Die Werke der Barmherzigkeit an den Armen Seelen

Geliebte Gottes!

Nachdem wir gestern die ersten beiden der acht Seligpreisungen genauer beleuchtet haben, wollen wir uns heute erneut einer dieser Sprossen der Himmelsleiter zuwenden. „Selig die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.“

„Barmherzigkeit will Ich!“

Nach der Versicherung des göttlichen Heilandes wird sich das Urteil beim Jüngsten Gericht darauf gründen, ob wir in den Tagen unseres Erdenlebens die Werke der Barmherzigkeit geübt oder unterlassen haben. Wird doch der Weltenrichter mit einem Blick, aus dem ein ganzer Himmel von Güte, Zufriedenheit und Wohlgefallen strahlt, auf die Gerechten schauen und sie mit den beseligenden Worten an Sich ziehen: „Kommt, ihr Gesegneten Meines Vaters, nehmt als Erbe das Reich in Besitz, das euch von Anbeginn der Welt bereitet ist. Denn Ich war hungrig, und ihr habt Mich gespeist; Ich war durstig, und ihr habt Mich getränkt; Ich war ein Fremdling, und ihr habt Mich beherbergt; Ich war nackt, und ihr habt Mich bekleidet; Ich war krank, und ihr habt Mich besucht; Ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen.“ (Mt. 25,34 f.).

Hingegen wird Er sich wie ein schrecklicher Gewittersturm den Verworfenen zuwenden und sie mit den niederschmetternden Worten für immer aus Seiner Nähe verbannen: „Hinweg von Mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das dem Teufel und seinen Engeln bereitet ist. Denn Ich war hungrig, aber ihr habt Mich nicht gespeist; Ich war durstig und ihr habt Mich nicht getränkt; Ich war ein Fremdling und ihr habt Mich nicht aufgenommen; Ich war nackt, aber ihr habt mich nicht bekleidet; Ich war krank und im Gefängnis, aber ihr habt Mich nicht besucht.“ (Mt. 25,41 f.).

Sowohl die Gerechten als auch die Verworfenen können diese Sprache des Richters kaum verstehen. Voll Verwunderung wagen sie die schüchterne Entgegnung, wann sie den göttlichen Richter jemals in einer dieser Notsituationen gesehen und Ihm die entsprechenden Liebesdienste geleistet bzw. verweigert hätten. Der König der ewigen Herrlichkeit wird jedoch Seinem Urteilsspruch die feierliche Begründung geben, daß Er alle Werke erbarmungsvoller Liebe, durch die menschliches Elend gelindert wurde, so betrachte, als wären sie Seiner hochheiligsten Person selbst zugutegekommen, und daß alle Herzlosigkeit und Härte, die mit verschränkten Armen fremder Not zusehen konnte, Ihn so schmerzlich trifft, als hätte Er sie selbst von den Betreffenden erfahren: „Denn was immer ihr einem dieser Meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr Mir getan.“ (Mt. 25,40).

Gewiß, es gibt Verdienste, welche die Werke der Barmherzigkeit an innerem Wert übersteigen; so etwa alle Werke der Gottesverehrung: das Gebet, die Teilnahme am hl. Meßopfer, der Empfang der hl. Sakramente usw. Die Werke der Gottesverehrung haben an sich ein höheres Verdienst als die Werke der Nächstenliebe, weil sie sich unmittelbar auf Gott beziehen. Und doch wird der ewige Richter einst für die Begründung seines Urteilsspruches auf die Äußerungen werktätiger Liebe verweisen. Warum? Weil sie der sichtbare Beweis eines erleuchteten Glaubens sind, der im Nächsten nicht nur einen „Mitmenschen“ sondern Jesus Christus selbst sieht und ihm nicht aus natürlicher Sympathie oder Berechnung, sondern um Jesu Christi willen Gutes tut. Und weil die Werke der Barmherzigkeit der unwiderlegbare Beweis für den zum Heile notwendigen lebendigen Glauben sind. „Der Glaube ohne Werke ist tot“, sagt der hl. Jakobus. Die edelsten Früchte eines lebendigen Glaubens sind aber die durch das Einwirken der göttlichen Gnade hervorgebrachten Liebesdienste an den Bedürftigen. Der lebendige Glaube, der schöpferisch gewesen ist in Werken erbarmungsvoller Liebe, wird das entscheidende Merkmal der Auserwählung sein. – Wie muß doch diese Erkenntnis unseren Sinn für die Werke der Wohltätigkeit beleben!

Der Allerseelentag erinnert uns daran, daß wir auch im unermeßlichen Reich der jenseitigen Welt einen großen Personenkreis haben, welcher sich in den elendsten und drückendsten Verhältnissen befindet und der auf unsere tatkräftige Liebe angewiesen ist. Ihre Armut ist eine unergründliche Tiefe von Not und Elend. Sie leiden Mangel an jenen Gütern, die allein die Seele befriedigen können. Darüber hinaus fehlt ihnen jede Kraft, sich aus ihrer entsetzlichen Not zu befreien. Sie können nur dulden und leiden. Sie haben niemanden, auf den sie sich stützen könnten, als auf das Wohlwollen von uns Lebenden. Der christliche Sprachgebrauch hat diese Seelen völlig zu Recht „Arme Seelen“ genannt.

Ihr flehentlicher Not- und Hilferuf dringt heute in tausendfältiger Weise an das gläubige Ohr unseres Herzens herüber und fleht um ein Almosen des Mitleids, der Liebe und des Erbarmens. Auch hier gilt es, einer schweren Not abzuhelfen. Auch hier gilt es, die erbarmende Nächstenliebe zu üben. Auch hier gilt es, die Werke der Barmherzigkeit an den Seelen der Verstorbenen im Fegfeuer zu üben.

Hungrige speisen

Als Erstes sollen wir den Armen Seelen Barmherzigkeit erweisen, indem wir die „Hungrigen speisen“. Die Hungersnot ist eine entsetzliche Plage, die den Menschen in einen grauenhaften Zustand versetzt, wie wir anhand der Bilder von Kindern und Erwachsenen aus dem Gazastreifen oder aus sonstigen Regionen der sog. Dritten Welt ersehen können. Abgemagert bis auf das Gerippe, mit aufgeblähtem Bauch, zu schwach, um aufrecht zu stehen, blicken uns die großen Augen ausgemergelter Gesichter an. Der Hunger verwandelt den Menschen gleichsam in ein Gespenst. Der Hungertod zählt zu den furchtbarsten Todesarten. Schon der Prophet Jeremias hat in seinen Klageliedern ausgerufen: „Ein besseres Los war jenen zuteil, die dem Schwert erlegen sind, als jenen, die der Hunger hinwegraffte.“ (Klag. 4,9).

Was sollen wir dann erst von jenem Hunger sagen, der die Armen Seelen im Fegfeuer verzehrt? Ihr Hunger ist geistiger Art und aus diesem Grund unvergleichlich schärfer und qualvoller als der leibliche Hunger. Die Armen Seelen hungern nach dem Gastmahl des ewigen Lebens. Der Heiland selbst hat die Seligkeit des Himmels mit einem Gastmahl verglichen, als Er Seinen Jüngern die Verheißung gab: „Ich bereite euch das Reich, wie es Mir Mein Vater bereitet hat, daß ihr esset und trinket an Meinem Tische in Meinem Reiche.“ (Lk. 22,29). Die Teilnahme an diesem himmlischen Gastmahl, wo Gott der ewige Vater mit Seinem eingeborenen Sohn und dem Heiligen Geist selber Seinen Auserwählten die volle Sättigung und die vollendete Glückseligkeit in der beseligenden Anschauung gewährt, ist für die Armen Seelen der Gegenstand einer für uns unfaßbar qualvollen Sehnsucht. Zwar haben sie die sichere Hoffnung, zu diesem Gastmahl zugelassen zu werden und darin ihre volle Befriedigung zu finden. Was ihnen jedoch unsägliche Pein bereitet, ist das „Noch nicht“. Die Qual ihres Hungers nimmt in dem gleichen Maß zu, je länger sie noch von dem himmlischen Gastmahl ausgeschlossen sind.

Dabei wird ihr Hunger noch verschärft durch das klare Bewußtsein: Wir allein tragen die Schuld daran, daß wir noch nicht „zum Hochzeitsmahl des Lammes geladen sind“. (Offb. 19,9). Hätten wir uns in unseren Erdentagen nicht so manches Mal dem übermäßigen Genuß hingegeben; hätten wir nicht so gern den Tafelfreuden gehuldigt und den naschhaften Gaumenkitzel gesucht; hätten wir immer die Mahnung des Apostels beachtet: „Laßt uns wie am lichten Tage ehrbar wandeln, nicht in Schmausereien und Trinkgelagen“ (Röm. 13,13); hätten wir es an den Tagen, da uns das Kirchengebot Fasten oder Abstinenz auferlegt hat, ernster genommen; hätten wir doch auch über das Gebotene hinaus öfters freiwilligen Verzicht geübt; dann, ja dann würde uns jetzt nicht ein so quälender Hunger verzehren. So aber gleichen die Armen Seelen dem armen Lazarus, der vor der Tür des reichen Prassers lag und sich gerne mit den Brosamen begnügt hätte, die von dessen Tisch gefallen sind (vgl. Lk. 16,20). Und so klagen sie mit dem Psalmisten: „Meine Tränen sind Meine Speise Tag und Nacht, da man mir täglich sagt: ‚Wo ist dein Gott?‘“ (Ps. 41,1).

Als dem Heiland einst eine große Volksmenge in die Einöde gefolgt war, wo sie drei Tage bei Ihm verbrachte, um Seine Lehre zu hören und Seine Wunder zu schauen, da sprach Er von Mitleid gerührt: „Mich erbarmt des Volkes, denn seht, schon drei Tage harren sie bei Mir aus und haben nichts zu essen. Wenn Ich sie ohne Speise nach Hause ziehen lasse, werden sie auf dem Weg erliegen.“ (Mk. 8,2). Wenn wir uns den unsäglichen Hunger jener Seelen im Reinigungsort vorstellen, deren Zahl um ein Vielfaches höher ist, der schon viel länger dauert und deren Elend ungleich größer ist, müssen dann nicht auch wir ausrufen: „Mich erbarmt des Volkes“? Der Herr wirkte damals das Wunder der Brotvermehrung. Sollten wir nicht auch über Mittel und Wege nachdenken, um diesen Seelen eine gewisse Erleichterung zu verschaffen?

Unter ihnen sind viele, denen wir es zu verdanken haben, daß wir selbst heute vor Entbehrungen bewahrt geblieben sind. Vielleicht unsere verstorbenen Eltern und Großeltern, die mit ihrer Hände Arbeit uns einst das tägliche Brot verdient haben. Unter ihnen sind vielleicht so manche Wohltäter und Gönner, unsere Lehrer und Ausbildner, denen wir unser Fachwissen oder unser handwerkliches Geschick verdanken, mit dem wir heute unseren Lebensunterhalt bestreiten können.

Der Prophet Isaias mahnt: „Brich dem Hungrigen dein Brot!“ (Is. 58,7). Dieser Mahnung wollen wir nachkommen, indem wir die heilige Kommunion empfangen. Dieses Brot wollen wir den hungernden Seelen des Reinigungsortes brechen, indem wir ihnen die Früchte einer guten, andächtigen und würdigen hl. Kommunion zuwenden und in ihrem Namen den Heiland in unserem Herzen mit den Worten des hl. Thomas von Aquin anflehen: „Gib uns Teil an Deinem Mahle, / Deines Erbes Glück uns strahle / In des Himmels lichtem Saale.“ (Sequenz „Lauda Sion“).

Durstige tränken

Damit läßt sich auch das zweite Werk der Barmherzigkeit verbinden: Die Durstigen tränken. – Denn noch schmerzlicher als den Hunger empfindet der menschliche Organismus die Qual des Durstes.

Wie laut waren die Klagen der Hebräer, als sie nach ihrem Auszug aus Ägypten von der Gluthitze der Wüste verzehrt, einen brennenden Durst litten (vgl. Ex. 17,3). Sie flehten Moses an, er möge ihrer Qual ein Ende setzen. – Unser göttlicher Erlöser klagte am Kreuz über kein einziges Seiner furchtbaren Leiden. Einzig die Klage über die Qual des Durstes, die Er nach stundenlangem Verbluten und in der brennenden Glut des Fiebers erduldet hatte, konnte Er nicht unterdrücken, sodaß Er ausrief: „Mich dürstet!“ (Joh. 19,28).

Das Fegfeuer ist ein „ödes, unwegsames und wasserloses Land“ (Ps. 62,3), wo einsame Seelen im brennenden Durst verschmachten. Im diesseitigen Leben konnten sie ihren Durst nach Freude und Glück an den Geschöpfen stillen und sich über den tief in ihnen schlummernden Durst nach Gott hinwegtäuschen. Nachdem sie jedoch durch den Tod von den Tröstungen der Geschöpfe abgeschnitten wurden, sehen sie klar, daß es nur einen gibt, der ihr Verlangen nach Glückseligkeit wahrhaft stillen kann. Ihre Erkenntnis dürstet nach dem Urquell der ewigen Wahrheit. Ihr Wille lechzt nach dem Strom der ewigen Liebe. Mit König David klagen sie: „Wie ein Hirsch nach strömenden Wassern verlangt, so verlangt meine Seele, o Gott, nach Dir. Meine Seele dürstet nach Gott, dem starken, dem lebendigen; wann werde ich kommen und erscheinen vor dem Angesichte Gottes?“ (Ps. 41,2–3). Glasklar erkennen diese Seelen jetzt, daß Gott das höchste Gut ist. Sie glauben, das Rauschen der Wasser des ewigen Lebens bereits zu hören. Allein dadurch wird die Heftigkeit ihres Durstes nur gesteigert, denn sie dürfen noch nicht eingehen in den Strom der unaussprechlichen Wonnen, den Gott denen bereitet hat, die Ihn vollkommen lieben. Sie dürfen noch nicht mit den Seligen des Himmels ausrufen: „Mein Kelch, der mich berauscht, wie herrlich ist er.“ (Ps. 22,5).

Stattdessen denken sie in schmerzlicher Erinnerung, daß sie während ihres Erdenlebens nicht immer maßvoll im Genuß irdischer Freuden gewesen sind. Daß sie sich so manches Mal der Trunkenheit hingegeben hatten; daß sie sich nicht einschränken wollten im Genuß der Freizeitbeschäftigungen statt der trockenen Pflichterfüllung; daß sie im Übermaß die Freude menschlicher Gesellschaft, der Unterhaltungen und Gespräche mit Menschen sowie den menschlichen Trost gesucht hatten und das auf Kosten ihrer Freundschaft mit Gott, auf Kosten der Zeit des Gebetes. Jetzt werden sie von glühendem Durst nach Gott verzehrt.

Den dürstenden Israeliten erschloß Gott auf wundersame Weise eine Wasserquelle, indem Er Moses die Weisung gab: „Schlag an den Felsen, so wird Wasser herausfließen, daß das Volk trinke.“ (Ex. 17,6). Dem Gekreuzigten reichte ein milde gesinnter Soldat einen mit Essig getränkten Schwamm, damit Er wenigstens seine ausgetrockneten Lippen daran befeuchten konnte.

Welche Erfrischung können wir den Armen Seelen reichen? – Die christliche Kunst klärt uns darüber auf. Oft findet man auf den Bildern des Fegfeuers die händeringenden Armen Seelen inmitten eines Flammenmeeres dargestellt, das von einem Kreuz mit dem blutüberströmten Heiland überragt wird. Ein Engel fängt mit einem goldenen Kelch oder mit einer Schale die Tropfen des kostbaren Blutes auf, um damit die dürstenden Seelen wie mit einem sanften Morgentau zu erfrischen. – Das Blut des Erlösers fließt täglich im heiligen Meßopfer auf unseren Altären. Und auch wir können ein solcher Engel sein, der die Seelen der Verstorbenen durch die andächtige Teilnahme an der heiligen Messe oder durch die Aufopferung des kostbaren Blutes auch außerhalb der Meßfeier mit dem Herzblut des göttlichen Lammes erfrischt.

Als David mit den Philistern Krieg führte, da fiel seine Vaterstadt Bethlehem in die Hand des Feindes, der dort sein Feldlager aufgeschlagen hatte. Als nun David die Stadt belagerte, da dürstete den König und er machte die unbedachte Äußerung, wie sehr er sich nach dem Wasser aus dem Torbrunnen von Bethlehem sehne. Sofort drangen drei seiner Helden mitten in das Lager der Philister ein, schöpften Wasser aus dem Torbrunnen von Bethlehem und brachten es ihrem König. – Wir haben es nicht nötig, uns in Lebensgefahr zu begeben, wenn wir den dürstenden Seelen des Reinigungsortes eine Erfrischung bringen wollen. Mühelos können wir „aus den Quellen des Heilandes schöpfen“. (Is. 12,3). Wir brauchen nur mit Andacht am hl. Meßopfer teilzunehmen, um das erlösende Blut Christi wie einen Gnadenregen in das stille Reich jenseits der Gräber hinabzuleiten. Wie wunderbar ist die Macht, die Gott in Seiner barmherzigen Güte uns zum Besten dieser Seelen gegeben hat! Mit welchem Eifer sollten wir deshalb davon Gebrauch machen, damit für die Armen Seelen schneller in Erfüllung gehe, was der hl. Johannes geschaut hat: „Sie werden fürderhin nicht dürsten; denn das Lamm, das mitten auf dem Throne steht, wird sie weiden und sie führen zu den Wasserquellen des Lebens.“ (Offb. 7,16 f.).

Nackte bekleiden

Der Prophet Isaias mahnt: „Wenn du einen Nackten siehst, dann kleide ihn.“ (Is. 58,7). Damit werden wir angeleitet, das dritte Werk der Barmherzigkeit zu üben: die Nackten bekleiden.

Die christliche Nächstenliebe hat es zu allen Zeiten als eine ihrer vornehmsten Aufgaben betrachtet, die Blöße der Armut zu bedecken. Wie können wir aber diesen Liebesdienst den Armen Seelen im Fegfeuer erweisen? Mit welchem Gewand sollen wir sie bekleiden?

Wohlgemerkt, sie sind ja schon geschmückt mit dem Kleid der heiligmachenden Gnade, denn sie sind als Freunde Gottes aus dieser Welt geschieden. Sie haben ihre Seele im Stande der göttlichen Liebe ausgehaucht. Aber dieses Kleid zeigt doch noch dunkle Flecken und kann darum in den Augen des himmlischen Königs nicht als jenes hochzeitliche Gewand gelten, das sie makellos in der hl. Taufe empfangen haben und das allein zur Teilnahme am Gastmahl des ewigen Lebens berechtigt (vgl. Mt. 22,11). Diese dunklen Flecken müssen zuerst ausgetilgt werden. Allein die Armen Seelen vermögen das nicht mehr mit den Tränen der Buße und der Reue zu tun. Die Zeit der Genugtuung ist für sie abgelaufen und das Maß der Gnade ist für sie erschöpft. Sie müssen diese Flecken ausbrennen im Feuer der strafenden Gerechtigkeit Gottes.

In ihren Erdentagen haben sie sich vielleicht verfehlt durch die Wahl der Kleidung, indem sie zu viel Wert auf die äußere Erscheinung gelegt, dem Körperkult gefrönt oder durch unschickliches Verhalten unschuldige Seelen verführt haben, wie die Tochter der Herodias durch ihren aufreizenden Tanz vor dem Vierfürsten Herodes (vgl. Mk. 6,22). Auch haben manche durch vorwitzige Blicke auf unvorteilhaft bekleidete Personen ihr Gnadenkleid befleckt. – Andere haben die Ausbesserung an ihrem Gnadenkleid ein Leben lang vernachlässigt, indem sie ihre läßlichen Sünden nur oberflächlich erforscht, nur wenig bereut und selten gebeichtet haben; indem sie den diesen Sünden zugrunde liegenden Hauptfehler durch das nachlässige Streben nach der Tugend mit nur geringem Erfolg bekämpft haben. Sie haben das Gnadenkleid zwar nicht durch eine Todsünde in Fetzen gerissen, aber nichtsdestotrotz ist es arg löchrig und lädiert. – So manche haben sich in ihrem irdischen Leben auch verfehlt, indem sie sich die Robe eines Richters angemaßt haben, indem sie sich also über andere erhoben, sich in die Angelegenheiten anderer eingemischt haben. Die Nächsten in Gedanken und Reden verurteilt haben, sie durch Verleumdungen und üble Nachrede vor anderen schlechtgemacht oder sie direkt in übermäßiger Strenge abgekanzelt haben. Jetzt aber sind sie gleichsam in ein Flammengewand gehüllt.

Wenn wir bedenken, daß das Fegfeuer nach den Worten des hl. Augustinus schärfer ist als alles, was man in dieser Welt nur immer an Qualen fühlen oder sehen oder denken kann; wenn wir bedenken, daß nach der Versicherung der hl. Katharina von Genua keine Zunge es aussprechen und kein Verstand es fassen kann, was es mit diesem Feuer auf sich hat, dann werden wir uns gedrängt fühlen, dieser qualvollen Pein in irgendeiner Weise Linderung zu verschaffen. Das kann geschehen, indem wir uns unserer eigenen genugtuenden Werke gewissermaßen entkleiden, indem wir auf die sühnende Kraft unserer Gebete und Opfer, unserer Selbstüberwindungen und Selbstverleugnung, unser geduldiges Ertragen von Demütigungen, Krankheiten und Gebrechen verzichten, um damit die Blöße der leidenden Seelen zu bedecken, damit sich ihr Flammenkleid alsbald in das goldene Gewand der himmlischen Glorie verwandelt.

Gefangene befreien

Zuletzt wollen wir bedenken, daß die Armen Seelen auch Gefangene sind. Sie sind gebunden in ihrer Bewegung, gebunden in ihrem ganzen Wirken. Das Fegfeuer ist für sie ein glühender Kerker, aus dem sie nicht entweichen können.

In den Tagen ihres Erdenlebens haben sie nämlich von der Freiheit ihres Willens nicht immer den rechten Gebrauch gemacht; sie wollten sich keine Schranken auferlegen lassen von den Geboten Gottes und der Kirche, von den Anweisungen ihrer Eltern und Lehrer, von den Befehlen ihrer Vorgesetzten, von den gutgemeinten Ratschlägen der Prediger und Beichtväter, von dem offenen Wort eines Freundes. Gehorsam, Nachgeben und der Verzicht auf das eigene Urteil waren ihnen wie Fesseln, die sie sich nicht anlegen lassen wollten. – Andere wollten ihren Mitmenschen nicht von Herzen verzeihen – genau wie der „böse Knecht“ im heutigen Gleichnis (vgl. Mt. 18,23–35). Immer wieder machten sie dieselbe Rechnung auf und trugen den alten Fehler nach. Deshalb ließ sie der Herr in den Kerker des Fegfeuers werfen, bis sie die ganze Schuld bezahlt hätten. – Wieder andere besaßen nicht immer genug Entschiedenheit zur Selbstüberwindung, um die Ketten ihrer schlechten Gewohnheiten zu sprengen: ihre Trägheit, ihre Launenhaftigkeit, ihre Vermessenheit im Urteil, ihre Unpünktlichkeit, ihre Empfindlichkeit, ihren Eigensinn etc. Sie gaben sich zu wenig Mühe ihre Anhänglichkeit an geschaffene Dinge zu lösen. – Dem Übermaß an Freiheit, Unabhängigkeit und Ungebundenheit, die sie sich in ihrem irdischen Leben herausgenommen haben, entspricht nun die Enge des ihnen beschiedenen Raumes im Reinigungsort. Der Liebesdrang, der diese Seelen antreibt, sich in die Unermeßlichkeit Gottes zu versenken, wird eingeengt durch die unüberschreitbare Schranke, die ein höherer Wille ihnen gezogen hat. – So sind sie in der Tat wie in einem Gefängnis und an uns ist es, das fünfte Werk der Barmherzigkeit zu üben: „Den Gefangenen Erlösung und den Eingekerkerten Befreiung zu verkünden.“ (Is. 61,1).

In den Jahrhunderten, in denen die Christenheit vom Islam mit Feuer und Schwert bedrängt wurde und viele Tausende von Christen in die Sklaverei der Mohammedaner gerieten, da blühten die Orden der Trinitarier und der Mercedarier auf, deren Mitglieder Almosen sammelten, um damit jene Unglücklichen aus der mohammedanischen Gefangenschaft loszukaufen. Dieses Vorbild christlicher Opferbereitschaft sei uns ein Vorbild und Ansporn, wenn wir von der Kirche in diesem Monat so lebhaft an die Gefangenen des Jenseits erinnert werden. In unserer Hand liegt der Lösepreis, mit dem wir den Armen Seelen die heiß ersehnte Freiheit erkaufen können. Es sind jene frommen Werke, die von der Kirche mit Ablässen versehen sind. Gepriesen sei Gottes Güte und Erbarmen, vor allem für jene Gebete und Werke, durch deren Verrichtung ein vollkommener Ablaß für die Armen Seelen gewonnen werden kann. Sie stellen besonders wertvolle Schätze dar, mit denen wir den Armen Seelen die Amnestie von ihren noch abzubüßenden Strafen und die sofortige Befreiung aus dem Reinigungsort erlangen können. Welche Ströme der Freude und Dankbarkeit können wir in jener einsamen Welt hervorrufen, wenn wir von dieser Macht der Begnadigung, die Gott durch die Kirche in unsere Hand gelegt hat, oft Gebrauch machen?

Der hl. Papst Gregor d. Gr. berichtet in seinen „Dialogen“ vom hl. Paulinus, dem Bischof von Nola. Dieser hatte nicht bloß seinen ganzen Besitz als Lösepreis für die Gefangenen hingegeben, sondern sogar sich selbst an die Vandalen verkauft, um den Sohn einer armen Witwe freizukaufen. Einen ähnlichen Edelmut könnten auch wir üben, wenn wir durch den sog. „heldenmütigen Liebesakt“ ALLE unsere Werke der Genugtuung durch die Hände der allerseligsten Jungfrau und Gottesmutter Maria Gott zugunsten der Armen Seelen darbringen. Wer die Kraft zu einem so hochherzigen Verzicht aufbringen kann, der kann sich der innigen Dankbarkeit und der Freundschaft jener einsamen Seelen in ihrem glühenden Gefängnis sicher sein.

„Selig die Barmherzigen!“

Nachdem wir nun gesehen haben, auf welch vielfältige Weise wir den Armen Seelen Wohltaten der Barmherzigkeit erweisen können, wollen wir in dieser hl. Messe um einen großen Eifer beten, der uns zu eben diesen Werken der Caritas antreiben möge. Werden wir zu „Engeln der Barmherzigkeit“ für jene düstere, schwermütige Welt, in der die Armen Seelen dulden!

Am Ende der Welt wird „der Menschensohn kommen auf den Wolken des Himmels mit großer Macht und Herrlichkeit“ (Mt. 24,31), um zu richten die Lebendigen und die Toten. Und wenn uns dann der göttliche Richter jene Fragen nach der Ausübung der Werke der Barmherzigkeit stellen wird, wie glücklich werden wir dann sein, wenn wir sehen, wie unsere Verteidigung von jenen Seligen übernommen wird, an denen wir diese Werke der Barmherzigkeit getan haben, als sie damals noch im Reinigungsort auf Erlösung harrten. Wir werden das ganze Glück empfinden, das der Heiland verheißen hat, als Er sprach: „Selig die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.“ Amen.

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