5. Sonntag nach Pfingsten
Zorn und Haß Einhalt gebieten
Geliebte Gottes!
Christus schärft uns heute mit Nachdruck das Gebot der Nächstenliebe ein. Unsere Gebete und Opfer, die uns auf das Innigste mit dem Heiland vereinigen und uns vor Gott wohlgefällig machen sollen, sind bisweilen beeinträchtigt, ja vielleicht sogar wirkungslos, weil wir uns schuldbarerweise mit einzelnen Mitmenschen entzweit haben.
Auf diese Weise mißachtet der Mensch das Gesetz Christi (vgl. Joh. 13,34 f.) und reißt sich los von der Liebeseinheit Seines mystischen Leibes. Und wir alle wissen, was passiert, wenn sich ein Glied vom Leib absondert. Es stirbt ab, so wie der Rebzweig verdorrt und stirbt, wenn er vom Weinstock abgeschnitten ist.
Das Gesetz der Liebe ist das vollkommene Gesetz des Neuen Bundes. – Dem alten Bundesvolk gab Gott durch Moses ein noch unvollendetes Gesetz, als Er forderte: „Du sollst nicht töten.“ Deshalb hatten die Juden ein reines Gewissen, wenn sie mit ihrem Bruder bisweilen hart umgingen. Solange sie ihn am Leben ließen, hatten sie ihn ja nicht getötet und damit das Gesetz nicht übertreten. Nur: „Wer tötet, soll dem Gericht verfallen sein.“ (Ex. 20,13; Lev. 24,17).
Mit der gesetzgeberischen Autorität des Sohnes Gottes vollendete der Heiland bei Seiner Bergpredigt das fünfte Gebot vom Berge Sinai mit einer Präzisierung. „Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder zürnt, soll der Gerichtsbehörde verfallen sein.“ (Mt. 5,22). Damit faßt der Herr das Übel an der Wurzel und zeigt auf, wo die schweren Tatverbrechen von Mord und Totschlag ihren Ausgang nehmen. Sie entspringen dem Zorn.
Der gerechte und der ungerechte Zorn
Der Zorn an sich ist eine Leidenschaft, die sittlich weder gut noch schlecht ist. Der Zornmut ist die Kraft des Gemüts, die den Menschen antreibt, die Hindernisse, welche sich ihm beim Erstreben des Guten in den Weg stellen, zu überwinden. Der Mensch muß also, wenn er nach dem sittlich Guten strebt, bisweilen den Zornmut willentlich erregen, wenn er sich bei der Erlangung eines tugendhaften Zwecks mit Hindernissen konfrontiert sieht. Der Zorn ist dann in der rechten Ordnung der Vernunft. Er ist „geordnet“ und „gerecht“, wenn er nicht der Leidenschaft, sondern der Vernunftüberlegung folgt.
Klassisches Beispiel für den „gerechten Zorn“ ist der Heiland selbst. Bei der Tempelreinigung heißt es von Ihm: „Da machte Er eine Geißel von Stricken und trieb sie alle zum Tempel hinaus, auch die Schafe und Ochsen. Er verschüttete das Geld der Wechsler und stieß die Tische um.“ (Joh. 2,15).
In ähnlicher Weise müssen auch Eltern zornig werden, um ihre trägen, ungehorsamen oder trotzigen Kinder zur Folgsamkeit zu bewegen. Dieser Zorn ist, sofern er verhältnismäßig ist, geordnet und sittlich einwandfrei. – Der Hohepriester Heli hätte einen solchen Zorn an den Tag legen müssen, um seine gottlosen Priestersöhne Ofni und Pinchas zurechtzuweisen. Er unterließ es und wurde von Gott dafür gestraft! Denn der „gerechte Zorn“ ist in Wirklichkeit ein Kind der wahren Liebe. Wer ihn unterläßt, unterläßt eine Liebespflicht.
Ferner sagt der griechische Philosoph Aristoteles, daß der eine gewisse Männlichkeit verleiht, die besonders in führender Stellung nötig ist (vgl. Nik. Et. 4,11). Der geordnete Einsatz des Zornes ist also von jedem Vorgesetzten verlangt. Ohne ihn, wird er seiner Stellung nicht gerecht werden können. Deshalb kommt der Beherrschung des Zornes auch hierbei eine große Bedeutung zu.
Den „gerechten Zorn“ fordert schließlich auch der 4. Psalm: „Zürnet, aber sündigt nicht.“ (Ps. 4,5). Aus dieser Aussage geht hervor, daß es einen Zorn gibt, der nicht Sünde ist. Das „aber“ läßt den Psalmvers zur Mahnung werden. Denn der Mensch kann seine Leidenschaften nur schwer beherrschen, weshalb der „gerechte Zorn“ immer in der Gefahr schwebt, sündhaft zu werden.
Worin nun der Unterscheid des gerechten zum „ungerechten Zorn“ zu finden ist, das beschreibt der hl. Papst Gregor d. Gr., wenn er sagt: „Etwas anderes ist es um den Zorn, welchen die Ungeduld aufregt, und etwas anderes ist es um den Zorn, welcher aus Eifer für die Gerechtigkeit hervorgeht. Jener wird aus der Sünde, dieser aus der Tugend erzeugt.“ (mor. 31,17).
a) Der im Herzen getragene Zorn
Und genau um diesen aus der Ungeduld hervorgehenden Zorn geht es dem Heiland, um den Groll. Nichts vergiftet das Verhältnis zum Nächsten so sehr wie der Groll. Groll, das ist verhaltene Wut und Feindseligkeit gegen einen anderen. Er ist eine ungeordnete Erbitterung, eine unterhaltene Abneigung, ein ungebührliches Aufbrausen, eine feindselige, rachsüchtige Gesinnung. Einem anderen grollen heißt, ihm Böses nachtragen, auf Vergeltung sinnen, Schadenfreude über das Unglück des anderen empfinden. Man spricht auch vom „Ressentiment“, das ist eben ein heimlicher Groll, ein unterschwelliges Haß- und Rachebedürfnis, das aufgrund einer unbewältigten schmerzlichen Situation entstanden ist.
Der Groll dauert fort im Herzen des Menschen wie die Kohlenglut unter der Asche. Der Windstoß einer Kleinigkeit genügt und schon lodert die Stichflamme des Zornes und des Grolls empor. Dieses feindselige Aufbrausen, dieses sich innerlich Erbittern ist sündhaft und strafbar. Es ist der Wunsch nach Rache und Vergeltung; der Wunsch, daß dieser Mitmensch, gegen den er sich richtet, „beseitigt“ und „nicht mehr da“ sei. Und dieser haßerfüllte Wunsch, daß der andere nicht mehr da sei, ist schon ein seelisches Morden. Denn die Vernichtung des Nächsten ist dabei schon im Willen vorhanden; wie uns der hl. Apostel Johannes erklärt: „Jeder, der seinen Bruder haßt, ist ein Menschenmörder.“ (1. Joh. 3,15).
b) Der sich in Schmähungen ergehende Zorn
Doch das innere Zürnen bleibt nicht im inneren Herzen verborgen. Es gibt sich nach außen kund in Auswüchsen und Ausdrücken, bis hin zu maßloser Schmähung, ja sogar bis zu Flüchen gegen den Nächsten. Ist schon der innerliche Zorn nach den Worten des Heilandes justiziabel – Er spricht vom örtlichen Gericht, dem der Zürnende verfallen sei – umso mehr, wenn sich der ungerechte Zorn durch Worte nach außen kundtut. Der vom Zorn ergriffene Mensch bricht wie eine Furie los. Der Zornmütige verliert gleichsam die menschliche Gestalt und nimmt die eines wilden Tieres an. Er verzieht das Gesicht, fängt zu schreien und zu schmähen an, stampft mit den Füßen, knirscht mit den Zähnen und läßt wilde Blicke schießen. Der hl. Basilius sagt: „Betrachte einen, der vom Zorn gereizt und bewegt ist. Er ist seiner nicht mehr mächtig und kennt sich selbst nicht; er kennt auch die nicht, welche gegenwärtig sind, … Er schmäht und lästert, … er droht und schwört, er poltert und berstet vor Geschrei.“ (de laud. jejun.).
Den verschiedengradigen Beschimpfungen werden von Christus auch der entsprechend höhere Gerichtshof und die schärfere Strafe angedroht: „Wer aber zu seinem Bruder sagt: ‚Raka’, ‚du Hohlkopf’, soll dem Hohen Rate verfallen sein.“ (Mt. 5,22). War für den im Inneren zurückgehaltenen Groll lediglich das niedere Ortsgericht zuständig, so wird vom Heiland für den verbalen Zornesausbruch bildhaft der „Hohe Rat“ als Gerichtsort benannt. Der „Hohe Rat“ in Jerusalem war die höchste weltliche und religiöse Gerichtsinstanz Israels. Sie konnte schwerste zeitliche Strafen verhängen, sowie die kultische Strafe des Ausschlusses vom Opfer und vom Gottesdienst (vgl. Joh. 9,22); ja, sogar die Todesstrafe (vgl. Mt. 26,64). – Schon die Beschimpfung und lieblose Betitelung zerreißen also das Band der Liebe und schließen vom Gottesdienst der Liebe aus.
c) Die Verfluchung
Den schrecklichen Höhepunkt des verbalen Zornes, der nur noch vom tätlichen Angriff bis hin zur durch das fünfte Gebot inkriminierten Mordtat übertroffen werden kann, stellt der Fluch dar. „Wer aber sagt: ‚Du Verfluchter’, der soll der Feuerhölle verfallen sein.“ (Mt. 5,22). Der Fluch stellt den Mitmenschen mit dem Teufel gleich, denn der Teufel ist „der von Gott verfluchte“ schlechthin.
Deshalb ist das Strafmaß für einen gegen den Mitmenschen ausgesprochenen Fluch keine zeitliche Strafe mehr, sondern eine ewige: die Strafe des Höllenfeuers. Zu diesem kann aber nur Gott verurteilen, der daher hier als höchstinstanzlicher Richter gedacht ist.
Wörtlich gebraucht der Heiland für die Umschreibung „Höllenfeuer“ den Ausdruck „Gehenna“. Gehenna ist zunächst jene Talschlucht südöstlich vor der Stadtmauer Jerusalems. Dieser Ort wurde durch die scheußlichen Menschenopfer entweiht und verunreinigt, welche dort zur Zeit des Propheten Jeremias von abtrünnigen Israeliten für den Götzen Moloch verbrannt wurden (vgl. Jer. 19,2–5). Von daher galt diese Felsenschlucht als Bild des Greuels und des ewigen Höllenfeuers für die von Gott verstoßenen Übeltäter. Wer also durch seine Fluchworte ähnlich wie die abtrünnigen Israeliten dem Teufel Menschenopfer weiht, dem wird die göttliche Gerechtigkeit mit dem Greuel ewigen Höllenfeuers vergelten.
Die Tugend der Sanftmut
Wie ist dem ungerechten Zorn zu begegnen, damit wir den zeitlichen Strafen, für die im Herzen gehegte Abneigung entgehen? den Selbstausschluß von den Segnungen des Gebetes und des Opfers durch äußere Zornesausbrüche abwenden? ja, daß wir der ewigen Verdammnis entgehen, welche unsere Fluchworte nach sich ziehen? – Der Zorn wird eingehegt durch die Tugenden der Sanftmut, der Geduld und der Friedfertigkeit.
Sanftmütig ist, wer sich aus Liebe zu Gott nicht aufregt, wenn ihm Unrecht geschieht, und nicht auf Rache und Vergeltung sinnt. Sanftmütig muß man sein: um Gottes willen! Denn Gott selbst ist sanftmütig! Er erträgt die Sünder. Er erträgt uns. Er übt sogar Milde gegen diejenigen, welche mit erhobener Hand gegen Ihn sündigen, gegen die Spötter und die Lästerer. Deshalb fordert der Heiland: „Liebet eure Feinde, tut Gutes denen, die euch hassen, und betet für jene, die euch verfolgen und verleumden, auf daß ihr Kinder eures Vaters seid, der im Himmel ist, der Seine Sonne aufgehen läßt über Gute und Böse und regnen läßt über Gerechte und Ungerechte.“ (Mt. 5,44 f.). Gott ist sanftmütig.
Auch der Heiland ist sanft und mild. Er kam einmal auf einer Pilgerfahrt nach Jerusalem in eine Stadt in Samaria, wo man Ihn nicht aufnehmen wollte. Darüber waren Seine Apostel derart erzürnt, daß sie wünschten, es möge Feuer vom Himmel auf diese Stadt herabfallen. Jesus aber wies die Jünger scharf zurecht und sprach: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, Seelen zu verderben, sondern selig zu machen.“ (Lk. 9,56). Sein ganzes Leben, aber vor allem Sein Leiden gibt Zeugnis davon, daß der Herr jegliches Unrecht ertrug und jede Rache verabscheute. Der hl. Petrus faßt das Beispiel der Sanftmut Christi mit den Worten zusammen: „Er schmähte nicht, da Er geschmäht wurde, und drohte nicht, da Er litt, sonder überließ Sich dem, der Ihn ungerecht verurteilte.“ (1. Petr. 2,23). So konnte Christus von sich sagen: „Lernet von Mir, denn Ich bin sanft und demütig von Herzen.“ (Mt. 11,20).
Während der Glaubenskriege in Frankreich schlich sich einmal ein Hugenotte in das Lager des katholischen Feldherrn ein und wollte ihn ermorden. Er wurde gefangen. Der Herzog fragte ihn: „Was habe ich dir zuleide getan?“ „Nichts“, sagte der Hugenotte, „aber ich hasse dich, weil du ein Feind meines Glaubens bist, und deswegen wollte ich dich umbringen.“ Da gab der Herzog die schöne Antwort: „Wenn dein Glaube dir befiehlt, mich zu hassen, so befiehlt mein Glaube mir, dir zu verzeihen.“ Was für ein schönes Beispiel der Sanftmut, in dem genau die Forderung des hl. Petrus aus der heutigen Epistel umgesetzt worden ist: „Vergeltet nicht Böses mit Bösem, nicht Schmähung mit Schmähung; vielmehr segnet einander.“ (1. Petr. 3,9).
a) Lernen, sich etwas gefallen zu lassen
Die Sanftmut erlangt man nur, wenn man sich fleißig in der Selbstbeherrschung und im Gebet übt und an den ewigen Lohn denkt, der denen zuteil wird, die erlittenes Unrecht geduldig ertragen.
Um den in uns aufflammenden Rachedurst zu zügeln, ist es vor allem notwendig, daß man lernt, sich auch einmal etwas gefallen zu lassen. – Einer der schlimmsten Grundsätze, die Menschen haben können, lautet: „Wie du mir, so ich dir.“ Das heißt, wer mir freundlich begegnet, dem begegne auch ich freundlich. Wer mir aber abweisend begegnet, dem begegne auch ich abweisend. Das ist ein zutiefst unchristlicher Grundsatz.
Er hat zur Folge, daß sich die meisten Menschen nichts mehr gefallen lassen wollen. Schon die kleinen Knirpse trumpfen bei ihren Raufereien mit dem Schlachtruf auf: „Das lasse ich mir nicht gefallen.“ Genauso reden die Erwachsenen. Damit werden Konflikte, Auseinandersetzungen, Reibereien und Zerwürfnisse ohne Zahl und ohne Ende hervorgerufen. Wird einer beschimpft, so schimpft er zurück. Wird einer geschlagen, so schlägt er zurück. Solche Menschen haben immer noch das überholte alttestamentliche Gesetz im Kopfe: „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ (Ex. 21,23 ff.). Aber das ist kein christliches Gebot! Das ist ein vorchristliches Gesetz. Der Christ verzeiht und vergibt. Kurz: Er läßt sich etwas gefallen.
Viele Eltern geben ihren Kindern scheinbar die Mahnung auf den Lebensweg mit: „Laß dir ja bloß nichts gefallen!“ – Diesem Motto wollen wir einen anderen Satz entgegenhalten. Einer unserer Lehrer im Priesterseminar hatte zu uns Seminaristen einmal gesagt: „Sie müssen lernen, ungerechte Kritik zu ertragen, sonst werden Sie als Priester scheitern.“ Jawohl, genauso ist es. Das muß man lernen. Man darf und soll sich nicht immer gleich wehren. Man muß sich auch etwas gefallen lassen, man muß auch Unrecht ertragen können. Bisweilen wird einem nämlich dann nach ruhiger Bedenkzeit klar, daß jenes Unrecht nur vermeintliches Unrecht, also in Wirklichkeit gar kein Unrecht gewesen ist.
Auch in der Freundschaft muß man sich etwas gefallen lassen. Und selbst in der Ehe, vom Ehemann, von der Ehefrau, muß man sich etwas gefallen lassen, sonst ist man fortwährend im Streit und im Unfrieden. Die Menschen haben nun einmal ihre Eigenarten und Unarten. Soweit wir sie nicht ändern können, müssen wir sie ruhig ertragen lernen. Nicht aus Feigheit, versteht sich. Auch nicht aus Bequemlichkeit oder aus Schwäche, sondern aus innerer Kraft. Das Wort „Sanftmut“ ist ja zusammengesetzt aus der Vorsilbe „Sanft-“ und der Nachsilbe „-mut“. Der Mut ist eine Kraft, eine Tüchtigkeit, eine Stärke! In diesem Fall, um „sanft“ bleiben zu können, um den leidenschaftlichen Zorn zu bändigen und die Beherrschung zu wahren. Sanftmut besagt also eine innere Stärke, die mächtiger ist als das Unrecht, das einem zugefügt wird.
Man gewinnt die Tugend der Sanftmut, die unseren Zorn mäßigt, nicht von einem Tag auf den anderen, ja nicht einmal in einem Jahr. Es braucht lange Zeit, um eine Tugend zu erringen. Wer in kleinen Dingen geduldig und sanftmütig ist, der bekommt Kraft, die größeren Dinge zu ertragen. Wie mit so vielem, so sind auch hier Ausdauer und Beharrlichkeit gefordert. Der hl. Franz von Sales hatte von Natur aus ein sehr hitziges Gemüt. Er war cholerisch veranlagt. Er erlangte jedoch schließlich durch 20-jährige Übung der Selbstbeherrschung jede große Sanftmut, für die er heute hochgerühmt ist und für die wir ihn um seine Fürbitte anrufen sollen.
b) Auf Rache verzichten
Gestern begingen wir das Fest des hl. Johannes Gualbertus, des Ordensstifters der Mönche von Vallombrosa. Bevor er Mönch wurde, war Johannes der Sohn einer florentinischen Adelsfamilie und wie sein älterer Bruder Hugo ein Ritter. Dieser Bruder wurde aber eines Tages heimtückisch von seinem eigenen Diener ermordet und ausgeraubt. Johannes stellte dem Mörder lange nach und suchte überall nach ihm, denn er wollte seinen Bruder rächen. Aber all seine Bemühungen blieb erfolglos und sein Rachedurst ungestillt. An einem Karfreitag fand es sich, daß Johannes bewaffnet und in Begleitung seiner Soldaten auf einem Hohlweg unversehens dem Gesuchten gegenüberstand. Dieser war unbewaffnet und konnte nicht ausweichen. Der Mörder fiel ihm zu Füßen, während Johannes schon die Hand am Schwertgriff hatte, und beschwor ihn, um des heiligen Tages und um des Kreuzes Christi willen Gnade walten zu lassen. Johannes begab sich mit dem Mörder seines Bruders in eine nahegelegene Kirche, sank vor dem auf Holz gemalten Bild des Gekreuzigten auf die Knie, und betete: „Mein Herr Jesus Christus, wenn ich dem Mörder vergeben soll, so gib mir ein Zeichen!“ Da löste sich das gemalte Bildnis vom Holz und neigte sich zu ihm hin. Viele Menschen, die aufgrund des Karfreitags zur Andacht in der Kirche waren, sahen es. Erschüttert umfing Johannes daraufhin den Mörder seines Bruders, nahm ihn in seine Arme und sprach: „Der Friede Jesu sei mit dir, lieber Bruder.“ Daraufhin gingen beide gemeinsam zur Pforte des an die Kirche angeschlossenen Klosters und baten den Abt um Aufnahme. Auch Johannes Gualbertus beherzigte die Mahnung des Völkerapostels im Römerbrief „Laß dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ (Röm. 12,21) und verzichtete auf seine Rache.
Blutrache ist heute unter Christen aus der Übung gekommen. Aber Spuren und Auswüchse des Rachegeistes gibt es auch heute noch bei uns. Und dieser Geist der Rache und der Vergeltung muß sich nicht in Mord und Totschlag auswirken, sondern er kann sich auch in kleinerer Münze auszahlen. Rache muß ja nicht mit wutverzerrtem Gesicht herumlaufen. Sie kann sich auch hinter einem Lächeln verbergen und umso sicherer ihr Ziel erreichen. Kleine Schikanen, ständige Nadelstiche, kleine zermürbende Boshaftigkeiten können einem unersättlichen Vergeltungswillen zur furchtbaren Waffe werden und ein Familienleben, eine Arbeitsstätte, eine Nachbarschaft oder einen Bekanntenkreis zerrütten.
Man spricht heute vom sog. „Mobbing“. Mobbing besagt, daß man einem anderen fortwährend und wiederholt böswillige Handlungen zufügt, am Arbeitsplatz, in der Schule oder in der Familie. Mobbing ist eine besondere und heute übliche Form der Rache. Auch dagegen wendet sich die Mahnung des Völkerapostels: „Vergeltet nicht Böses mit Bösem! Seid auf das Gute bedacht. …Schafft euch nicht selbst Recht, sondern laßt dem Zorngericht [Gottes] Raum! Denn es steht geschrieben: ,Mein ist die Rache. Ich will vergelten, spricht der Herr.’ Vielmehr: Wenn dein Feind Hunger hat, gib ihm zu essen; wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken. Wenn du dies tust, dann sammelst du feurige Kohlen auf sein Haupt. Laß dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse durch das Gute!“ (Röm. 12,17 ff.).
c) Von Herzen verzeihen
Was heißt diese merkwürdige Wendung: „Wenn du dies tust, dann sammelst du feurige Kohlen auf sein Haupt“? Das besagt: Die Wohltaten, die man dem Feind erweist, werden ihn nachdenklich machen. Sie werden an sein Gewissen rühren. Sie werden ihm vielleicht zur Besinnung und zur Umkehr gereichen. Einmal muß die Rache ein Ende nehmen, und das geschieht nur, wenn Böses nicht mit Bösem vergolten wird. Einmal muß die Kette des Bösen unterbrochen werden. Das geschieht, wenn man auf Rache und Vergeltung verzichtet. Das Böse ist keine Naturgewalt, der wir mit Notwendigkeit unterliegen müßten, sondern wir besitzen in der Sanftmut um Gottes Willen die Kraft zur Vergebung und den Antrieb zum Verzeihen.
Mit dem Verzeihen ist das jedoch so eine Sache. Es muß nämlich aus dem Herzen kommen; es muß innerlich, echt und wahr sein. Mit ein paar Worten ist es nicht getan. Ein bloß äußerliches Vergeben befördert weder die innere Abneigung und den Groll aus dem Herzen noch ändert sich die Beziehung zu dem anderen. Das Herz muß geändert werden! Man muß „von Herzen“ verzeihen! Wir müssen die Gereiztheit, die Feindseligkeit, die Wut, den Zorn gegen den Nächsten aus dem Herzen hinausschaffen.
Erst dann können unsere Opfergaben, unsere guten, verdienstlichen Werke und unser ganzes Frömmigkeitsleben vor Gott wohlgefällig sein. Eher nimmt Gott unsere Gebete und Opfer, und mögen sie noch so zahlreich und groß sein, nicht an. „Gehe zuerst hin und versöhne dich mit deinem Bruder! Und dann komm und opfere deine Gabe!“ (Mt. 5,24). Wie will denn jemand Gott durch seine Gaben geneigtmachen, wenn er selbst zu keinem versöhnlichen Schritt gegenüber seinem Mitmenschen zu bewegen ist?
Deshalb: Segen statt Fluch, Vergebung statt Rache, Güte statt Gewalt, das ist die Sprache des heutigen Sonntags. Wer das Kreuz Christi nicht versteht, mag diese Haltung für Torheit oder Schwäche halten. Wer aber einmal versucht hat, zu vergeben, wo der natürliche Mensch nach Rache schreit, der hat begriffen, daß dazu eine heroische Kraft notwendig ist, eine übernatürliche Kraft, die uns vom Kreuz herab angeboten wird. Die Gegenwart des Christen in der Welt muß für die Welt zum Segen werden, und das wird sie nur, indem wir das Böse in Schranken halten, indem wir nicht Böses mit Bösem vergelten, nicht Schmähung mit Schmähung, sondern mit Segen. Auch das Segnen des Mitmenschen ist ein probates Mittel, um das Herz von dem Gift der Abneigung, des Grolles und des Rachedurstes zu reinigen. Nicht durch äußerlich sichtbare Segensrituale, versteht sich, aber durch das innerliche Segnen der Menschen, gegen die sich unser Zorn regt. „Vergeltet nicht Böses mit Bösem, nicht Schmähung mit Schmähung; vielmehr segnet einander.“ (1. Petr. 3,9)! Der große französische Prediger Lacordaire hat einmal das schöne Wort gesagt: „Willst du Befriedigung für einen Augenblick, so räche dich. Willst du Befriedigung für immer, dann vergib!“
Und wir wollen schließen mit dem Anruf aus der Allerheiligenlitanei: „Von Zorn, Haß und allem bösen Willen – erlöse uns, o Herr!“ Amen.