Sonntag Quinquagesima
Liebe und tue, was du willst
Geliebte Gottes!
Eines der bekanntesten und am häufigsten zitierten Worte des hl. Kirchenvaters Augustinus lautet: „Liebe und tue, was du willst.“ – Entsprechend häufig begegnet man diesem Wort. Man blättere nur in erbaulichen Zitatsammlungen, die „Ein Wort für jeden Tag“ bereithalten oder betrachte die Spruchkartensortimente christlicher Buchhandlungen oder durchforste die einfachen Blätter eines frommen Abreißkalenders: Fast immer ist die Begegnung mit diesem Ausspruch des hl. Augustinus unvermeidlich.
„Liebe und tue, was du willst.“ Dieses Wort findet einfach Anklang bei den Menschen, denn es klingt einem wie eine freudige Botschaft in den Ohren. Ich muß nur lieben, und was ich aus dieser Liebe heraus tue, das ist dann in jedem Falle richtig und gut. Richtig vor Gott und auch gut vor den Menschen, denn es geschieht ja aus Liebe. Doch ist das wirklich so?
Es ist für jeden von uns leicht ersichtlich, daß gerade dieses Zitat des hl. Augustinus heute für Vieles herhalten muß. Und daß dieses Wort von vielen seiner Leser oft auch gegen seinen ursprünglichen Sinn gebraucht wird; also für Dinge, die vom Standpunkt der Gebote und der christlichen Moral aus betrachtet lieblos und sündhaft sind. Da werden nun plötzlich Dinge, die vor allem auch der hl. Bischof von Hippo selbst als Sünde gekennzeichnet hat, mit dem Wort „Liebe und tue, was du willst“ entschuldigt, werden sozusagen mit dem Mäntelchen des Guten umkleidet. Vor allem auf dem Gebiet des 6. Gebotes geschieht das sehr häufig. Nachdem man etwa in einer Diskussion den katholischen Standpunkt vertreten hat, bekommt man dann für gewöhnlich zu hören: „Wer gibt dir das Recht, darüber zu urteilen? Wie kannst du dir erlauben, das zu verurteilen? Sie lieben einander doch so sehr!“
Wird das Wort „Liebe und tue, was du willst“ so aufgefaßt, dann ist man sehr schnell auf dem Niveau jenes Filmsongs angelangt, den einst Zarah Leander in dem alten UFA-Streifen „Der Blaufuchs“ zum Besten gab, worin immer wieder die hämische Frage wiederkehrt: „Kann denn Liebe Sünde sein?“
Kann denn Liebe Sünde sein?
Im Text dieses Liedes, der nun hier im Gotteshaus wirklich nicht vollständig zitiert werden muß, heißt es beispielsweise: „Jeder kleine Spießer macht das Leben mir zur Qual, denn er spricht nur immer von Moral. Und was er auch denkt und tut, man merkt ihm leider an, daß er niemand glücklich sehen kann. Sagt er dann: ‚Zu meiner Zeit, da gab es sowas nicht’, frag ich voll Bescheidenheit, mit lächelndem Gesicht: ‚Kann denn Liebe Sünde sein?’“ Und etwas weiter im Liedtext heißt es: „Liebe kann nicht Sünde sein! Doch wenn sie es wär, dann wär’s mir egal. Lieber will ich sündigen mal, als ohne Liebe sein.“ Das sind leider nicht einfach nur die Liedverse aus einem UFA-Film der 1930er Jahre, sondern das ist inzwischen der Standpunkt der meisten unserer Zeitgenossen geworden; sogar der von so manchem Ungläubigen bzw. Abgefallenen, die sich „Theologe“ nennen oder in der „konziliaren Kirche“ hohe und höchste Ämter bekleiden.
Aber stellen wir uns diesem Standpunkt. Was ist denn daran so falsch? Wo liegt der Fehler? Haben wir nicht soeben in der Epistel gehört, daß die Liebe über allem steht? „Am größten von ihnen aber ist die Liebe“ (1. Kor. 13,13), hat da der hl. Paulus geschrieben. Damit steht doch die Liebe erhaben und unantastbar über allem, nicht wahr? Wer wird da also so kleinlich sein, wenn selbst die größten Wunderwerke – in Sprachen reden, Weissagen und Prophezeien, den Gipfel der natürlichen und übernatürlichen Wissenschaft erklimmen, eine bergeversetzende Glaubenskraft betätigen, sich aufreiben für den Dienst an den Armen oder gar sein Leben hinopfern – wenn all diese großartigen Werke völlig bedeutungslos und nichtig werden, ohne die Liebe: „Hätte ich die Liebe nicht, es nützte mir nichts; so wäre ich ein Nichts.“ Darf man daraus also nicht den Schluß ziehen: Allein die Liebe ist maßgeblich. Alles andere ist sekundär; selbst die Sünde, wenn sie aus Liebe geschieht. – Sind also der hl. Augustinus, der hl. Apostel Paulus und Zarah Leander tatsächlich in tiefer Einheit zu sehen? Schauen wir genauer hin.
Wortbedeutungen der „Liebe“
Um der Frage nachzugehen, müssen wir uns erst einmal klar machen, daß unsere deutsche Sprache leider den Mangel hat, nur das eine Wort „Liebe“ aufbieten zu können, um eine ganze Palette unterschiedlichster Formen der Liebe zu bezeichnen. Das Wort „Liebe“ reicht in seiner Bedeutungsvielfalt von der höchsten, reinsten und reichsten Gottesliebe – jener Liebe, die etwa einen Märtyrer in der Treue zum katholischen Bekenntnis in den Tod gehen läßt – hinüber zur hingebungsvollen Liebe einer Mutter, die sich für ihre Kinder aufopfert und verzehrt, bis hinab zu jener Liebe, die etwa im Zeichen der roten Laterne oder des Regenbogens praktiziert wird. All das wird im Deutschen weithin „Liebe“ genannt.
Die alten Sprachen der Antike sind diesbezüglich klarer. Sie verwenden mehrere Ausdrücke, um das vielschichtige Phänomen „Liebe“ auszudrücken: Im Griechischen etwa unterscheidet man den „eros“ – die drängende, verlangende Liebe – von der „philia“, welche die Liebe der Freundschaft, des gemeinsamen Wollens und Strebens ausdrückt. Diese beiden Formen der Liebe unterscheiden sich wiederum von der „agape“, womit die Liebe des Austausches, die Liebe der Sorge und der Hingabe bezeichnet wird. – Nicht weniger differenziert ist das Lateinische. Der Ausdruck „amor“ benennt die Liebe des Verlangens, „amicitia“ die Freundesliebe, „caritas“ die wertschätzende Liebe, „dilectio“ die auswählende Liebe.
Beim hl. Paulus findet man im Urtext des ersten Korintherbriefes an der heute verlesenen Stelle für „Liebe“ das Wort „agape“; also die Liebe des Austausches und der Hingabe. – Und bei unserem Augustinus-Zitat „Liebe und tue, was du willst“ finden wir das Wort „dilige“. „Dilige, et quod vis fac.“ Das Wort „dilectio“ trägt jedoch schon etymologisch die Bedeutung der „electio“, also „wissentliche und willentliche Auswahl“, in sich. Die Aufforderung des hl. Augustinus „Dilige!“ will also sagen: Habe die geistige, die auswählende Liebe!
Jetzt kann kein Zweifel mehr darüber bestehen, welche Art von Liebe hier nicht gemeint ist. Denn das geistig auswählende „dilige“ des hl. Augustinus ist eindeutig ein vollkommen anderes Niveau der Liebe als die in dem Song „Kann denn Liebe Sünde sein?“ besungene „Liebe der Begierlichkeit“. Letztere geht ja gerade nicht aus dem freiwählenden Geist hervor, sondern – um mit dem hl. Evangelisten Johannes zu sprechen – aus dem Geblüt, aus dem Willen des Fleisches und aus dem Willen des Mannes (vgl. Joh. 1,12).
a) Die erwählende Liebe
Die geistig auswählende Liebe muß immer von Gott her verstanden werden; und nicht vom Menschen aus; und schon gar nicht von den niederen Gelüsten des erbsündlich geschwächten Menschen her.
Der Heiland sagt: „Nicht ihr habt Mich erwählt, sondern Ich habe euch erwählt.“ (Joh. 15,16). Denn von ganz vorne her gedacht oblag es ja allein der freien Wahl des göttlichen Willens, die Schöpfung und alles, was sie erfüllt, ins Dasein zu rufen und jedem von uns persönlich Seine erwählende Liebe auszusprechen. Denn bei jedem seinsstiftenden „Es werde …“ aus dem Munde Gottes schwingt auch die Erklärung Seiner göttlichen „dilectio“ mit, die besagt: „Es ist gut, daß Du da bist. Ich will, daß Du da bist. – Ich hätte Dich nicht schaffen müssen. Ich hätte auch einen anderen Menschen statt Deiner erschaffen können. Aber Dich habe ich gewollt, also bist Du. Ich habe Dich erwählt, weil ich Dich liebe.“ Gott hat uns zuerst geliebt (vgl. 1. Joh. 4,19). Erst die seinsstiftende Liebe Gottes verleiht dem Menschen seine Gottebenbildlichkeit und den einzigartigen Wert seiner Liebenswürdigkeit. Der Mensch ist aufgrund des Anrufs der erwählenden Liebe Gottes „Ich will, daß du da bist“ liebenswert, worauf die diesen Wert hochschätzende Liebe der „caritas“, gleich einem Echo, antwortet.
b) Die mitteilende Liebe
Die Liebe Gottes beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Erwählung. Sie zielt auf Mitteilung und Austausch. Wenn deshalb der hl. Apostel Johannes in seinem ersten Brief schreibt: „Gott ist die Liebe“ (1. Joh. 4,16) – er benutzt, wie der Völkerapostel in der heutigen Epistel, das Wort „agape“ – dann ist hiermit zuerst einmal der ewige Austausch der drei göttlichen Personen gemeint. Die vollkommene Harmonie des Vaters und des Sohnes im Heiligen Geist. Daran soll der Mensch teilhaben. Diese Teilhabe an der „agape“ der drei göttlichen Personen kann der Mensch nicht leisten. Sie mußte ihm gnadenhaft geschenkt bzw. nach dem Sündenfall durch die Geheimnisse der Menschwerdung und der Erlösung wiederhergestellt werden. Die übernatürliche wertschätzende Liebe der „caritas“ ist folglich eine Teilhabe an der Liebe Gottes, die uns geschenkt wird durch die Eingießung des Heiligen Geistes. „Die Liebe Gottes [caritas Dei] ist in unsere Herzen ausgegossen durch den Heiligen Geist, der uns verliehen wurde“ (Röm. 5,5). Hören wir dazu auch den tiefsinnigen Kommentar des hl. Thomas von Aquin zu eben dieser Stelle im Römerbrief des hl. Apostels Paulus: „Die ‘Liebe Gottes’ [caritas Dei] kann auf zweifache Weise verstanden werden: einerseits als die Liebe, mit der Gott uns liebt; in anderem Sinn kann als ‘Liebe Gottes’ die gemeint sein, mit der wir Gott lieben. Die Liebe Gottes in beiderlei Sinn aber ist es, die ausgegossen wird in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns verliehen ist. Daß der Heilige Geist, welcher die Liebe des Vaters und des Sohnes ist, uns gegeben werde, bedeutet, daß wir hingeführt werden zur Teilhabe an jener Liebe, die der Heilige Geist ist. Kraft dieser Liebe werden wir zu solchen, die Gott lieben. Und dies, daß wir Ihn lieben, ist ein Zeichen dafür, daß Er uns liebt.“
Die Liebe ist in diesem Sinn dann also die „heiligmachende Gnade“, durch die wir der Natur Gottes selbst teilhaftig werden und „Kinder Gottes“ sind! Es ist eine wertschätzende Liebe der Harmonie mit Gott, des Friedens mit Ihm, d.h. eines Ruhens in der göttlichen Ordnung („pax tranquillitas ordinis“ – „Der Frieden ist die Ruhe der Ordnung“).
c) Die freundschaftliche Liebe
Hier berühren wir einen wesentlichen Aspekt der übernatürlichen Liebe. Sie kann nur bestehen im Rahmen der von Gott vorgegebenen Ordnung. Diesen Gesichtspunkt betonte der Heiland mehrmals beim letzten Abendmahl. Da sprach Er zu den Aposteln: „Wenn ihr Mich liebt, werdet ihr Meine Gebote halten.“ (Joh. 14,15). Und wenig später noch einmal: „Wer Meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der Mich liebt.“ (Joh. 14,21).
Die Liebe ist nicht gegen, sondern für die Ordnung. Demnach liegt derjenige falsch, der sich einfach nur auf seine – wirklichen oder vermeintlichen – gefühlsmäßigen Liebesregungen verlassen will, ohne seinem Leben die nötige Form zu geben, ohne nach dem zu streben, was die Alten „Tugend“ nennen. Der Keimling göttlicher Liebe, der in das Herz des Menschen durch die Ausgießung des Heiligen Geistes gesät wurde, verlangt nach Ordnung und Tugend. So schreibt abermals der hl. Augustinus: „Eine kurze und genaue Bestimmung der Tugend scheint mir diese zu sein: Tugend ist geordnete Liebe.“
Die Einhaltung der göttlichen Ordnung, wie sie in den Geboten vorgegeben ist, stellt also den objektiven Maßstab der Gottesliebe dar. Die übernatürliche Gottesliebe hat im Wesentlichen nichts mit einem Gefühl zu tun, sondern mit einer tatsächlich vorhandenen Willensübereinstimmung, die wesentlich die Freundschaft „amicitia“ ausmacht. So definierte schon der römische Dichter Sallust die Freundesliebe im 1. Jahrhundert vor Christus: „Idem velle atque idem nolle, ea demum firma amicitia est.“ – „Dasselbe zu wollen und dasselbe nicht zu wollen, gerade darin liegt beständige Freundschaft.“
Der gnadenhaft-sich-mitteilenden Liebe der heiligmachenden Gnade liegt also stets die Liebe der Gottesfreundschaft in der Übereinstimmung unseres Willens mit dem göttlichen zugrunde. Zur Liebe der Gottesfreundschaft tritt also immer auch das Moment der Gerechtigkeit, die einem jeden das geschuldete Maß der Wertschätzung gibt. Was wir Gott schulden bzw. was Er von Seinem Freund erwartet, das sagt uns das göttliche Gebot. Wenn wir es erfüllen, sind wir eins mit dem göttlichen Willen und damit in der übernatürlichen Liebe. Kurz bringt es der hl. Augustinus selbst auf den Punkt: „Das aber ist die wahre Liebe, daß wir gerecht leben, indem wir der Wahrheit anhängen.“ Und an anderer Stelle: „Eine beginnende Liebe ist beginnende Gerechtigkeit; eine fortgeschrittene Liebe ist fortgeschrittene Gerechtigkeit; eine große Liebe ist große Gerechtigkeit; eine vollkommene Liebe ist vollkommene Gerechtigkeit.“
Im Umkehrschluß bedeutet das dann aber nichts Geringeres als: Dort, wo die Gebote Gottes nicht gehalten werden, wo man vom Weg der Wahrheit abweicht, wo also die göttliche Ordnung verletzt oder gar völlig umgestoßen wird, da kann im christlichen Sinn von „Liebe“ überhaupt nicht die Rede sein!
Ohne an dieser Stelle weiter darauf einzugehen, so sei doch wenigstens kurz angemerkt, daß aufgrund des soeben dargelegten Zusammenhangs die wahre übernatürliche Liebe ohne den wahren übernatürlichen Glauben nicht bestehen kann. Denn ein gerechtes Leben hat das gläubige Anhangen an die Wahrheit zur Voraussetzung.
Die Liebe, welche der hl. Apostel Paulus in dem „Hohelied der Liebe“ der heutigen Epistel rühmt, ist also wesentlich die Einheit mit Gott. Diese fußt auf der Angleichung bzw. Verschmelzung mit Seinem göttlichen Willen. Der Gehorsam gegen das Gebot schafft jene Ordnung, in welcher der übernatürliche Austausch mit Gott, dem Urquell der Liebe, in Form der heiligmachenden Gnade und der Gaben des Heiligen Geistes bestehen kann. Der Gehorsam gegenüber dem göttlichen Gebot erhebt, verbindet und vereint uns mit Gott. Ohne diese Verbindung aber sind alle noch so großartigen Werke, die ein Mensch auch zustande bringen mag, null und nichtig.
Sünde kann nicht Liebe sein!
Das ist genau derselbe Sachverhalt, den auch der hl. Augustinus mit seinem Wort „Liebe und tue, was du willst“ ausdrücken will. Er sagt: Wenn dich die göttliche Liebe durchdringt, wenn dein ganzes Denken und Handeln tatsächlich davon beherrscht ist, wenn dein Wille ganz in Deckungsgleichheit mit dem göttlichen Willen ist, der sich im Gebot ausdrückt, und du dich dadurch in der Ordnung Gottes befindest – ja, dann wird tatsächlich alles, was du tust, immer ein Ausdruck der Liebe sein.
Hieraus wird dann auch deutlich, welche vollkommene Verkennung in dem eingangs zitierten Filmlied vorliegt, wo es heißt: „Liebe kann nicht Sünde sein, doch wenn sie es wär’, dann wär’s mir egal. Lieber will ich sündigen mal als ohne Liebe sein.“ – Den ersten dieser Sätze kann man nur unterstreichen: Liebe kann nicht Sünde sein! Wirkliche, echte, von Gott her kommende Liebe kann tatsächlich niemals Sünde sein. Aber die darauffolgenden Aussagen sind eben vollkommen falsch: „Doch wenn sie es wär’, dann wär’s mir egal. Lieber will ich sündigen mal als ohne Liebe sein.“ – Wir stimmen also zu: Liebe kann nicht Sünde sein. Aber ebenso fest muß man auch den Gegensatz festhalten: Sünde kann niemals Liebe sein! Wenn also etwas gegen das Gebot Gottes im Zeichen der Liebe geschieht, dann liegt offensichtlich eine Täuschung darüber vor, was in Wahrheit Liebe ist.
„Lieber sündigen, als ohne Liebe sein.“ Hier widersprechen wir entschieden. Nein! Gerade dadurch, daß man sündigt, beraubt man sich der wahren Liebe! Daher ist die Alternative, die in diesem Lied aufgestellt wird, vollkommen falsch. Es gibt kein wahrhaftiges: „Naja, dann sündige ich eben einmal – aus Liebe.“ Das ist nicht wahr, sondern ein Selbstbetrug. – In dem Augenblick, wo die Sünde beginnt, hört die Liebe automatisch auf.
Wir müssen nüchtern und wahrhaftig sein, um uns in den Angelegenheiten der Liebe nicht zu täuschen. Gerade hier täuscht sich der Mensch ja bekanntlich sehr schnell, gewaltig und nicht selten mit schicksalhaften Folgen. Wir müssen nüchtern und wachsam sein, weil ja das überbordende Gefühl die Einsicht überrumpelt, den Verstand vernebelt und den Willen schwächt. Deshalb müssen wir in Angelegenheiten der Liebe so verfahren: Zuerst müssen wir uns darum bemühen, klar zu erkennen, was vor Gott gut und was vor Ihm Sünde ist; welches Verhalten mit der göttlichen Ordnung übereinstimmt und welches diese Ordnung verletzt oder gar über den Haufen wirft. Und danach müssen wir dann beurteilen, ob etwas, das wir im Begriffe sind zu tun, wahrhaftig Liebe sein kann, oder ob eben nur ein Etikettenschwindel vorliegt und nur fälschlich dieses hehre Wort gebraucht wird.
„wohlwollende Liebe“ vs. „wölfische Liebe“
Und noch ein Letztes: Die Beschwörer des paulinischen „Hoheliedes der Liebe“ und des augustinischen „Liebe, und tue was du willst“ meinen eigentlich immer eine – sagen wir – „weiche Liebe“; eine nachgiebige, sentimentale Liebe und letztlich eine sinnliche Liebe.
Dieses Denken und Fühlen liegt jedoch sowohl dem hl. Paulus als auch dem hl. Augustinus völlig fern. Beim temperamentvollen Völkerapostel ist im Zusammenhang mit seinem Wirken und seiner Verkündigung ganz deutlich, was er unter „Liebe“ versteht. Nämlich ein oft kämpferisches, ein kompromißloses Eintreten für die göttliche Wahrheit; und das u. U. sogar mit Zorn und Drohung. Es wäre ein lohnendes Vorhaben in der hl. Fastenzeit, jeden Tag zur Heiligen Schrift zu greifen und nach und nach wieder einmal die Briefe des Völkerapostels zu lesen. Dabei würde man die im guten Sinne eifernde Liebe des hl. Paulus aus jedem Vers heraushören.
Nicht anders verhält es sich beim hl. Augustinus. Gerade das Wort „Liebe und tue, was du willst“ steht in einem Zusammenhang, der die falsche, die weiche Liebe geißelt, sie entlarvt und zeigt, daß oft das, was man für Liebe erklärt, das glatte Gegenteil von ihr ist. Hören wir also das Wort des hl. Augustinus in seinem ganzen Zusammenhang. Wir werden erstaunt sein!
Er schreibt: „Bei verschiedenem Tun finden wir einen Menschen, der aus Liebe zürnt, einen anderen, der aus Bosheit sich sehr liebenswürdig benimmt. Ein Vater schlägt seinen Sohn. Der Kaufmann schmeichelt. Stellst du dir nun beides zur Wahl; Stockstreiche und Schmeicheleien. Wer wählte nicht lieber die Schmeicheleien als die Streiche? Achtest du aber auf die Person, so ist es die Liebe, die schlägt; die Bosheit hingegen, die schmeichelt. Ihr seht, was wir euch nahelegen wollen. Die Taten der Menschen lassen sich nur von der Wurzel der Liebe her werten. Denn vieles kann man tun, was guten Anschein hat [was also aussieht wie Liebe], aber in Wahrheit nicht aus der Wurzel der Liebe hervorgeht. Denn auch der Dornstrauch [der Sünde] blüht. Vieles scheint hart und finster und doch schafft es, um der Zucht willen, die Liebe. Ein für allemal wird dir also dies als kurzes Gebot aufgestellt …“ – und nun kommt das berühmte Wort: „Liebe und tue, was du willst. Schweigst du, so schweige aus Liebe. Sprichst du, so sprich aus Liebe. Rügst du, so rüge aus Liebe. Schonst du, so schone aus Liebe. – Innen sei die Wurzel Liebe. Nur Gutes kann dieser Wurzel entsprießen.“ (In Ep. Joan. tract. 7,8). Soweit der heilige Kirchenvater.
Weil Gott gut ist und die Liebe eine Gleichgestaltung mit Gott bedeutet, so kann die Liebe nur auf das sittlich Gute ausgerichtet sein, wie auch Gott nur das Gute will. Und weil die Liebe, wie im Bilde des Vaters, will, daß auch der Geliebte, nämlich der Sohn, gut ist, erklärt es sich, daß die wahre Liebe u. U. strafen muß, um den Geliebten zu bessern. Die Liebe will immer das Beste für den anderen. Sie trägt stets ein wahres Wohlwollen in sich. Es mag also etwas hart und lieblos scheinen – und entstammt doch der Liebe. Hingegen gibt sich eine Handlung als besonders liebevoll, aus Verständnis und Wohlwollen hervorgehend, und ist doch Lieblosigkeit, weil Schmeichelei und Nachgiebigkeit im Widerspruch zur Gerechtigkeit und Wahrheit stehen.
Im Gegensatz zur „Liebe des Wohlwollens“ steht die „selbstsüchtige Liebe“, man könnte sie die „wölfische Liebe“ nennen. Denn wie der Wolf ist sie nicht wohlwollend auf das Wohlergehen, auf das sittliche Gut- und In-Ordnung-Sein des anderen aus, sondern nur auf die Sättigung der eigenen Begierde. In dem Bild des Wolfes demaskierte einst Sokrates in dem platonischen Dialog „Paidros“ die sich mit katzenhafter Liebenswürdigkeit anbiedernden Knabenschänder seiner Zeit, indem er die Warnung ausspricht: „Dies also mußt du bedenken, Kind, und die Freundschaft des Liebhabers durchschauen, daß sie nicht aus Wohlwollen entsteht, sondern gleich einer Speise um der Sättigung willen. Denn wie Wölfe das Lamm, so lieben Verliebte den Knaben.“ Freilich tritt die begehrende, wölfische Liebe nicht immer so offen zutage wie im Fall des klassisch-griechischen oder zeitgenössischen „Kinderfreundes“. Oft bedarf es eines genauen Hinhorchens, um den egoistischen Unterton eines katzenhaft schmeichelnden, verlockend süßen „Liebesliedes“ wahrzunehmen.
Die Liebe ist unvereinbar mit der Sünde! Wie wir sagten: Sünde kann niemals Liebe sein. Und nur deshalb kann Liebe keine Sünde sein! Damit verbunden ergibt sich dann auch die kämpferische Haltung der Liebe. Vieles, was vor der Welt lieblos aussieht, ist in Wahrheit Liebe. Etwa die elterliche Zurechtweisung und im Falle auch notwendige Züchtigung der Kinder. – Und andersherum: Was sich sehr liebevoll gibt, ist mitunter ein Verrat an der echten Liebe. – Nehmen wir uns also die Forderung des Völkerapostels zu Herzen: „Wandelt in der Liebe!“ (Eph. 5,2).
Die Seele aller Tugenden
Die Liebe besteht zuerst metaphysisch, also seinshaft, in der heiligmachenden Gnade, in der in unsere Herzen ausgegossenen Liebe Gottes im Heiligen Geist. In der heiligmachenden Gnade leben heißt: „In der Liebe leben“. Wer hingegen den Willen Gottes „um der Liebe willen“ links liegen läßt, der läßt in Wahrheit die Liebe selbst links liegen.
Auch wird klar, warum die Liebe selbst die erhabenen göttlichen Tugenden des Glaubens und der Hoffnung überragt. „Am größten aber von ihnen ist die Liebe.“ Wenn nämlich die göttliche Liebe vor allem und notwendigerweise mit dem geoffenbarten Willen Gottes, und das heißt mit ausnahmslos allen seinen Geboten, übereinstimmen muß, ohne daß dabei die göttliche Ordnung verletzt wird, dann wirkt sie in ausnahmslos alle Lebensbereiche hinein.
Wie der Leib von der Seele ganz durchdrungen und auf diese Weise belebt wird, so durchdringt und belebt die göttliche Liebe alle sittlich guten Handlungen. Die Liebe ist die Seele der Tugenden: Die Liebe überwindet das Murren und die Empfindlichkeit, denn „die Liebe ist geduldig“. Sie triumphiert gegen die Selbstsucht, denn „die Liebe ist gütig“. Sie ist nicht traurig über das Gut des Nächsten: „Die Liebe beneidet nicht“. Sie will nicht vor anderen glänzen, verachtet niemanden und verzeiht alles, denn die Liebe „handelt nicht prahlerisch, bläht sich nicht auf, sie ist nicht ehrgeizig, sie läßt sich nicht erbittern.“ Die Liebe hütet sich vor schnellem Urteil und vor bösen Unterstellungen, denn sie „denkt nichts Arges“. Die Liebe gibt jedem das Seine; d.h. sie leistet jedem gegenüber das, was dem anderen gerechterweise zusteht, und betrübt sich mit denen, die Unrecht oder Schaden leiden: „Sie freut sich nicht am Unrecht, sondern hat Freude an der Wahrheit.“ Ja, die Liebe steigert sich bis in den Heroismus: „Sie erträgt alles“, mag ihr auch noch so viel abverlangt werden. „Sie glaubt alles“, d.h. sie bringt ihren Verstand und ihre Erwartungen freudig der Autorität Gottes und Seiner Vorsehung zum Opfer. „Sie hofft alles“, selbst wider alle menschliche Hoffnung, allein auf Gott bauend. Ja, „sie duldet alles“, in vollkommener Hingabe an Gott bis zum Opfer des eigenen Lebens, aus Liebe zu Gott.
Nur vor diesem Hintergrund wird es möglich, das Doppelgebot unseres Glaubens einzuhalten. „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben, aus deinem ganzen Herzen, aus deiner ganzen Seele, aus deinem ganzen Gemüt und mit allen deinen Kräften; und den Nächsten wie dich selbst.“ – Unter der Voraussetzung, daß das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe eingehalten wird, gilt es dann wirklich und uneingeschränkt, was der hl. Augustinus sagt: „Liebe und tue, was du willst.“ Amen.