24. (letzter) Sonntag nach Pfingsten
„Ich werde erkennen, wie auch ich erkannt bin.“ (1. Kor.13, 12)
Geliebte Gottes!
Der hl. Apostel Paulus schreibt in seinem Hebräerbrief: „Es ist dem Menschen gesetzt einmal zu sterben, und darauf folgt das Gericht“ (Heb. 9, 27). Der Tod ist das Sicherste in diesem Leben. Und wenn sich die Seele erst vom Leibe getrennt hat, so muß sie alles hinter sich lassen. Wir alle kennen das Sprichwort: „Das Totenhemd hat keine Taschen.“ Alles müssen wir zurücklassen. Nicht nur Geld und Besitz. Auch unsere Familie, unsere Freunde, unser Ansehen in den Augen der Welt, unseren Einfluß, unsere soziale Stellung. – Die Erben werden fragen: „Was läßt er zurück?“ Die Engel aber werden fragen: „Was nimmt er mit sich?“ Ja, auch das ist wahr: Die Seele geht nicht völlig entblößt in die Ewigkeit ein. Etwas aus diesem Leben begleitet sie hinüber. Aus der Geheimen Offenbarung wissen wir, um was es sich dabei handelt: „Selig die Toten, die im Herrn sterben. Von nun an, spricht der Geist, sollen sie ausruhen von ihren Mühen; denn ihre Werke folgen ihnen nach“ (Offb. 14, 13). Wir gehen nicht allein in die Ewigkeit ein. Die Werke des Menschen, d.h. die Gedanken, Worte, Taten und Unterlassungen seines gesamten Lebens folgen ihm nach. Alles, was sich in seinem Gewissen eingeschrieben findet. In unserem Gewissen bleiben alle Werke unseres Lebens lebendig; die verdienstlichen und – sofern sie vor dem Tod nicht durch das Bußsakrament ausgelöscht worden sind – auch die sündhaften Werke. Sie alle werden beurteilt – im Gericht. „Es ist dem Menschen gesetzt einmal zu sterben, und darauf folgt das Gericht“ (Heb. 9, 27).
Man unterscheidet ein zweifaches Gericht. Einmal gibt es das persönliche Gericht unmittelbar nach unserem Tod und zum andern das große Weltgericht am Jüngsten Tag. Das persönliche Gericht wird gehalten, weil jeder von uns eine Einzelperson ist. Deshalb ist jeder Einzelne für sich persönlich vor Gott verantwortlich. – Das Weltgericht wird abgehalten, weil wir als Menschen nicht nur ein Leben als Einzelperson führen, sondern weil unser Leben eng mit einer sozialen Ordnung verflochten ist. Weil wir zusammen mit vielen, vielen anderen Menschen, entweder als Glieder am mystischen Leib Christi in Treue gegenüber den Geboten Gottes unsere Erlösung gewirkt, oder aber zusammen mit anderen unser ewiges Ziel verfehlt haben. Jeder Mensch übt Einfluß auf andere aus, im Guten wie im Schlechten. Andere haben auf seine Veranlassung hin; aufgrund seines Ratens, aufgrund seines Lobes, Tadels oder Schweigens tugendhaft gehandelt, oder gesündigt. Deshalb gebührt ihm auch hierfür Lohn oder Strafe. Der Einfluß eines Menschen wirkt bei den meisten über ihren Tod hinaus fort. Am Ende seines Lebens kann also noch kein gerechtes Urteil gefällt werden, weil die Kausalitätskette der Werke eines Verstorbenen noch nicht zum Abschluß gekommen ist. Der hl. Apostel Paulus hat beispielsweise weit über seinen Tod hinaus durch seine Briefe auf sehr, sehr viele Menschen einen segensreichen Einfluß ausgeübt und wird dies bis ans Ende der Welt weiterhin tun. Als Gegenbeispiel können wir Martin Luther nennen, dessen Werke bis auf den heutigen Zeitpunkt das Leben vieler Menschen auf unselige Weise beeinflußt hat. Erst am Ende der Welt, wenn alles Werden zum erliegen kommt, kann der volle Lohn und die volle Strafe der der Einfluß eines jeden Menschen verdient, ermessen werden. Das wird beim Weltgericht geschehen.
Das persönliche Gericht
Wir wollen heute jedoch nur genauer auf das persönliche Gericht blicken. Was versteht man darunter? Was wird dabei geschehen? Das persönliche Gericht ist die absolut gerechte und unbestechliche Bewertung dessen, was wir als Person wirklich sind bzw. zu was wir in unserem irdischen Leben geworden sind. – Solange wir in diesem Leben stehen, werden wir ganz unterschiedlich bewertet. Es bestehen sozusagen mehrere verschiedene Bilder von unserer Person. Einmal das Bild, das sich andere von uns gemacht haben. Das ist das Bild der Person, für die uns andere Menschen halten. – Sodann besteht da noch ein zweites Bild. Nämlich jenes, das wir selbst von uns haben. Das Bild jener Person, für die wir selbst uns halten. – Und dann gibt es noch als Drittes die Person, die wir in Wirklichkeit sind.
Der Maßstab des Richtspruches
Während dieses Lebens ist es sehr einfach zu glauben, wir seien tatsächlich genau so, wie uns die anderen Menschen beurteilen. Viele Menschen identifizieren mit dem Urteil der anderen, mit dem, was andere über sie denken. Sie identifizieren sich mit dem Lob, das sie erhalten, mit dem Ansehen das sie vor anderen genießen, mit dem Respekt, den man ihnen entgegenbringt. Sie meinen die Hochachtung und Wertschätzung die sie erfahren sei vollauf gerechtfertigt. Aber ist das wirklich so? Viele Menschen vergessen dabei, daß der eigentliche Maßstab zur Beurteilung des sittlichen Wertes unserer Person nicht in der Meinung der anderen zu finden ist, sondern allein im unbestechlichen Licht der göttlichen Gebote.
Wir täuschen uns auch leicht in unserer Selbstwahrnehmung. Wir meinen, wir seien gut, weil es vermeintlich schlechtere Menschen als uns gibt. Menschen, die Fehler und Schwächen haben, welche wir nicht zu haben glauben. Wir stellen unserer Tugendhaftigkeit anhand eines Vergleichs mit den Lastern der anderen heraus; Laster, vor denen wir uns mißbilligend, ja, vielleicht sogar angeekelt abwenden. Doch auch nicht das eigene Urteil das wir uns aus dem Vergleich mit den anderen, vermeintlich schlechteren Menschen bilden, ist der entscheidende Maßstab für die Bewertung unseres Lebens. Auch dieses Urteil stellt einen Trugschluß dar. Erstens, weil wir den anderen Menschen ohnehin nie zur Gänze wahrnehmen, sondern stets nur eines kleinen, unrepräsentativen Ausschnitts seiner gesamten Persönlichkeit gewahr werden. Und zweitens, weil wir auf andere Menschen oft wie durch eine schmutzige Brille blicken. Unsere Vorurteile die Emotionen von Sympathie und Antipathie verzerren und fälschen dabei allzuleicht unser Urteil über die vermeintliche Güte oder Schlechtigkeit des Nächsten. Anhand dieses Vergleichs auf die eigene Rechtschaffenheit zurückzuschließen ist trügerisch. Es ist wieder der hl. Paulus der es auf den Punkt bringt, wenn er sagt: „Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk“ (1. Kor. 13, 12). Ja, Stückwerk und Flickwerk ist unser Erkennen und Urteilen. Aber mit der Feststellung unserer unzureichenden Erkenntnis- und Urteilskraft, benennt der Völkerapostel in einem Atemzug das Wesen des persönlichen Gerichtes: „Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich erkennen, so wie auch ich erkannt bin“ (1. Kor. 13, 12).
Im Augenblick des Todes wird uns enthüllt, was wir in den Augen Gottes sind. Wir werden erkennen, wie wir von Gott erkannt sind. Das Gericht wird also wesentlich in einem einfachen Erkenntnisakt bestehen. Nicht wofür uns andere gehalten haben oder wofür wir selbst uns halten, sondern was wir sind, aufgrund der sittlichen Entscheidungen, die wir im Verlauf unseres Lebens getroffen haben. Wurden sie dem Gebot Gottes entsprechend gefällt, oder nicht?
In diesem Leben sind wir alle gleichsam auf der Autobahn unterwegs. Jeder von uns fährt darauf mit irgend einem Gefährt, das unsere unterschiedlichen Begabungen und Fähigkeiten wiederspiegelt. Manche fahren Mercedes, BMW oder Porsche. Die meisten einen durchschnittlichen Wagen der Mittelklasse. Wieder andere einen klapprigen alten Citroën. Der eine fährt einen LKW, ein anderer einen Traktor oder einen Krankenwagen. – Das persönliche Gericht kann man nun mit einer Polizeikontrolle vergleichen. Wenn wir nämlich von Gott angehalten werden, dann wir er nicht fragen: „WelchesAuto fahren sie?“ Gott achtet nicht auf das Ansehen der Person. Er wird statt dessen fragen: „Wie bist du gefahren? Hast du dich mit deinem Gefährt an die geltenden Gesetze gehalten? Hast du die Regeln der Verkehrsordnung befolgt?“ Mit dem Tod lassen wir unsere Fahrzeuge zurück. Unsere Kräfte und unsere Intelligenz, unsere Möglichkeiten, Begabungen und Talente, unsere Schönheit und unsere soziale Stellung. Das lassen wir hinter uns. Und Gott wird alle gleich beurteilen. Er wird uns nicht danach beurteilen, wie beliebt oder verhaßt wir waren, sondern wie wir gelebt haben; welche Entscheidungen wir getroffen haben; welche Dinge wir geliebt haben. Glauben wir nicht, daß wir vor dem Richterstuhl Gottes diskutieren können, daß wir uns herausreden könnten, wie vor einem menschlichen Gerichtshof. Wir können nach ergangenen Urteil auch nicht ein Berufungsverfahren anstreben. Statt dessen werden wir ein einziges Mal und gleichzeitig ein für allemal gerichtet. Und wir selbst werden im Angesicht Gottes der Richter sein. Wir werden uns unser Urteil selbst sprechen. Wir uns selbst anklagen und verurteilen durch die Zeugenaussagen unseres eigenen Gewissens. Gott wird lediglich unser Urteil bestätigen und rechtskräftig machen. „Dann werde ich erkennen, so wie auch ich erkannt bin“ (1. Kor. 13, 12)
Das Gericht aus der Perspektive Gottes
Zur Verdeutlichung des eben Gesagten muß man bei diesem Gericht zwei Standpunkte unterscheiden. Einmal den Blickpunkt Gottes. Zum andern den unseren. Zuerst der Standpunkt Gottes: Das Gericht besteht aus der Sicht Gottes aus einem einfachen Erkenntnisakt. Stellen wir uns zwei abgeschiedene Seelen vor. Die eine ist im Stande der Gnade gestorben, die andere im Stand der Todsünde. – Erinnern wir uns nun daran, daß die heiligmachende Gnade demjenigen, der sie besitzt, einen Anteil an der göttlichen Natur schenkt. Durch die heiligmachende Gnade ähneln wir Gott so, wie ein Kind seinen Eltern ähnlich sieht. Gott blickt also beim Gericht auf die Seele im Gnadenstand. Er erkennt die Ähnlichkeit zu Seiner göttlichen Natur. Er erkennt die „Kinder Gottes“ durch deren Ähnlichkeit, die sie zu Seiner Heiligkeit haben. Er erkennt sie als Seine Kinder. Wenn wir „aus Gott geboren sind“ (Joh. 1, 13), so zählen wir zu Seiner Familie. Und Christus wird sagen: „Komm, du Gesegneter meines Vaters. Ich habe euch zu beten gelehrt ‚Vater unser‘. Ich bin der wesensgleiche Sohn Gottes. Du bist der angenommene Adoptivsohn Gottes. Geh ein in das Reich, das ich bereitet habe, noch vor Grundlegung der Welt.“ – Die Seele des Todsünders läßt die Ähnlichkeit mit der Heiligkeit des dreifaltigen Gottes vermissen. Wie eine Mutter erkennt, daß der Nachbarsjunge nicht ihr eigenes Kind ist, weil weder Blutbande noch eine zivilrechtliche Familienbindung durch Adoption besteht, so erkennt der göttliche Richter die Seele des Sünders, als nicht zu Ihm gehörig. Aus dieser einfachen Erkenntnis heraus spricht Er die schrecklichen Worte: „Ich kenne dich nicht“ (vgl. Lk. 13, 27). Und es ist ein furchtbarer Zustand, nicht von Gott gekannt zu sein. – Das ist das Gericht aus der Warte Gottes betrachtet.
Das Gericht aus der Perspektive des Menschen
Schauen wir schließlich noch auf das Gericht von unserer Perspektive, vom Standpunkt des Menschen aus. Auch hierin besteht das Gericht in einem Erkenntnisakt und zwar unter dem Gesichtspunkt der Tauglichkeit oder Untauglichkeit. „Dann werde ich erkennen, so wie auch ich erkannt bin“ (1. Kor. 13, 12).
Stellen wir uns vor ein sehr hochrangiger Gast hat sich für einen Besuch bei uns zu Haus angekündigt. Aufgrund seines Ranges kann er es sich leisten zu kommen wann er will. Es klingelt. Doch gerade in diesem Augenblick sind wir indisponiert. Wir befinden uns gerade noch in Arbeitskleidung. Wir sind verschwitzt. Unsere Hände und unser Gesicht sind schmutzig. Wir erkennten, daß wir gerade nicht in der Verfassung sind, diesen hohen Gast zu empfangen. Und deshalb müssen wir darauf verzichten. Wir machen nicht auf. So verpassen wir die einmalige Gelegenheit der Begegnung mit diesem hohen Gast. – Eine mit Sünden befleckte Seele befindet sich in einer ähnlichen Verfassung, wenn sie in diesem Zustand vor Gottes Richterstuhl gerufen wird. Auf der einen Seite steht die gewaltige Größe, die erhabene Majestät und strahlende Heiligkeit Gottes und unsere Armseligkeit auf der anderen. Die Seele erkennt ihre Sündhaftigkeit, ihre Unwürdigkeit, ihre Untauglichkeit für die Gesellschaft Gottes. Auch hier gibt es keine Diskussionen, kein Anklage und Verteidigungsrede. Ein Blick genügt und alles ist klar. Gottes Gegenwart ist für die Seele des Sünder unerträglich beschämend. Er flieht sie, so „pein“-lich ist sie ihm – im wahrsten Sinne des Wortes. Eine Seele, die nur mit läßlichen Sünden behaftet ist, wird sagen: „Gib mir Zeit, um mich zurecht zu machen und mich zu reinigen.“ Und sie begibt sich freiwillig in das Fegfeuer, das Purgatorium, um im Schmelzofen der jenseitigen Feuerflammen die Schlacken auch des geringsten Makels auszuscheiden. „Er selbst wird selig werden,“ sagt der hl. Paulus, „aber es wird sein wie durch Feuer“ (1. Kor. 3, 15). – Die Seele eines Todsünders, der seine Sünde bis zum Tode nicht bereut hat, will hingegen erklärtermaßen in diesem unerträglich peinlichen Zustand weiter verharren. Auch diese Seele erkennt ihren entarteten Zustand und doch besteht sie trotzig darauf, „zu bleiben wie sie ist“. Weil der Todsünder aber im Lichte Gottes den schreienden und beschämenden Widerspruch seiner selbst zu dessen makelloser Heiligkeit nicht aushalten kann, so flüchtet er sich in die entlegenste Finsternis. Er stürzt sich freiwillig in die ewigen Verdammnis der Gottferne, wo er in den Qual des Höllenfeuers begraben wird. – Die Seele schließlich, die von der heiligmachenden Gnade ganz erfüllt und völlig frei von allen zeitlichen Strafen ist, gleicht einem Vogel, der aus seinem Käfig befreit wird und von der Sonne der göttlichen Liebe angezogen, immer höher und höher aufzusteigen zu Ihm, der im Himmel inmitten Seiner Engel und Heiligen thront.
Drei Zustände folgen auf die einfache Erkenntnis, wie wir von Gott erkannt worden sind; auf jene Erkenntnis, die gleichzeitig den allesentscheidenden Urteilsspruch bildet. Da ist der Zustand der Hölle. Das ist Schmerz ohne Liebe. – Dann das Fegfeuer. Das ist Schmerz mit Liebe. – Und schließlich der Himmel: Das ist Liebe ohne Schmerz.
Wir selber arbeiten täglich durch unser Denken, Reden und Tun an unserem Urteilsspruch. Gott wird die Endfassung am Tag unseres Todes lediglich bestätigen und vollstrecken. Die Lebendigkeit unseres Glauben spielt bei seiner Abfassung eine ganz maßgebliche Rolle. Je nachdem, ob wir täglich unser Leben aus dem Glauben heraus gestalten oder nicht, wird es günstig oder ungünstig ausfallen. So sagt es der Herr: „Wer an Ihn (Gott) glaubt, wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet, weil er nicht an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes glaubt“ (Joh. 3, 18). Wir müssen uns also fragen: Ist mein Glaube so stark und so lebendig, daß er mein ganzes Leben bestimmt? Übt der Glaube an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes und als Beweis dafür die gehorsame und treue Befolgung Seines Gesetzes, eine alle Bereiche durchdringende Prägekraft auf mein Leben aus oder nicht? Von der Lebendigkeit und Kraft dieses Glaubens hängt die Ewigkeit jedes einzelnen von uns ab. Denn, wie wir schon am letzte Sonntag sagten, es gilt eine Naturgesetz für die Seele des Menschen. Es lautet: „Wie man glaubt, so lebt man. – Wie man lebt, so stirbt man. – Und wie man stirbt, so bleibt man – in Ewigkeit.“ Amen.