Ein Tadel für die Frommen?

Geliebte Gottes!

Einer der alten Wüstenväter Ägyptens, der sich durch eifriges Gebet und härteste Bußübungen auszeichnete, war in der so hinlänglich bekannten Versuchung, sich selbst für den vollkommensten aller Menschen zu halten. Alle anderen, an die er sich erinnern konnte, hatten niemals solches geleistet wie er selbst. Die meisten zeigten sich ihm, dem entrückten Beter, dem gewaltigen Asketen vor Gott und den Menschen, ohnehin als ganz hoffnungslose Sünder. Gar nicht zu denken, daß einer von den vielen Menschen, die sich da in den großen Städten herumtreiben, vor dem Gericht Gottes werden bestehen können. Weil aber der Wüstenvater das alles als eine Versuchung durchschaute, deshalb bat er Gott inständig, ihm doch zu zeigen, was ihm noch fehle, um vollkommen zu sein. Ja, ob es da wohl überhaupt etwas geben könne, was ihm noch fehle? Und da wurde sein Gebet tatsächlich auf eine, für ihn erschütternde Weise erhört. Er fühlte sich im Geiste an einen anderen Ort versetzt; nämlich in eine große, belebte Stadt. Die Menschen liefen dort ziellos wie die Ameisen ihren Interessen und Vergnügungen nach. Und ausgerechnet vor einer ganz schäbigen Kaschemme, die kein anständiger Mensch je betreten würde, da fand er sich ausgesetzt. Die Tür dieses Etablissements öffnete sich, und es kam eine offensichtlich angetrunkene, zerlumpte und heruntergekommene Gestalt heraus gewankt. Sie stolperte und landete im Straßengraben, im Dreck der Gosse. Aber die Lippen dieses Armseligen murmelten vor sich hin: „Jesus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner! Jesus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner!“ Und da durchbebte die Stimme Gottes die Seele des entrückten Eremiten, des großen Asketen mit den Worten: „Das, du armer Mensch! Das ist es, was dir noch fehlt! Und solange du das nicht hast, bist du der wahren Vollkommenheit noch nicht einmal im Ansatz nahe gekommen!“

Sind die Frommen alles Heuchler?

Ja, ist es nicht genau dies, was uns auch im heutigen Evangelium vom Pharisäer und vom Zöllner im Tempel gesagt werden soll? Dieses Evangelium, das allzu gerne in einer tendenziösen Weise benutzt wird. Etwa in dem Sinne: Ja, ja die Super-Frommen, die ständig in die Kirche rennen, die ihre Rosenkränze herunterrasseln, ihre vielen Gebetchen und Litaneien abbeten und auffällige, gute Werke anhäufen; die sollen sich einmal schön gesagt sein lassen, was ihnen das alles nützt – nämlich: überhaupt nichts! Triumphierend fügen sie hinzu: Jesus macht ja überhaupt keinen Hehl daraus, daß der Zöllner – dieser elende Sünder, der von allen religiösen Menschen der damaligen Zeit gemieden wurde – daß dieser in Wirklichkeit der Gerechtfertigte ist. Der fromme Pharisäer aber geht ohne die Gnade Gottes von dannen. Das ist die eine, relativ tendenziöse Auslegung, die sich nicht nur in den Grenzen der konziliaren Bergoglio-Kirche derzeit wohl größter Popularität erfreuen dürfte: Jesus rechtfertigt die Sünder, und die Frommen, das sind alles Heuchler. Eine andere sei sofort noch nachgeschoben. Nämlich die, daß man die heutige Perikope gerne für die protestantische Lehre des „sola gratia“ anführt, die besagt, daß der Mensch allein durch die Gnadenwahl Gottes und nicht durch die Werke des Gesetzes, nicht durch die Befolgung der Gebote, nicht durch das Gute, das er tut, gerecht wird vor Gott. Genau das scheint ja die Pointe der Worte unseres Herrn zu sein, wenn Er spricht: „Dieser“ – nämlich der Zöllner, dieser Ausbeuter seines Volkes – „ging gerechtfertigt nach Hause, jener aber“ – und zwar der eifrige, der fromme, der ständig gute Werke vollbringende Pharisäer – „nicht“. Aus solchen Deutungen unseres Gleichnisses ist eine gewisse Häme herauszuhören; eine heimliche Freude daran, daß dieses ganze „fromme Getue“, wie man sagt, am Ende dann doch gar nichts wert sei, weil Gott ja „Barmherzigkeit will und nicht Opfer“ – nicht wahr? Denen hat es Jesus aber gegeben; den Pharisäern, den Frommen!

Das Gebet des Pharisäers

Wie verhält es sich in Wirklichkeit? Zunächst ist darauf zu achten, an wessen Adresse dieses Gleichnis zuerst gerichtet ist. Spricht unser Herr hier vor Zöllnern und Sündern, um bei diesen einmal so richtig Stimmung gegen die Pharisäer, gegen die Frommen zu machen? – Oder hält Er Seine Rede vielleicht vor den Sadduzäern, d.h. vor den religiös Aufgeklärten, den liberalen Rationalisten, den Modernisten der damaligen Zeit, die ohnehin auf die frommen Pharisäer nicht gut zu sprechen waren; alles viel lockerer als diese nahmen; über sie spotteten; ja, jeden religiösen Eifer als anstößig empfanden? Weder noch. Die Adressaten werden im Evangelium ganz eindeutig genannt. „In jener Zeit trug Jesus einigen, die sich selbst für gerecht hielten, und die übrigen verachteten dieses Gleichnis vor.“ Es ist also klar gesagt, wem die Worte gelten. Nämlich jenen, die ob ihrer Frömmigkeit in der Gefahr stehen, sich selbst zu erheben. Hingegen gelten diese Worte nicht jenen, die sich gerne in ihrer religiösen Lauheit rechtfertigen möchten und die daher beständig auf der Suche sind nach Munition gegen diejenigen, die ihnen in Wirklichkeit ein schlechtes Gewissen bereiten. Daß der Herr tatsächlich das Pharisäertum seiner Zeit anredet, das wird deutlich, wenn man ein Pharisäergebet aus dem ersten Jahrhundert nach Christus hinzuzieht, welches im Talmud überliefert ist. Und dieses Gebet weist wirklich eine gewisse Ähnlichkeit mit den Worten des Pharisäers im Tempel auf. Es lautet: „Ich danke Dir, mein Herr, mein Gott, daß du mir einen Anteil gabst bei denen, die im Lebenshause, und nicht bei denen, die an den Straßenecken sitzen. Denn ich mache mich früh auf zu den Worten des Gesetzes. Und sie machen sich auf zu eitlen Dingen. Ich mühe mich, sie mühen sich auch. Ich mühe mich und empfange Lohn. Sie mühen sich und empfangen keinen Lohn. Ich laufe und sie laufen auch. Ich laufe zum Leben der zukünftigen Welt. Und sie laufen zur Grube der Verdammnis.“

Wenn man diese Worte mit dem Gebet des Pharisäers im Tempel vergleicht, so fallen vielfältige Parallelen auf. – In beiden Fällen – das sollten wir nicht übersehen – handelt es sich um ein Dankgebet. Der Pharisäer schreibt also sein Fromm-und-Gutsein gar nicht sich selbst, sondern der göttlichen Vorsehung zu. In diesen Gebeten wird keine einzige Bitte vorgetragen, sondern nur Dank. Übrigens geht aus den Worten des Pharisäers deutlich hervor, daß dieser Beter im Tempel tatsächlich einer ist, der viel tut! Viel mehr, als ihm eigentlich vom mosaischen Gesetz vorgeschrieben wäre. Anstelle eines einmaligen Fasttages pro Jahr – zur Sühne für die Sünden des Volkes - fastet er zweimal wöchentlich. Und das bedeutete bei den Juden wohlgemerkt: von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang nichts essen und nichts trinken. Man denke hierbei an die große Hitze im Heiligen Land und auch an die naßkalten Winter Palästinas. Außerdem sagt der Pharisäer, daß er den Zehnt von allem gibt, obwohl diese Abgabe nach damaliger Praxis schon vom Produzenten geleistet war und daher eigentlich gar nicht mehr nötig war. Der Pharisäer nimmt also bewußt große, wirtschaftliche Einbußen auf sich – zur Ehre Gottes. Ja, das sind schon ganz erhebliche, bewundernswerte und weit überdurchschnittliche Leistungen. Man kann von einer „Hochleistungs-Frömmigkeit“ sprechen. Und dafür dankt er also Gott. – Ja, was soll nun daran falsch sein? Dürfen wir dem Herrn denn nicht danken, wenn er uns vor vielen Irrwegen bewahrt hat? Dürfen wir uns denn nicht glücklich schätzen, wenn er uns einen religiösen Eifer ins Herz gelegt hat? Das schon. Aber! Und das ist das Bezeichnende: Der eigene Eifer wird sowohl beim Gebet des Pharisäers im Tempel als auch bei dem talmudischen Gebet im Vergleich (!) zu anderen beschrieben! Also gegenüber denjenigen, die dies alles nicht tun, welche diese überdurchschnittlichen, spirituellen Höchstleistungen nicht erbringen.

Berechtigte Dankbarkeit?

Nun darf man sich gewiß fragen, ob nicht auch eine solche Dankbarkeit nicht irgendwie berechtigt ist. Denn bei diesem Zöllner dort hinten im Tempel handelt es sich ja tatsächlich um einen unsäglichen Ausbeuter. Er hatte sich in den Dienst der römischen Besatzungsmacht gestellt und konnte nun das eigene Volk gnadenlos aussaugen. Und das haben die Zöllner auch getan. In der damaligen öffentlichen Meinung standen die Zöllner auf der gleichen Stufe wie Räuber. Sie besaßen keine bürgerlichen Ehrenrechte unter den Juden, ja, man hielt es, wie es aus vielfältigen Äußerungen jener Zeit hervorgeht, für unmöglich, daß ein Zöllner jemals das göttliche Erbarmen empfangen könnte. Er hatte ja so unzählig viele Menschen betrogen! Um das wiedergutzumachen, schrieb das jüdische Gesetz vor, 120%-igen Ersatz zu leisten. Welch unbezahlbare Summen, sind da wohl im Laufe eines Zöllnerlebens zustande gekommen? Und überhaupt! Wen hatte der Zöllner in seinem Leben nicht schon alles betrogen? Die vielen Menschen ließen sich doch überhaupt gar nicht mehr ausfindig machen, um ihnen den Schaden zu ersetzen, selbst wenn er es könnte!

Folglich steht ein solcher Zöllner von Hause aus in einer hoffnungslosen Lage vor Gott und auch vor seinem eigenen Volk. Im Grunde ist es ja eigentlich schon ein dreistes Stück, daß er es überhaupt wagt, sich in den Tempel hinten hineinzuschleichen, um dort zu beten. Warum sollte da der Pharisäer nicht danken, daß er – wie er es eigens sagt – durch Gottes Gnade, in einer besseren Situation ist? „Ich danke dir, o Gott, daß ich nicht bin, wie die andern und wie dieser Zöllner dort.“

Religiöse Bodenhaftung

Wenn wir jedoch genau hinschauen, so müssen wir doch feststellen, daß es sich bei den Worten des Pharisäers nicht um ein echtes Gebet handelt. – Wir lesen im Evangelium von ihm „Er stellte sich hin.“ Man könnte vielleicht etwas gewagt übersetzen: „Er pflanzte sich auf.“ Und dann heißt es auch: „Er betete bei sich.“ Offensichtlich will unser Herr mit dieser Beschreibung auf eine tiefliegende Unwahrhaftigkeit hinweisen, eine Selbstgerechtigkeit, die nicht mehr um die eigene Bedürftigkeit weiß. Eine Frömmigkeit, die den Menschen zu emotionalen Höhenflügen führt, dabei dann aber die nötige Bodenhaftung verliert.

Das Wort Boden heißt im Lateinischen „humus“. Die religiöse Bodenhaftung ist die „humilitas“, zu deutsch – Demut. Die Demut ist jene Tugend, durch die der Mensch in unbestechlicher Selbsterkenntnis klein wird in seinen eigenen Augen. Demütig sein heißt, sich selbst so erkennen und so erkannt sein wollen, wie es die Wirklichkeit verlangt, also nicht klüger, nicht vornehmer, nicht einflußreicher, nicht gebildeter, nicht besser scheinen wollen, als man selbst tatsächlich ist. Sich selbst gleichsam mit den unbestechlichen und wahrhaftigen Augen Gottes sehen und beurteilen. Das ist Demut.

Wie anders ist deshalb das Gebet eines wirklich frommen Menschen, der vor Gottes Angesicht und nicht „bei sich selbst“ spricht. Ja, man muß gar kein übergroßer Sünder sein, um zu erkennen, wie wenig man ein Recht hat, sich über irgendeinen andern zu erheben oder sich im Vergleich zu messen. – Weiß ich denn, was dieser Mensch für eine Lebensgeschichte hinter sich hat? Welche Einflüsse da im Spiel waren? Und weiß ich denn, was er mit den Gnaden angefangen hätte, die ich empfangen habe; die ich vielleicht nutzlos empfangen habe; die ich vielleicht selbst heute noch verschwende?

Der hl. Pfarrer von Ars beklagte immer wieder, er sei der ärmste Sünder. Und es war ihm ernst damit. Er sah natürlich die Wunderwerke, die durch ihn geschahen und doch beweinte er die vielen vergeudeten Gnaden, die ein anderer gewiß besser genutzt hätte. Der hl. Philipp Neri pflegte morgens zu beten: „Mein Herr und Gott, am heutigen Tage bewahre mich vor Philipp. Denn wenn Du mich nicht vor ihm bewahrst, dann wird er heute lügen, stehlen und Unzucht treiben und auch noch zum Islam übertreten.“ So war der hl. Philipp Neri von seiner eigenen Schwäche überzeugt.

Auf dieser Linie liegt dann auch eher das Gebet des Zöllners. Es ist in der Tat ein echtes Gebet; in Zerknirschung, in Reue und Demut zur Erde geworfen. Was er spricht, ist angelehnt an den 50. Psalm, den großen Bußpsalm Davids, wo es heißt, daß ein zerknirschtes, ein zerschlagenes Herz vor Gott ein wohlgefälliges Opfer ist. Und nur aufgrund seiner reuigen Zerknirschung empfängt er die Rechtfertigung!

Wer sich selbst erniedrigt

Als der Herr dieses Gleichnis vortrug, da war wahrscheinlich unter den Pharisäern, die ihm zuhörten, keiner so fromm wie der Pharisäer im Gleichnis. Und doch geht nicht einmal dieser gerechtfertigt fort. Wahrscheinlich war keiner der Zuhörer so schlimm wie der Zöllner, der sich da in den Tempel hineingewagt hatte. Aber dennoch geht dieser gerechtfertigt von dannen. Hier liegt das große Paradoxon! In keiner Weise wird jedoch durch die Worte des Herrn nahegelegt, man solle die guten Werke unterlassen, man solle keinen Eifer an den Tag legen, man solle nicht mehr tun, als unbedingt vorgeschrieben ist. Davon ist überhaupt nicht die Rede. Es geht nur darum, daß der Mensch sich vor Gott als das erkennt, was er wirklich ist.

Und auch wir, liebe Gläubige, je mehr wir uns um Gottverbundenheit und Eifer in seinem heiligen Dienst bemühen, sind in einer gewissen Gefahr der Selbstüberhebung. Dagegen bedarf es der Demut. Demut ist nach dem hl. Bernhard v. Clairvaux die wahrhaftigste Selbsterkenntnis des Menschen vor Gott, aufgrund derer er sich geringschätzt. Die wahrhaftigste Selbsterkenntnis des Menschen vor Gott! Also das Wissen und die feste Überzeugung – aus mir bin ich gar nichts. Alles Gute kommt von Ihm. Aus mir heraus bin ich zu allem Schlimmen fähig. Aus Gottes Gnade heraus aber auch zu allem Guten. Am Ende der heutigen Perikope steht das berühmte Wort: „Wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden. Wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.“ Wer sich selbst erhöht; wer sich also selbst vor Gott groß erachtet indem er auf andere herabsieht, der wird erniedrigt werden. Der Herr wird es ihm schon zeigen, wer er in Wahrheit ist. Er wird ihm seine eigene Anmaßung vorführen, wird ihn spüren lassen, was es heißt: „Gott wiedersteht den Hoffärtigen, den Demütigen aber schenkt Er Seine Gnade.“ Wer sich aber selbst erniedrigt; d.h. wer in schlichter Dankbarkeit und mit einer gesunden und heilsamen Furcht vor sich selbst im Bewußtsein seiner eigenen Hinfälligkeit und Sündhaftigkeit vor Gott und vor die Menschen hintritt, der wird erhöht werden. Das führt uns gerade ja auch das schönste Vorbild unter den Menschen vor Augen, nämlich die allerseligste Jungfrau und Gottesmutter. Maria, die trotz ihrer wirklich alles überragenden Heiligkeit doch nur sprechen wollte und sprechen konnte: „Er hat herabgesehen auf die Niedrigkeit Seiner Magd. Siehe von nun an werden mich seligpreisen alle Geschlechter. Denn Großes hat an mir getan der Mächtige und heilig ist sein Name.“ Das ist ein großes Lob. Aber es ist wahr! Und weil es wahr ist, handelt es sich dabei um kein überhebliches Selbstlob.

So führt uns das Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner im Tempel wieder die wahre Demut vor Augen. Sie besteht letztendlich darin, daß wir aus ganzem Herzen sprechen können: „Heilig ist Sein Name!“ „Herr, nicht uns, nicht uns, sondern Deinem heiligen Namen gib die Ehre!“ (Ps. 113, 9). In Ewigkeit. Amen.

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