nicht aufgeopfert, weil nur so wenige Gott lieben. Die Liebe nimmt den Schmerz nicht weg. Aber die Liebe lindert ihn, weil sie ihm einen Sinn gibt. Wer nicht liebt, kann den Schmerz nur verfluchen. Genau das hat der linke Schächer getan.
Auf der anderen Seite hing ebenfalls ein Rebell. Auch er hat anfänglich geflucht. Doch durch die Gnade Gottes wurde in seinem Herzen etwas umgewandelt. Was die genaue Ursache hierfür war, können wir nicht genau sagen. War es das rührende Bild der Mutter zu Füßen des Kreuzes? Oder waren es die Wort Christi – „Vater, vergib ihnen, dann sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk. 23, 34) – womit der Herr vielleicht das Thema „Sünde“ und „Vergebung“ in den Geist des rechten Schächers rief? Was auch immer es gewesen sein mag, es steht fest, daß sein Herz entzündet wurde. Und er rief zu seinem Genossen: „Fürchtest auch du Gott nicht. Wir leiden mit Recht. Denn wir empfangen nur die gebührende Strafe für unsere Übeltaten. Dieser aber hat nichts Unrechtes getan“ (Lk. 23, 41). Das war ein reuiges Sündenbekenntnis, gepaart mit der bereitwilligen Annahme der Buße. In diesem Augenblick wurde der Glaube und die Liebe in seiner Seele geboren. Gläubig und hoffnungsvoll wendet sich an unseren Herrn: „Jesus, gedenke meiner, wenn Du in Dein Reich kommst!“ (Lk. 23, 42). Sein Blick auf Jesus hat sich gewandelt. Der übernatürliche Glaube läßt ihn in dem dornigen Geflecht das königliche Diadem Seiner göttlichen Herrlichkeit erkennen; in den Nägeln das Zepter Seiner Allmacht; im Kreuz den Thron Seiner alles überragenden Majestät. Er sprach aus, was er erkannte. Er legte ein Glaubensbekenntnis ab. Und der Herr antwortete: „Wahrlich, ich sage dir, heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein“ (Lk. 23, 43). So wurde aus dem Rebellen einer der ersten Gefährten Christi, der mit Ihm nach seiner Auferstehung in das Himmelreich einziehen durfte.
Der gute Schächer hat der Nachwelt das großartige Beispiel hinterlassen, was der Schmerz Gutes bewirken kann. Wir glauben, daß soviel Leid und Schmerz unverdienterweise über uns komme. Aber schauen wir doch einmal ganz ehrlich in unser Herz hinein. Erinnern wir uns an all die Schmerzen – physische, seelische, andere Entbehrungen – die wir in unserem Leben bisher zu leiden hatten. Erwägen wir, in welchem Verhältnis sie zu unserer Sündenschuld stehen. Müßten wir da nicht eingestehen, daß wir nie die volle Härte der Strafe empfangen haben, die wir eigentlich für unsere Fehltritte verdient hätten? Ja, Gott war gnädig mit jedem von uns. Die Bürde, die wir zu tragen hatten, die wir vielleicht derzeit tragen, oder die wir noch zu tragen haben werden, ist vergleichsweise leicht, gemessen an der Größe unserer Sünden. Wenn wir ehrlich auf unsere Seele blicken, müssen wir eigentlich zu diesem Schluß kommen.
Gott spricht auf unterschiedliche Weise zu jedem von uns Menschen. Gott flüstert zu uns in unseren Freuden. Er spricht zu uns in unserem Gewissen. Und Er herrscht uns an in unserm Schmerz. Ja, das Leid ist das Megaphon Gottes! Der Schmerz ist der Lautsprecher des Himmels! Denn der Schmerz blendet die vielen irdischen Ablenkungen, in denen unser Leben dahinplätschert, aus. Er drängt die geschöpflichen Freuden in den Hintergrund. Der Schmerz konfrontiert uns mit uns selbst. Damit, was wir sind. Er verweist uns über die Ohnmacht unseres kleinen Egos hinaus – auf Gott. Das ist die Barmherzigkeit Gottes, die sich im Schmerz verbirgt. Könnten doch alle Menschen dieses Geheimnis verstehen. Aber leider ist es nicht so, weil vielen der wahre Glaube fehlt. Nur im Glauben erschließt sich der Sinn des Schmerzes. Viele unserer ungläubigen Zeitgenossen ballen stattdessen die Faust und protestieren: „Wie könnte Gott, wenn er gut wäre, so viel Elend und Leiden, so entsetzliche Schmerzen zulassen? Gott ist grausam! Gott ist böse! Es kann aber keinen bösen Gott geben. Also gibt es gar keinen Gott.“ Ihr ungläubiges Toben findet seinen Widerhall in dem Schrei des linken Schächers: „Du bist doch Christus? Rette uns! Was wäre das für ein Gott, der nicht einmal seinen eingeborenen Sohn retten wollte.“ Nein, diese Schlußfolgerung ist durch und durch falsch! – Um das zu verstehen, stellen wir uns einen kleinen Jungen vor. Er besuchte gerne seine Großmutter, denn von dieser bekam er immer viele Süßigkeiten. Wie es nun eben kommen mußte, bekam er davon Zahnschmerzen und hatte Angst, als ihn sein Vater zum Zahnarzt brachte. Der Zahnarzt sagte: „Junger Mann, du hast Karies. Ein Zahn hat sich sogar ganz ernsthaft entzündet. Wenn wir nichts tun, wird sich die Entzündung auf deinen ganzen Körper ausbreiten. Der Zahn muß unbedingt gezogen werden. Das wird weh tun.“ Der Zahnarzt schickte sich an, den Zahn zu ziehen. Der Junge blickte vom Behandlungsstuhl hilfesuchend zu seinem Vater auf und erwartete, daß dieser doch nun eingreifen müsse, um das zu verhindern. Doch der Vater ergriff lediglich die Hand seines Sohnes. Der Junge dachte sich: „Warum verhindert er das nicht? Warum hält er den Zahnarzt nicht davon ab, mir weh zu tun? Warum läßt er es zu, daß ich leide?“ – Antwort: Weil der Vater das Beste für sein Kind will! Er will die Entzündung eindämmen. Das Beste ist oft das geringere Übel. Genauso ist unser himmlischer Vater. Er trug Seinem Sohn auf, Er solle alle Sünden, alle Entzündungen und zersetzenden Gifte der ganzen Welt in sich aufnehmen. Doch der Vater war mit Ihm. Der Vater hielt nicht nur die Hand, sondern war durch die göttliche Wesenheit zutiefst mit dem Sohn vereint. Christus sollte leiden aufgrund des Guten, das daraus für uns in der Erlösung und in der Auferstehung erwachsen würde. Darin bestand Seine wesentliche Berufung Unseres Herrn Jesus Christus – Schmerzen zu leiden. Darin bestand die Erfüllung seines Lebens, „Seine Stunde“ (Joh. 2, 4), wie Er es nannte. Dazu war Er in die Welt gekommen, um die ganze Sündenlast an unserer Statt auf sich zu nehmen und für uns auszuleiden. Sein Name lautet „Jesus“, übersetzt „Erlöser“. Er erlöst uns von unseren Sünden. Er nahm die Schuld von jedem von uns auf sich. Die Schuld jedes Menschen! „Wahrlich, unsere Krankheiten hat er selbst getragen und unsere Leiden auf sich genommen“ (Is. 53, 4). Wie ein großer Schwamm hat Er jedes Siechtum, jede Wunde, jedes zerschmetterte Glied, jede Todesangst, einfach alles Leid der ganzen Menschheitsgeschichte und jede einzelne Ursache davon – nämlich die Schuld jeder einzelnen Sünde – in sich aufgenommen, um dafür an Seinem Kreuz Sühne zu leisten. Keiner kann es wagen zu behaupten, Gott wisse nicht, was es heißt zu leiden, oder Gott sei grausam. Er selbst hat gelitten – für uns – aus Liebe!
Die Schmerzen offenbaren uns nicht die Grausamkeit Gottes, sondern die Grausamkeit der Sünde! Die Sünde zielt darauf ab, wenn es möglich wäre – Gott zu töten. Gott ist unsterblich. Doch hat es Gottes Vorsehung durch die Menschwerdung Seines Sohnes möglich gemacht uns zu zeigen, welche grausame Macht in der Sünde steckt. Und gleichzeitig welch erlösende, befreiende Macht im Schmerz verborgen ist, wenn er in Liebe angenommen und aufgeopfert wird. Das wird vor allem an der dritten Gruppe derer, die zum Gekreuzigten aufblickten, deutlich.
Der Blick der Liebenden
Unter dem Kreuz stand die allerseligste Jungfrau Maria, die Gottesmutter. Ein klein wenig von ihr entfernt befand sich Maria Magdalena. Beide blickten in Liebe auf zum Gekreuzigten. Beide sind vom Mitleid ganz ergriffen. Sie leiden mit dem Herrn. Beide stehen für eine unterschiedliche Form der Liebe.
Maria Magdalena finden wir bei keiner Stelle des Evangeliums, die von ihr berichtet, stehend. Sie ist stets tief gebeugt. Immer findet sie sich zu Füßen des Herrn. Von der Gottesmutter heißt es hingegen ausdrücklich, daß sie unter dem Kreuz stand. „Unter dem Kreuze Jesu stand seine Mutter“ (Joh. 19, 25). Die Unbefleckte stand. Damit repräsentiert sie die vollkommene Liebe. Die Liebe, die Gott ähnlich ist. Die Ihm näher kommt, weil sie fähig ist, sich selbst ganz zu verschenken, worin Gottes Wesen besteht. Diese Liebe ist vollkommen, weil sie selbstlos ist. Sie will nichts für sich. Sie gibt. Sie gibt sogar sich selbst (!) ganz hin. Sie opfert sich selbst für den Geliebten auf. Sie will ganz Gott und allein Gott gehören.
Maria Magdalena hingegen kniete. Sie steht für die unvollkommene Liebe. Denn die unvollkommene Liebe ist nicht selbständig. Sie wird immer wieder nach unten gezogen von einer großen Eigenliebe. Sie ist unvollkommen, weil sie bedürftig ist. Sie bedarf etwas „für sich“. Sie kann noch nicht geben, ohne etwas „für sich“ zurückzuerhalten. Die unvollkommene Liebe kennt viele Grade. Sie ist um so unvollkommener, je mehr das Lieben „für mich“, die Selbstsucht, im Vordergrund steht, und nähert sich der vollkommenen Liebe an, je mehr sie sich selbst vergißt.
Nicht erst seit Siegmund Freud wird Liebe von vielen Menschen mit Sex verwechselt. So war es anfänglich auch bei Maria Magdalena. Vor ihrer Bekehrung verkaufte sie ihre „Liebe“ an Männer. Bei der auf reine Mechanik reduzierten „Liebe“ geschieht jedoch etwas, das dem Begriff der wahren Liebe ganz und gar entgegengesetzt ist. Eine solche „Liebe“, die dieser hehren Bezeichnung ganz und gar unwürdig ist, sucht nämlich keinen Jemand, kein Gegenüber, weder einen Geliebten, noch überhaupt irgendeine andere Person, sondern lediglich sich selber. Sie sucht die Lust, die Befriedigung „für sich“. Die triebhafte „Liebe“ ist eben deshalb auch problemlos von einer Person auf die andere übertragbar. Sie ist nicht personengebunden. Daran erkennt man, daß sie nichts von sich gibt, sondern lediglich für sich nimmt. Das hat mit Liebe überhaupt nichts zu tun. Denn die Liebe besteht gerade im Verströmen seiner selbst für den Geliebten, für einen Jemand. Wenn man eine Person liebt, dann liebt man sie als Ganzes. Der wahrhaft Liebende liebt nicht einfach nur ein Gesicht, einen Körper oder sonst etwas, sondern den ganz andern Menschen, wie er in seiner gesamten Einzigartigkeit ist. Bei einem jungen Mann und einer jungen Frau, die sich ineinander verlieben, steht, soweit es mit rechten Dingen zugehet, die Person des anderen im Fokus. Das andere kommt später. Sexualität kommt erst als besondere Ausdrucksform der Liebe, sofern die wahre Liebe zwischen Mann und Frau im Ehebund befestigt ist. Bei der freudschen „Sex-Liebe“ spielt die Person des anderen überhaupt keine Rolle. So war es auch anfänglich bei Maria Magdalena. Sie war eine stadtbekannte Dirne. Doch sie hat sich bekehrt. Wie geschah das? Auch bei ihr kennen wir den genauen Anlaß für ihre Bekehrung nicht. Vermutlich hat sie unseren Herrn predigen gehört und wurde von seinen Worten zutiefst erschüttert und doch von dem Wort von der Barmherzigkeit Gottes gegen den Büßenden angezogen. Sie hatte erkannt, daß ihre ich-süchtige „Liebe“ einen Jemand – nämlich Gott – beleidigt hatte. Sie empfand einen tiefen Reueschmerz und suchte bei demjenigen Vergebung, den sie als Gottessohn erkannte. Wir treffen Magdalena erstmals bei einem Gastmahl, zu dem unser Herr geladen war. Wir treffen sie als Büßerin, denn die Zerknirschung über ihre Sünden treibt ihr die Tränen in die Augen, die sie in reicher Fülle über die Füße des Herrn ergießt. Ihre Tränen beweisen ihre Reue. Doch gehört zur Buße auch der entschiedene Wille zur Wiedergutmachung. Wie der hl. Augustinus scharfsinnig bemerkt, geschah das, indem sie ihre Haare, die sie früher dazu gebrauchte um Männer zu verführen, nun für den Dienst Gottes einsetze, indem sie die Füße des Herrn damit trocknete. Schließlich zerbrach sie ein Alabastergefäß, das sie mitgebracht hatte. Es enthielt ein teures, wohlriechendes Salböl, womit sie die Füße des Herrn salbte. Dadurch wird offenbar, daß Maria Magdalena nicht nur als Büßerin zu Jesus gekommen ist, sondern als große Liebende. Diese kostbare Gabe, welche später von Judas Iskarioth, der von allem zwar den Preis wußte, ohne aber den wahren Wert zu kennen, bei einem ähnlichen Anlaß auf 300 Silberstücke beziffert wurde, steht für sie selbst. Die Echtheit ihrer verschwenderischen Liebe wird Maria Magdalena auch sogleich von Christus in Gegenwart der erstaunten Tischgenossen bescheinigt: „Ihre vielen Sünden werden ihr vergeben, weil sie viel geliebt hat“ (Lk. 7, 47).
Die Unvollkommenheit ihrer Liebe bestand jedoch darin, daß sie noch zu sehr am gegenwärtigen Trost hing. Magdalena hatte sich bekehrt. Sie begann ein heiligmäßiges Leben zu führen. Ihr Herz glühte vor Liebe zu Gott. Doch verlangte sie nach dem Trost, den Gott ihr gab. Sie konnte noch nicht völlig selbstlos geben. Ihre Liebe hatte doch noch etwas von einem Handel. Für ihre Gottesliebe wollte sie etwas herausbekommen, etwas „für sich“. Für Maria Magdalena bestand der Trost insbesondere in der physischen Anwesenheit Jesu. Immer ist sie zu seinen Füßen, d.h. in der Nähe seiner Menschheit. Daraus zieht sie ihren Trost. Doch der Herr reinigt diese unvollkommene Liebe. Er entwöhnt sie wie ein Kind. Er wird gekreuzigt. Er wird begraben. Doch selbst nach dem Begräbnis Christi zeigt Magdalena eine erstaunliche Sorge für Seinen Leib. Sie bereitet alles vor, um den Leib Jesu nach dem Sabbat zu salben. Ihre Anhänglichkeit an den Trost tritt besonders deutlich in ihrer Trostlosigkeit hervor, als sie das Grab leer findet. Und auch als sich der Herr ihr offenbart, versucht sie ihn zu berühren, ihn festzuhalten „für sich“. – „Noli me tangere“ – „Rühr mich nicht an“, bekommt sie zu hören. „Du sollst mich lieben. Aber ohne etwas für dich zu beanspruchen. Du sollst mir treu dienen. Doch ohne einen Lohn zu erwarten. Nur darin besteht die vollkommene Liebe.“
In diesem Leben kann der Mensch einzig im Leiden selbstlos lieben. Denn alle anderen guten Werke bergen eine gewisse Süßigkeit, die derjenige, der sie tut, „für sich“ genießt. Nur der Schmerz vermag es, den Menschen ganz von sich zu entkleiden und auch die versteckteste Eigenliebe auszuschließen. Diese vollkommene Liebe finden wir in der unter dem Kreuz stehenden Schmerzensmutter. Sie steht unter dem Kreuz und ist bereit, sich durch ihr damit gegebenes Bekenntnis zu ihrem göttlichen Sohn von der aufgebrachten Menge zerreißen zu lassen. Sie ist bereit, alles zu geben. Christus selbst nimmt ihr das Teuerste, was sie hat: „Frau, siehe dein Sohn!“ „Welch ein Tausch!“ ruft der hl. Bernhard aus. „Johannes wird ihr an Jesu Statt gegeben, der Knecht für den Herrn, der Jünger für den Meister, der Sohn des Zebedäus für den Sohn Gottes, ein bloßer Mensch für den wahren Gott.“ Die Gottesmutter gibt den Tröster ihres Herzens dahin und nimmt ein Sorgenkind, und in ihm alle von uns an. Und wahrlich, Johannes hat ihr wohl von all ihren Kindern am wenigsten Sorgen bereitet! Das nimmt sie an. Sie verzichtet auf sich und gibt sich ganz dem göttlichen Willen hin. Sie entsagt jeglicher Befriedigung „für sich“ und gibt uns ein Vorbild ihrer vollkommenen Liebe. Wohlgemerkt: Die Vollkommenheit der Liebe besteht nicht im Opfer selbst, sondern in der Selbstlosigkeit, mit der es gebracht wird. Nicht im Schmerz besteht die Vollkommenheit, sondern in der Annahme aus Liebe zu Gott. So verband sich die Gottesmutter mit dem Leiden ihres Sohnes. Sie wollte mit Ihm leiden, weil es der Wille des Vaters war, der darin verherrlicht wurde; weil es der Wille des Sohnes war, um die Menschen von ihrer Sündenschuld zu erlösen; weil es der Wille des Heiligen Geistes war, aus der geöffneten Seite des am Kreuz entschlafenen zweiten Adam die Kirche als mystische Eva zu bilden. Darin besteht die vollkommene Liebe. Sie vermählt sich im Glauben mit dem göttlichen Willen ohne jegliche Rücksichtnahme auf sich selbst. So wird sie eins mit dem Gekreuzigten.
Der Richterstuhl des Gekreuzigten
Wenn Christus einst wiederkommen wird, werden sich wiederum alle Blicke auf Ihn richten. Dann werden wir keine Wunden an Ihm finden, sondern verklärte Male an seinen Händen, Füßen und an Seiner Seite. Und damit wird Er uns richten! Er wird zu uns sagen: „Zeig mir deine Hände. Findet sich daran ein Mal vom Schenken, vom Geben, vom Verzeihen? Das Mal, die Werke für einen anderen aufzuopfern? – Zeig mir deine Füße! Tragen sie ein Mal an sich, die Pfade des Guten beschritten zu haben? Hast du dir die Füße wund gelaufen in Meinem Dienst, in deinem Beruf, bei der Erfüllung deiner Standespflichten? – Zeig mir dein Herz! Hast du es geöffnet für die Liebe zu Gott? Hast du dein Herz leer gemacht von dir selbst? Haben auch deine Widersacher darin noch Platz gefunden?“ Danach werden wir gerichtet. Ob und wieweit wir dem Gekreuzigten in diesem Leben ähnlich geworden sind.
Wir haben heute das Modell vor Augen, das wir aus dem Material unseres Lebens nachbilden müssen. Nehmen wir also Maß – in einem Aufblick zum Gekreuzigten. Amen.