Passionssonntag
Das verhüllte Kreuz
Geliebte Gottes!
Mit dem verhüllten Kreuz fängt es immer an. Am heutigen Passionssonntag, der die Leidenszeit unseres Herrn einleitet, sind alle Kreuze mit einem violetten Tuch bedeckt. Diese tiefsinnige Zeremonie geht auf das feine Empfinden der frühen Christenheit zurück. Während der Leidenszeit verhüllte die Kirche damals schon die mit Gold und Edelsteinen geschmückten Altarkreuze. Die Pracht von Gold und Edelsteinen wollten nicht recht zum Leiden des Herrn passen, und so verbarg man sie zum Zeichen der Trauer unter dunklen Tüchern. – Später wollten einige Schriftausleger die Kreuzverhüllung mit dem Evangelium des heutigen Sonntags in Zusammenhang gesehen wissen: Jesus verbarg sich vor den Juden, die ihn steinigen wollten. Zum Andenken daran verhülle man in den Kirchen die Kreuze. – Auch diese Deutung hat etwas Sinnvolles. Sie weist weniger auf die Trauer der Kirche hin, sondern ist eher eine Mahnung und soll auf die Gefahr hinweisen, wie der Haß, den die Feinde Jesu im heutigen Evangelium an den Tag legen, gleichzeitig blind macht. Daß sich der Herr fleischlich gesinnten Menschen entzieht; sich vor den Stolzen und in ihren Sünden verhärteten Seelen verbirgt, weil sie nicht „aus Gott sind“ (Joh. 8, 47). – Ja, die Sünde generell und insbesondere der Haß gegen die erkannte Wahrheit machen blind. Durch Sein Sich-verbergen und Weggehen aus dem Tempel straft Jesus diejenigen, die Ihn nicht anerkennen wollen, die sich Seinem sanften Joch widersetzen. Er überläßt sie sich selbst.
Das verhüllte Kreuz
Damit scheint der Sinn des verhüllten Kreuzes am Passionssonntag eigentlich schon gut und hinreichend erklärt zu sein. Ein sorgenfreier Mensch wüßte wohl nicht, warum man noch weiter über das verhüllte Kreuz nachdenken sollte.
Doch wenn der Mensch dann irgendwann einmal im Laufe seines Lebens dem Kreuz begegnet – und früher oder später tritt das Kreuz in das Leben eines jeden Menschen ein; wenn der Mensch dem Kreuz begegnet, dann wird er zunächst feststellen: Es ist verhüllt. Viele Kranke und Leidende bestätigen das. Ihr Kreuz sei am Beginn verhüllt gewesen.
Am Anfang jeder Leidenszeit steht das verhüllte Kreuz – in der Liturgie wie im Leben des Einzelnen; und überall, wo das Kreuz verhüllt ist, steht man noch am Anfang. Das verhüllte Kreuz ist das unverstandene und mißverstandene Kreuz. – Man erkennt seinen Sinn und seinen Segen noch nicht. Das Kreuz ist in diesem Stadium ein Rätsel. Es erscheint als eine Plage, eine drückende Last, vielleicht auch eine Torheit und ein Ärgernis.
Wenn wir auf unser Leben blicken, ist uns da nicht auch das eigene Kreuz am Beginn unserer Passionswochen wie verhüllt erschienen? Wir konnten oder können es immer noch n nicht verstehen, daß da das Kreuz in unser Leben eintritt. Warum? Wie kann Gott das zulassen? Warum ausgerechnet dieses Kreuz? Sei es eine schwere und schmerzhafte Krankheit, der Verlust eines geliebten Menschen, der Verlust der Existenzgrundlage. Die drückende Last auf dem Herzen der Eltern, wenn sie die Schicksale ihrer Kinder miterleben. Oder auch das Kreuz, verursacht durch böswillige Menschen, die sich auf unredliche Weise Vorteile verschaffen, während ein guter Katholik, gerade weil er sich um Redlichkeit bemüht, im privaten wie im beruflichen Bereich auf der Strecke bleibt. Noch unzählige andere Kreuze ließen sich aufführen: das Scheitern einer Ehe; Arbeitslosigkeit; Überlastung in der Arbeit oder in der Erziehung; eine Depression; die Isolation und Vereinsamung, nicht nur bedingt durch die politischen Entscheidungen unserer Regierung, sondern auch die geistige Isolation, bedingt durch den großen Glaubensabfall, und, und, und. – Grübeln, Hadern, Verzagen und bisweilen sogar Verzweiflung kann einen Menschen in den ersten Momenten erfassen, wenn er fassungslos auf sein verhülltes Kreuz blickt. Da möchten wir weinen, wie der hl. Evangelist Johannes, als er in der Geheimen Offenbarung das mit sieben Siegeln verschlossene Buch sah. Aber niemand im Himmel und auf der Erde und unter der Erde vermochte das Buch zu öffnen und einzusehen. – Und mit der lauten Stimme des gewaltigen Engels aus der Apokalypse, wird uns und der ganze Welt zugerufen: „Wer ist würdig, das Buch zu öffnen und seine Siegel zu lösen?“ (Offb. 5, 2). Wer vermag der leidenden Menschheit das Kreuz zu enthüllen und ihm einen Sinn zu geben? – Die Antwort lautet: Einzig das Lamm Gottes vermag das, und Seine Braut, die heilige Kirche.
Kreuzenthüllung
In der katholischen Kirche wird das Kreuz am Karfreitag enthüllt. Der zelebrierende Priester begibt sich, angetan mit der Albe, schwarzem Manipel und schwarzer Stola auf die rechte Seite, vor die Stufen des Hauptaltares auf der Epistelseite. Er hält das verhüllte Kreuz den Anwesenden entgegen und das erste Band wird gelöst, welches das Tuch oben am Längsbalken zusammenhält. Ein dornengekröntes Haupt wird sichtbar. Der Priester singt in die lautlose Stille der Kapelle:„Ecce lignum crucis, in quo salus mundi pependit – Seht da, das Holz des Kreuzes, daran das Heil der Welt gehangen!“Der Priester steigt die Stufen an der Epistelseite empor und macht dabei ein paar Schritte gegen die Mitte des Altares. Nun werden die beiden Bänder an den Querbalken gelöst. Man sieht zwei durchbohrte Hände. Der Priester singt wiederum, diesmal mit höherer Stimme: „Ecce lignum crucis – Seht da das Holz des Kreuzes, daran das Heil der Welt gehangen!“ Nur noch lose hängt die Hülle über dem Kreuz. Mitten vor dem Altar wird schließlich das letzte Band unter dem Längsbalken des Kreuzes weggenommen. Der Schleier fällt vom Kreuz. Der Priester singt, noch ergreifender: „Ecce lignum crucis – Seht das Holz des Kreuzes, daran das Heil der Welt gehangen!“ Wenn das Kreuz ganz enthüllt ist, sieht ein jeder der anwesenden Gläubigen, daß Christus am Kreuz hängt, daß am Kreuz „Heil und Erlösung“ ist.
Es sollte uns am Karfreitag, wenn die Schleier von den Kreuzen fallen, eine tiefe Bestürzung erfassen. Denn das ist das Unfaßbare: Gottes Sohn hängt am Kreuz! Am Holz der Schade, des Schmerzes und der Qualen. Das jüdische Recht kannte die grausame Hinrichtung durch Kreuzigung nicht. Die Römer brachten sie nur bei den allerschlimmsten Verbrechen zur Anwendung. Keiner, der damals das römische Bürgerrecht besaß, durfte gekreuzigt werden. Das Ansehen des römischen Bürgerrechtes durfte mit einer solchen Schade nicht beschädigt werden. Mochte der Römer auch noch so abscheuliche Schandtaten verübt haben, die Kreuzigung mußte ihm erspart bleiben. – Unerhört und unfaßbar ist darum der Gesang: „Seht da, das Holz des Kreuzes, daran das HEIL der Welt gehangen!“ Noch die Schriften des Alten Testamentes hatten gedroht: „Verflucht sei, wer am Holze hängt!“ (Deut. 21, 23). – Christus und Kreuz und damit Kreuz und Heil der Welt, Kreuz und ewige Glückseligkeit, welch unglaublich empörende Vermählung! Welch bittere Offenbarung wird uns da gezeigt! – Gibt es jedoch nicht selbst in unserem eigenen Leben Kreuzenthüllungen, die zu ungeahnten Offenbarungen werden? Da galt uns lange, lange ein Kreuz nur als Schicksal und Verhängnis; es war verhüllt. – Nun fallen die Schleier. Das Kreuz wird – plötzlich und endlich! – in seinem Sinn, in Segen und Leben erkannt. Solche Kreuzenthüllungen sind feierliche Stunden in einem Menschenleben. Sie können nur geschehen, weil zuvor die Hülle vom Kreuz Christi gefallen ist.
Als der hl. Apostel Johannes im Schmerz weinte, weil niemand sich fand, der jenes siebenfach versiegelte Buch öffnen konnte, sagte einer der Ältesten zu ihm: „Weine nicht! Siehe, gesiegt hat der Löwe aus dem Stamme Juda, der Sproß Davids, um das Buch mit seinen sieben Siegeln zu öffnen. Und es kam das Lamm und nahm das Buch ... und ich hörte rufen: ‚Komm und sieh!‘“ (Offb. 5, 6).
Ja, „Komm und sieh!“ Auch wir dürfen nicht mehr weinen. Statt dessen sollen wir erkennen. „Komm und sieh!“ Seit dem Kreuzesopfer unseres Herrn ist das Kreuz enthüllt, ist der sühnende und erlösende Sinn des Kreuzes offengelegt. Die Kirche singt von heute an in der Präfation vom Heiligen Kreuz mit den tiefsinnigen Worten: „Dein Wille, ewiger Gott, war es, daß vom Holz des Kreuzes das Heil der Menschheit ausgehe. Von einem Baum kam der Tod, von einem Baume sollte das Leben erstehen. Der am Holze (des Paradiesesbaumes) siegte – der Satan –, sollte auch am Holze (des Kreuzesbaumes) besiegt werden.“ Durch unseren Herrn Jesus Christus kann auch unser Kreuz, dieses verhaßte Holz des Todes und der Qual, zu einem Holz des übernatürlichen Lebens und des Sieges über Sünde, Tod und Teufel gewandelt werden. Durch Ihn wird jedes Kreuz Gottes Kraft und Weisheit.
Vielleicht sind wir noch nicht so weit zur Einsicht unseres Kreuzes vorgedrungen. – Verzagen wir nicht! Das Kreuz wird ja nur nach und nach enthüllt: in der Liturgie des Karfreitags, wie an den Karfreitagen des Lebens. Oft sehen wir erst nach Jahren das Kreuz in seiner ganzen Enthüllung, in seinem vollen Segen, in seiner nie geahnten Bedeutung. Ja, der letzte Schleier wird erst in der Ewigkeit von unserem Kreuz genommen. – Selbst über dem Kreuz Christi lagert trotz der Enthüllung immer noch eine Lichtwolke des Geheimnisvollen.
Es genügt indes, wenn das Leid allmählich den unsinnigen, qualvollen Charakter verliert, wenn uns das Leid nicht mehr nur als blindes Schicksal, als Unglück oder gar als Unrecht gilt. Das ist die erste Kreuzenthüllung. Es folgt eine zweite, eine dritte. – Ja, manche selbstlose und von großer Gottesliebe erfüllte Seelen sind so weit gekommen, daß sie mit dem frommen Verfasser der „Nachfolge Christi“ aufrichtigen Herzens mitsprechen können: „Im Kreuz ist Heil. Im Kreuz ist Leben. Im Kreuz ist Schutz vor Feinden. Im Kreuz ist Stärke des Gemütes. Im Kreuz ist höchste Gunst. Im Kreuz ist vollendete Heilung zu finden. Es ist kein Heil der Seele, keine Hoffnung des ewigen Lebens außer im Kreuz“ (II. 12).
Kreuzverehrung
Im Bezug auf die Zeremonien der Kreuzenthüllung am Karfreitag ist noch etwas Wichtiges nachzutragen. – Auf den Ruf des Priesters: „Ecce lignum crucis – Seht da das Holz des Kreuzes, daran das Heil der Welt gehangen!“ antworten die Anwesenden: „Venite, adoremus – Kommt, lasset uns anbeten!“, und alle fallen auf die Knie nieder. – Unmittelbar auf die Kreuzenthüllung folgt die Kreuzverehrung. In ernster, schweigender Prozession zieht der Priester in einige Entfernung zum enthüllten Kreuz, das inzwischen vorne auf die Altarstufen gelegt wurde. Zum Zeichen scheuer, ehrfürchtiger Hochschätzung hat er, wie einst Moses am brennenden Dornbusch, die Schuhe ausgezogen. Fernab kniet er sich nieder, erhebt sich, tritt ein paar Schritte näher zum Kreuz hin, kniet abermals hin, wartet und dann wieder. Das geschieht dreimal so, wohl zum Sinnbild dafür, daß wir alle nur zögernd und langsam dem Kreuz entgegengehen können. Am Schluß dieser Zeremonie erfolgt aber das Entscheidende: Das Kreuz wird geküßt.
Man mag nichts Besonderes daran finden, daß man am Karfreitag das Kreuz küßt. Wenn wir jedoch darüber nachdenken, so gibt es von allen Kreuzen nur ein einziges, welches der Mensch küssen kann – jenes, an dem der Erlöser, das Heil der Welt, hängt. Und wo immer Menschen ein Kreuz „küssen“, das heißt es bejahen, es innerlich annehmen, ja es vielleicht sogar freudig umarmen sollen, so muß der göttliche Heiland daran hängen. – Es wurden viele vor und nach Christus gekreuzigt. Die Kirche besingt keines jener Kreuze. Denn das Heil findet sich nur an dem Kreuz, an dem er eine und einzige Erlöser der Welt hängt.
Es gibt heute unermeßlich viel Leid, Schmerz, Depression und Weh. Und wir müssen leider feststellen: Es ist zu einem großen Teil Leiden ohne übernatürliches Verdienst, unfruchtbarer Schmerz, unseliges Kreuz. – Warum? – Weil den Kreuzen der meisten Menschen Christus fehlt und ihrem Leid die christliche Auffassung. Es fehlt der Kuß der Annahme.
Freilich dürfen wir nicht vergessen, daß Krankheiten und Leiden aller Art an sich immer Übel bleiben, die der Mensch flieht, die er fürchtet, ja sogar haßt. Wer in seinem Leiden nicht den tiefen, den christlichen Sinn findet, dem muß sein Kreuz nur Unheil und Fluch bedeuten, trotz der schönen Theorien zur Leidensbewältigung, welche sich die Weisen der Welt und die modernen Psychologen zum Trost für kummervolle Menschen ausgedacht haben. – Nur einer ist imstande, uns mit dem Leiden zu versöhnen: Unser Erlöser Jesus Christus, der auch das Leiden selbst erlöst hat, indem Er uns gerade durch das Leiden erlöste. Seit Christus und durch Christus haben die Menschen die übernatürliche Kraft der Gnade, das Kreuz zu küssen. – Jene Unglücklichen aber, die zwar ein Kreuz, aber nicht Christus daran haben, sind tief zu bedauern. Wenn wir also wollen, daß sich unsere Lebenskreuze nach und nach vor uns enthüllen, dann muß Christus an unserem Kreuz sein! Wir müssen das Leidensbild und das Leidensvorbild Christi vor unseren Augen – und noch wichtiger – in unseren Seelen präsent halten. – Daher rührt der Brauch, in jedem Zimmer eines christlichen Haushaltes, insbesondere in einem Schlafzimmer, das ja dann zumeist auch Krankenzimmer sein wird, ein Kreuz aufzuhängen. Es wird den Kranken an das Kreuz des Heilandes erinnern, ihn trösten und ermuntern, das seine tapfer anzunehmen, es zu küssen. – Auch die Andachtsübungen, wie etwa der schmerzhafte Rosenkranz, die Kreuzwegandacht oder sonst eine Frömmigkeitsübung, welche die Passion unseres Herrn zum Gegenstand hat, sind Mittel dazu, das Leidensvorbild Jesu im Herzen lebendig zu machen und lebendig zu halten. – Trifft uns dann ein Kreuz, so hören wir sofort den Gekreuzigte rufen: „Im Kreuz ist Heil. Im Kreuz ist Leben. Im Kreuz ist höchste Gunst.“ Wenn wir den Gekreuzigten umfangen, indem wir uns Ihm ergeben, dann sind wir nicht mehr allein mit unserem Kreuz, sondern mit Christus sind wir an das Kreuz geheftet – und Christus ist an unser Kreuz geheftet. Dann wird auch an uns Wirklichkeit, was der hl. Paulus von sich sagt: „Ich bin mit Christus an das Kreuz geheftet“ (Gal. 2, 19). „Wohin wir auch kommen, immer tragen wir das Todesleiden Jesu an unserem Leibe, damit auch das Leben Jesu an unserem Leibe offenbar werde“ (2. Kor. 4, 10). „Nun freue ich mich in den Leiden, die ich für euch leide, und ergänze das an meinem Fleische, was an den Leiden Christi noch aussteht“ (Kol. 1, 24). Christus lebt und leidet mit und in uns, Seinen Gliedern. In dieser Auffassung wird unser Leid zum Heile werden. Es verähnlicht und vermählt uns mit dem gekreuzigten Menschensohn, damit wir nach dem Maß dieser Ähnlichkeit Kraft der göttlichen Gnade auch Anteil gewinnen an Seiner österlichen Herrlichkeit, an der ewigen Glorie des auferstandenen Gottessohnes.
Knien wir in diesen Tagen ganz bewußt vor dem Kreuz nieder und beten wir: „Gekreuzigter Heiland, König der Schmerzen! Gib, daß sich der innere Aufruhr über mein Kreuz lege, daß ich still werde vor Deinem Kreuz! Gewähre mir eine Ahnung davon, daß auch an meinem Kreuz, ewiges Heil reifen muß. Gib meiner schwachen, gebrechlichen Seele die Kraft Deiner Gnade, damit ich auch kreuzbeladen, Dir, dem Gekreuzigten, zu folgen vermöge – durch den Kuß Deiner Liebe.“ Amen.