Vom Sinn des Leidens

Geliebte Gottes!

Viel Leid und Wehklagen finden sich heute auf den wenigen Zeilen des Sonntagsevangeliums zusammengedrängt. Wir hören von einer langwierigen, beschämenden Krankheit einer Frau, die nach dem Zeugnis der anderen beiden Synoptiker die schmerzliche Behandlung vieler Ärzte (vgl. Mk. 5,22 ff.) und ein ganzes Vermögen gefordert hatte (vgl. Lk. 8,41 ff.), ohne Besserung zu finden. Dann erfahren wir von dem traurigen Todesfall eines Mädchens. Ehe die Knospe eines jungen Lebens zur Entfaltung gelangen konnte, war sie schon dahingewelkt. Schließlich vernehmen wir lärmendes Klagen und Jammern sowie ungläubigen Spott. Mit wenigen Strichen ist das ganze Elend dieses irdischen Tränentals gezeichnet. Das Leiden wird uns in all seinen Facetten gezeigt und auch, was das Leiden aus den Menschen macht.

Das Ringen mit dem Leiden und sein dreifacher Ausgang

Das Leiden ist kein willkommener Gast, und doch spielt es eine gebieterische Rolle in unserem Leben, denn es herrscht in jedem Leben. Das Leid ist sogar ein Richter. Es richtet über uns, wie wir uns verhalten haben, als es uns heimgesucht hat. Das Leid, das über uns kommt, besitzt eine gewaltige Macht. Man könnte es deswegen als einen Erzengel Gottes bezeichnen, und jeder Mensch muß mit diesem Engel Gottes ringen, so wie seinerzeit der Patriarch Jakob mit einem geheimnisvollen Engel die ganze Nacht gerungen hat. Er wurde von diesem Ringen dauerhaft durch eine Lähmung gezeichnet, erlangte aber durch seine geduldige Ausdauer im Ringen den neuen Namen „Israel“, d. h. „Streiter Gottes“ (Gen. 32,27). Jeder Heilige hatte mit dem Leiden zu ringen, um sich den Siegeskranz zu erkämpfen. Jeder mußte sich in der Nacht des Leidens als „Streiter Gottes“ erweisen.

Aber das Leiden hat nicht bei allen Menschen die gleiche Wirkung wie bei den Heiligen. Es kann auch geschehen, daß einer durch das Leid gebrochen, ja zerbrochen wird. Es kann auch geschehen, daß einer von dem Leid eine giftige Wurzel in sich behält, daß er durch das Leid verbittert wird.

Das ist also die dreifache Wirkung, die das Leid auf die Menschen ausübt. Es sind gleichsam drei Ausgänge dieses Ringkampfes: Es gibt Menschen, die vom Leid vergiftet werden. Es gibt Menschen, die vom Leid zerbrochen werden. Und es gibt Menschen, die vom Leid geheiligt und geweiht werden.

Wohlgemerkt! Der entscheidende Faktor, der über den Ausgang des Kampfes im Leben eines jeden Menschen entscheidet, ist nicht das Leid. Nicht seine Größe, seine Schärfe oder seine Dauer. Der entscheidende Faktor ist der Mensch, wie er auf das Leiden reagiert. Wie der Mensch auf das Leiden zugeht, wie er sich im Leiden verhält, entscheidet über den Ausgang. Schon ein Leid von winziger Kleinigkeit kann einen Menschen verbittern, und ein großes Leid wird von einem starken Menschen tapfer und ergeben getragen. Es liegt nicht am Leid, sondern es liegt am Menschen, was er aus dem Leid macht, wie er diesen Gast aufnimmt oder wie er ihn abweist und unter ihm seufzt.

Die Verbitterung

Es gibt Menschen, die vom Leid verbittert werden. Es sind Menschen, die wegen des Leides in ihrem Wesen verwandelt und verändert werden, und zwar so verändert werden, daß sie bitter werden, daß sie sich in Haß und Trotz und bösem Zorn aufbäumen gegen das Leid, daß sie sich verkrampfen in zorniger Empörung und letztlich doch in machtloser Verzweiflung. Es sind Menschen, die mit geballten Fäusten umhergehen und mit knirschenden Zähnen; Menschen, die nichts Versöhnendes und nichts Versöhnliches mehr an sich haben, sondern in denen das Mißtrauen schon zur Feindseligkeit geworden ist. Es sind die Menschen, die an keine Güte, an keine Unschuld, an keine Treue mehr glauben. Und wenn ihnen tatsächlich einmal Güte, Unschuld und Treue begegnen, etwa in einem Kind, so nehmen sie es nur knurrend und widerwillig hin und warten nur darauf, daß sie diese Treue und diese Unschuld und diese Güte „entlarven“ können. Die verbitterten Menschen sind jene, die das Leid so aufgenommen haben, wie man es nicht aufnehmen darf! Mit ihrem Murren häufen sie Sünde auf Sünde und vergiften dabei mehr und mehr ihre Seele.

Kein Mensch wird so giftig geboren, kein Mensch ist von Anfang an so geschaffen, sondern er ist unter dem Einfluß des Leides so geworden. Aber das Gift stammt von ihrer falschen Reaktion! Meistens ist es freilich ein Leid von einer ausdauernden Hartnäckigkeit, von einer unerhörten Ungerechtigkeit, die einen Menschen so bitter gemacht hat. Es gibt tatsächlich Menschen, denen alles mißlingt; es gibt Menschen, die keine Ruhe und keine Rast finden, Menschen, die durch Dinge, Ereignisse und andere Menschen wie verfolgt scheinen. Und solche Menschen werden dann eben verbittert.

Es kann aber auch manchmal ein Leid von relativer Kleinheit sein, das Menschen so macht. Es kommt eben auf den Menschen an, wie er auf das Leid reagiert. Kleine Enttäuschungen können einen Menschen zeitlebens verbittern. Es gibt Menschen, die ein Leben lang nicht darüber hinwegkommen, daß sie sich etwa nicht für den Beruf qualifizieren konnten, den sie sich auszuüben gewünscht hätten, nicht die (geistliche) Berufung oder Beförderung erhielten, die sie meinten, verdient zu haben, oder nicht den Ehegatten gewinnen konnten, der ihnen gefallen hätte. Und darüber wurden sie bitter.

Die Zerbrochenen

Es gibt auch Menschen, die vom Leid zerbrochen werden. Das will sagen, sie haben keinen Mut und keine Kraft mehr. Es sind Menschen, die keine Hoffnung mehr haben. Es sind Menschen, bei denen alles gelähmt, entmutigt und abgestumpft ist. Sie sind unsagbar müde, und vor lauter Müdigkeit sind sie gleichgültig geworden. Solchen Menschen ist alles einerlei und gleichgültig. Sie sind auf weitere Schläge gefaßt und sie fürchten sie nicht, so wie ein Lasttier, wie ein Esel, den man von früh bis abends prügelt. Sie warten nur noch auf den Tod, um endlich Ruhe zu haben.

Sie tun auch nichts, um das Leid abzuwehren, sie rühren keinen Finger, denn es muß ja doch kommen, und sie lassen es kommen, wie es kommen will. In ihren Herzen ist kein Haß und keine Bitterkeit, denn das wäre ja noch ein Aufbäumen gegen das Leid, aber das bringen sie schon nicht mehr fertig. Sie haben keinen Widerspruch, keine Verwunderung, keine Empörung, wenn das Leid sie trifft. Sie wenden keine Kraft mehr auf, um sich gegen das Leid zu wehren. Ihre Abgestumpftheit wirkt schützend und schonend zugleich.

Aber in diesen Menschen erfolgt keine Verarbeitung des Leids. Sie werden durch das Leid nicht besser. Sie gehen nicht innerlich auf das Leid ein, können es nicht verstehen und wollen seinen Sinn auch gar nicht verstehen. Sie tun nicht mit, und so ist das Leid nur ein Über-sich-ergehen-Lassen. Sie gehen gewinnlos aus jeder Mühsal hervor.

Nun braucht diese äußerste Stufe der totalen Resignation nicht über jeden Menschen zu kommen. Es ist vielleicht nur eine kleine Zahl, die in dieser Weise am Leid zerbrochen ist. Aber auf die meisten Menschen übt das Leid eine brechende, zermürbende Wirkung aus. Sie antworten nicht auf das Leid. Sie nehmen das Leid nicht zum Anlaß, damit zu ringen und zu arbeiten und daraus das Bestmögliche zu machen. Nein, wo immer das Leid sie anrührt, da knicken sie ein. Sie sind weder hart noch elastisch, sondern einfach brüchig.

Die Überwinder

Es gibt aber schließlich auch Menschen, die durch das Leid geheiligt werden. Das sind jene, in denen das Leid eine andere Antwort bewirkt. Auch sie trifft das Leiden. Auch sie müssen damit ringen und haben damit zu kämpfen. Aber sie ringen um die Kraft der Annahme, d. h., sie kämpfen die Empörung und die Auflehnung, die sich auch in ihnen regt, nieder. Auch erlahmen sie nicht in untätiger Resignation. Stattdessen kämpfen sie um die innere Zustimmung zu Gottes Willen.

Sie unterscheiden sich also von den Zerbrechenden, indem sie etwas tun, indem sie aus dem Leid etwas machen. Sie unterscheiden sich auch von den Verbitterten, denn es bleibt in ihrer Seele nichts Bitteres und nichts Böses, nichts Haßerfülltes zurück.

Das Leid, das über diese Menschen kommt, weckt die besten und edelsten Tugenden in ihnen. Es bringt Tugenden zum Erblühen, die nur unter dem Einfluß des Leides entstehen und wachsen können. Gesinnungen von wunderbarer Kraft und Schönheit. Etwa eine herausragende Stärke, Geduld und Leidenswilligkeit. Eine heldenmütige Selbstverleugnung, Demut und Sanftmut. Ja, eine für den natürlich denkenden Menschen nicht nachvollziehbare Freude. Ein Leidensglück!

„Sei getrost! Dein Glaube hat dir geholfen.“

Woher kommen nun diese Unterschiede, daß der eine vom Leid verbittert, der andere zerbrochen, ein dritter geheiligt wird? Jedes Leid kann so verschiedenartig wirken. Es liegt nicht am Leid, sondern es liegt an den Menschen. Woher kommen diese Unterschiede?

Die Antwort finden wir im heutigen Evangelium. Der Heiland fordert den Glauben! Er fordert ihn von der lärmenden Menge im Haus des Synagogenvorstehers, sagt er doch: „Geht hinaus, das Mädchen ist nicht tot, es schläft nur.“ Aber die Versammelten wollten nicht glauben und überzogen den Herrn mit bitterem Spott. „Sie verlachten ihn.“ So ergeht es den Menschen, die sich gegen ihr Leid auflehnen, sich innerlich verhärten, ihm weiter trotzen wollen. Sie versprühen bitteren Spott zum Spott ihres Unglaubens. Ihr Leiden gereicht ihnen nicht zum Frieden, sondern zur Feindschaft. Sie werden nicht nur keine Zeugen des erlösenden Auferstehungswunders wie die ungläubige Trauergemeinde, sondern zu „Feinden des Kreuzes Christi“. Sie nehmen Zuflucht zum Irdischen, zum Spott und zu den Tröstungen der fleischlichen Genüsse. „Ihr Gott ist der Bauch, ihr Ruhm besteht in ihrer Schande, ihr Sinnen geht aufs Irdische.“ Und am Ende steht das Verderben.

Ganz anders verhielt es sich bei der blutflüssigen Frau. Der Heiland attestiert ihr den Glauben: „Sei getrost, meine Tochter, dein Glaube hat dir geholfen.“ Nach jahrelangem Ringen mit ihrem Blutfluß dachte sie sich: „Wenn ich auch nur Sein Kleid berühre, werde ich gesund.“ Und sie trat rücklings an Jesus heran und berührte gläubig den Saum Seines Gewandes.

Diesen Glauben ahmt der Ministrant bei jeder hl. Messe nach. Auch der Ministrant tritt rücklings an den Priester heran, um den Saum des Meßgewandes zu berühren. Und es ist kein Zufall, daß er das während der Wandlung tut, also in dem Augenblick, wo das größte Leiden, das je ein Mensch erduldet hat, das Erlöserleiden, sakramental vergegenwärtigt wird. Der gekreuzigte Erlöser und die Art und Weise, wie Er sein Leiden angenommen und getragen hat, haben dem Leiden seine erlösende Kraft verliehen, so daß alle, die fortan mit den Augen des Glaubens zum Kreuz aufblicken, von dort die übernatürliche Kraft empfangen, die es ihnen ermöglicht, auch ihr Kreuz – und mag es auch ein noch so drückendes sein – in Ergebenheit in den göttlichen Willen anzunehmen. Das Kreuz, im Lichte des Glaubens besehen, wird nicht das Leiden hinwegnehmen, aber wir werden von dem Blutfluß geheilt, unter dem so mancher Leidende vielleicht schon jahrelang niedergedrückt wird: vom Blutfluß des Murrens, vom Blutfluß der Verbitterung, von dem Blutfluß des Haderns, vom Blutfluß des Zornes, von dem Blutfluß der Resignation. Dieses vom Gekreuzigten ausgehende Licht erhellt die Finsternis des Leidens und vermag, aus uns „Freunde des hl. Kreuzes“ zu machen.

Wenn uns also ein Leiden quält, wenn wir um die Annahme eines Leidens ringen müssen, sei es in Form eines schmerzlichen Verlustes, einer Krankheit oder eines Mißerfolges, sei es ein äußerliches oder ein innerliches, ein materielles oder ein geistiges, ein körperliches oder ein seelisches Leiden. Dann wollen auch wir bei der hl. Wandlung im Geiste den Saum des Meßgewandes berühren und den Heiland in demselben Vertrauen wie die blutflüssige Frau bitten, uns das Rätsel dieses Leidens zu lösen, uns dieses versiegelte Buch aufzuschließen oder uns doch wenigstens die heilende Kraft zufließen zu lassen, unser Kreuz um Gottes Willen annehmen zu können, es innerlich versöhnt umfangen zu können. Der Glaube erschließt uns nämlich den Sinn und Zweck des Leidens. Und wenn uns der Sinn und Zweck dieses Rätsels des Leidens erschlossen wird, dann verliert es seine drückende Last. Die Einsicht, die uns der Glaube gewährt, beinhaltet einen gewissen Trost, der unser Aufbäumen beruhigt: „Sei getrost! Dein Glaube hat dir geholfen!“

Das Leiden im Lichte des Glaubens

Betätigen wir also unseren Glauben und schauen wir, wie das Leiden im Lichte des Glaubens erscheint. Man kann einen vierfachen Zweck unterscheiden, welchen die Leiden, die Gott in welcher Form auch immer über uns kommen läßt, erzielen sollen.

a) Besserung

Einmal will Gott den Menschen durch Leiden bessern. Gott schickt Schmerzen und Leiden, damit der Mensch in sich geht, daß er sich bekehrt, daß er von der Sünde läßt, daß er sich löst von seiner Verfallenheit an das Irdische, daß er den Blick nach oben richtet. Die Leiden sind Heilmittel, wodurch viele Gelegenheiten zur Sünde beseitigt werden, wodurch die Augen für die Nichtigkeit alles Irdischen geöffnet, die Begierlichkeit des Fleisches gedämpft, der Hochmut gebrochen, das Herz erweicht und zur Reue und Buße wenigstens vorbereitet wird.

Die hl. Schrift ist voller Beweise hierfür. Wann war es, als Adam seine Sünde bereute? Damals, als er, aus dem Paradies vertrieben, im Schweiße seines Angesichtes die Erde bebaute. Wann war es, als der Pharao die Hebräer ziehen ließ? Als er, getroffen von den Plagen, wenigstens die strafende Hand Gottes fürchtete. Wann bereute David seinen Stolz? Als die Pest sein Volk dahinraffte. Wann begab sich Naaman zum Propheten des wahren Gottes? Erst, als er mit schrecklichem Aussatz bedeckt war. Wann kehrte das Volk Israel reumütig zum Gehorsam gegen Gottes Gebot zurück? Als es besiegt und gedemütigt in die Gefangenschaft nach Babylon geführt worden war, als der Tempel Salomons geschleift war. Und wie viele Beispiele könnte jeder Beichtvater, ja beinahe jeder Katholik, aus eigener Erfahrung beisteuern, wo Sünder, die erst in der Armut, im Gefängnis, im Unglück, in der Krankheit, beim Herannahen des Todes zu Gott zurückgekehrt und ihre Sünden bereut haben, an die sie in den Tagen des Reichtums, der Freiheit, des Glücks, der Gesundheit keinen Gedanken verschwendet haben. – Gerade das Musterbeispiel des Büßenden, welches uns der Heiland im „verlorenen Sohn“ gezeichnet hat, fängt seine Bekehrung erst an, als er in tiefstes Elend gesunken war. – Deshalb mahnt uns der Dichter: „Trifft dich ein Schmerz, so halte still / und frage, was er von dir will! / Der liebe Gott, er schickt dir keinen / nur darum, daß du solltest weinen.“ Und wer von uns hätte denn keine Besserung nötig? Wir alle bedürfen der Bekehrung und müssen also die Schmerzen und Leiden, die Gott uns schickt, als seine Zuchtrute ansehen, mit der er uns abwenden will von unseren falschen Lebensgewohnheiten und hinwenden will zum Himmel, zur Ewigkeit, zu seinem göttlichen Willen.

b) Strafe und Sühne

Der zweite Grund, weswegen Gott uns Leiden schickt, ist die Strafe. Jede Sünde verdient Strafe! Daran erinnert der hl. Ludwig Grignion, wenn er in seinem Rundschreiben an die „Freunde des Kreuzes“ sagt: „In der Tat, teure Freunde des Kreuzes, ihr seid alle Sünder: Keiner ist unter euch, der nicht die Hölle verdient hätte, ich mehr als sonst jemand. Unsere Sünden müssen in dieser oder in der anderen Welt gestraft werden.“

Es gibt eine ewige und eine zeitliche Sündenstrafe. Die ewige Sündenstrafe ist die Hölle, die Verdammnis. Immer wenn eine Todsünde durch eine gute Beichte oder einen Akt der vollkommenen Reue vergeben wird, wird die schwere Schuld völlig erlassen und die ewige Strafe wird in eine zeitliche Strafe umgewandelt. Auch die zeitlichen Strafen werden bei der hl. Beichte nachgelassen, wobei sich das Maß dieses Nachlasses jedoch nach der Bußgesinnung des Einzelnen richtet. Ist seine Reue vollkommen und sehr stark, kann die ganze Schuld samt zeitlicher Strafe auf einmal ausgelöscht sein. Ist die Reue hingegen unvollkommen und mit nur geringer Zerknirschung, dann werden die zeitlichen Strafen lediglich nach dem Grad der Reuegesinnung nachgelassen. Was an zeitlichen Strafen übrigbleibt, muß in diesem Leben oder nach dem Tod im Fegfeuer abgebüßt werden. Wir wissen nicht, wie groß die Hypothek der zeitlichen Strafen ist, die auf uns lastet. Darum betete der hl. Augustinus: „Hier (auf Erden) brenne, hier schneide, hier säge, Herr, aber verschone mich in der Ewigkeit.“ Er wollte sagen, es sei ein großer Vorteil, auf Erden statt in der Ewigkeit gestraft zu werden. Denn hier in diesem Leben sind die Leiden um ein Vielfaches erträglicher als in den Gluten des Fegfeuers. Die Leiden in diesem Leben sind Reinigungen und eine reiche Quelle des Verdienstes und der Heiligkeit. Der hl. Ludwig Grignon sagt: „Büßen wir unsere Sünden in dieser Welt, so brauchen wir es nicht in der anderen zu tun. Straft Gott sie in dieser Welt mit unserer Zustimmung, so wird die Strafe liebevoll sein. Die Barmherzigkeit Gottes, die in dieser Welt herrscht, wird sie dann sühnen, nicht die strenge Gerechtigkeit; die Züchtigung wird leicht und vorübergehend, von Süßigkeit und Verdiensten begleitet sein und in Zeit und Ewigkeit Belohnungen im Gefolge haben.“ Das Gegenteil trifft auf die Reinigung im Fegfeuer zu. Gewiß, rein und heilig gehen die Seelen auch aus dem Fegfeuer in den Himmel ein. Aber nicht heiliger! Das Leiden der Armen Seelen ist nicht mehr verdienstlich.

Wir haben nicht den Blick Gottes, aber oft gestattet uns Gott gewissermaßen einen Blick durch den Zaun, und dann sehen wir, daß bestimmte Leiden und Schmerzen Strafen für bestimmte Sünden sind, derer wir uns schuldig gemacht haben. Viele Krankheiten haben wir selbst hervorgerufen durch unmäßiges Leben, durch zu wenig Schlaf, mangelnde Bewegung an der frischen Luft, durch übertriebenes Rauchen und Trinken. Entsprechende Beschwerden im fortgeschrittenen Alter können Sündenstrafen dafür sein. Das erklärt eine Menge des Leids auf dieser Erde.

c) Prüfung

Gott hat die Leiden in seinen Weltplan eingebaut, um uns drittens zu prüfen. Die Menschen, die Gott liebt, werden von Ihm nicht verhätschelt. Der reine, heiligmäßige Diener Gottes Job wurde von Gott besonders geprüft. Und als er die Prüfung bestanden hatte, bekam er alles zurück, was er verloren hatte. Aber erst, als er sie bestanden hatte! Und Tobias wurde ebenfalls von Gott geprüft. Im Buche Tobias steht der schöne Satz: „Weil du angenehm warst vor Gott, mußte die Prüfung dich bewähren.“ Gerade wer Gott wohlgefällig ist, der wird von Gott geprüft. Er wird geprüft durch Leiden und Schmerzen. Und er wird so lange geprüft, bis die Lektion, welche mit jedem Leiden nach Gottes Willen erteilt werden soll, gelernt ist.

Im Leben der großen Heiligen finden wir in der Regel ein Meer von Schmerz. Es ist so, als ob mit der Liebe zu Gott auch die Leiden wachsen, als ob Gott die, welche ihn besonders lieben, auch besonders heimsucht mit Leiden, um sie zu prüfen.

d) Verähnlichung

Und das führt uns zum letzten Zweck, den Gott mit dem Leiden verfolgt. Wir sollen durch das Leiden nicht nur geprüft, sondern noch viel mehr dem Gekreuzigten verähnlicht werden. Der hl. Ludwig Grignion weist die „Freunde des hl. Kreuzes“ darauf hin, daß sie Glieder am Leibe Christi sind: „Ihr seid wahrhaft Glieder des Leibes Christi. Welche Ehre! Wie notwendig ist es aber für euch, in dieser Eigenschaft zu leiden! Das Haupt ist mit Dornen gekrönt, und die Glieder sollten mit Rosen geschmückt sein? Das Haupt wird angespien und auf dem Kreuzweg mit Kot beworfen, und die Glieder sollten sich auf dem Throne mit wohlriechenden Spezereien umgeben? Das Haupt hat kein Kissen, um darauf auszuruhen, und die Glieder sollten weichlich auf Federn und Flaum gebettet sein. Das wäre ein unerhörter Widerspruch, eine sonderbare Mißgestalt.“ Nur unter der einen Voraussetzung können wir an der Herrlichkeit Christi im Himmel teilnehmen: wenn wir in diesem Leben dem gekreuzigten Erlöser ähnlich geworden sind. Und je stärker diese Ähnlichkeit in diesem Leben verwirklicht wird, umso größer ist der Anteil an Seiner Glorie im Himmel.

Der hl. Paulus erweitert den Gedankenkreis, daß wir nämlich durch die Leiden nicht nur dem Haupt in angemessener Weise verähnlicht werden, sondern daß wir auch den anderen Gliedern helfen können, indem wir Gnaden verdienen für die ganze Kirche. So schreibt der Völkerapostel an die Kolosser: „Nun freue ich mich in den Leiden, die ich für euch leide, und erfülle durch mein Fleisch, was an den Leiden Christi noch aussteht, für Seinen Leib, welcher ist die Kirche.“ (Kol. 1,24).

Von diesem Glaubenslicht erleuchtet konnte ein so großer Heiliger wie der hl. Ignatius von Cäsarea einen Leidensdurst entwickeln, der ihn sagen ließ: „Mögen alle Qualen des Teufels sich über mich ergießen.“ Die hl. Teresa von Avila sagte: „Leiden oder sterben.“ Die hl. Magdalena von Pazzi ging sogar noch weiter und betete: „Nicht sterben, sondern leiden!“

Diese inneren Bewegungen in den Seelen dieser Heiligen muß man „übernatürlich“ bezeichnen, denn sie übersteigen das menschliche Empfinden und Urteilen. Gott ist der Urheber dieser übernatürlichen Einsichten und dieses übernatürlichen Eifers. Auf diese Weise sind solche Menschen aufgeschlossen für Gott, und sie nehmen das Leid aus der Hand Gottes entgegen. Es ist kein Zufall, daß alle begnadeten Menschen auch Menschen des Leids sind, und man kann fast die Gleichung aufstellen: Je höher ein Mensch begnadet ist, umso mehr Leid kommt über ihn, umso mehr Leid trägt er. Gnade ist Leid, und Leid wird Gnade.

Wenn wir also das Leiden in unserem Leben spüren, dann erinnern wir uns an die vierfache Bedeutung, die das Leiden haben kann. Es kann uns bessern wollen, es kann uns strafen wollen, es kann uns prüfen wollen, es kann uns noch inniger mit Christus vereinen.

„Mein Herz in Deinen Händen ruht.“

Wenn man dann fragt: „Warum ich? Warum gerade ich? Warum immer ich?“ Da antworten wir: „Es leiden alle!“ Ja, es leiden alle, auch wenn es äußerlich anders scheint. Es gibt kein Leben ohne Leid!

Der Dichter Adalbert von Chamisso hat ein schönes Gedicht geschrieben: „Der Kreuztausch“. In dem Gedicht geht es um einen Mann, der auf einem steinigen Weg in der Sonnenhitze dahinzieht, mit einem Kreuze beladen. Und am Abend, da keucht er und stöhnt er: „Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr, das Kreuz ist zu schwer.“ Dann sinkt er in einen tiefen Schlaf, und Gott erscheint ihm. „Ja“, sagt der Mann zu Gott, „du siehst, das Kreuz ist zu schwer, es ist unerträglich für mich. Gib mir ein anderes Kreuz!“ Gott ist einverstanden. Dann wird er in einen lichten Saal versetzt, und da stehen all die Kreuze des ganzen Menschengeschlechtes, der ganzen Menschheitsgeschichte. „So“, sagt Gott, „suche dir ein anderes Kreuz!“ Da geht der Mann umher, und da sieht er das Kreuz der Verleumdung, das Kreuz der Verachtung, das Kreuz der Verfolgung durch Neider, das Kreuz des Familienzwistes, das Kreuz der Gewissensskrupel, das Kreuz der Krankheit. Er prüft sie, er hebt sie; aber nein, er setzt jedes wieder hin, denn jedes kommt ihm zu schwer vor. „Ja, Herr, muß ich denn wählen?“, sagt er zu Gott. „Ohne Erdenkreuz kein Himmelsglück!“ So geht er weiter und sucht und sucht. Plötzlich, nach langem Suchen, da meint er, ein passendes gefunden zu haben. „Ja, Herr“, sagt er, „das könnte für mich passen. Das könnte ich tragen.“ Und wie er es aufnimmt, da erkennt er, es ist dasselbe Kreuz, das er schon zuvor sein Leben lang getragen hatte.

Wenn wir also versucht sind, gegen unser Kreuz zu murren, dann lassen wir uns vom hl. Franz von Sales sagen: „Gottes ewige Weisheit hat dir dein Kreuz gegeben als Sein kostbares Geschenk. Bevor Er dir dieses Kreuz schickte, hat Er es gemustert mit Seinem allwissenden Auge. Er hat es durchdacht mit Seinem göttlichen Verstand. Er hat es geprüft mit Seiner weisen Gerechtigkeit, durchwärmt mit liebendem Erbarmen. Er hat dein Kreuz gewogen mit Seinen beiden Händen, ob es nicht einen Millimeter zu groß, ein Gramm zu schwer sei. Dann hat Er es noch gesegnet mit Seinem heiligen Namen, gesalbt mit Seiner Gnade, durchhaucht mit Seinem Troste. So kommt dein Kreuz aus dem Himmel als ein Gruß des gütigen Vaters.“

Eingangs sagten wir, das Leid übe ein Richteramt aus. Es richtet über den Menschen. Es ist gleichsam ein Erzengel des Gerichtes. Von ihm geht die letzte Frage an den Menschen, die letzte Herausforderung aus. Das Wort des Völkerapostels gilt: „Es wird niemand gekrönt, er kämpfe denn recht.“ (2. Tim. 2,5). Der Kampf, der uns auferlegt ist, ist eben das Ringen um die Gleichförmigkeit mit dem göttlichen Willen und damit gegen unsere Unwilligkeit, das Kreuz zu tragen. Die Antwort, die der Mensch auf sein Leiden gibt, wird sein Gericht sein. Mit ihm spricht er tatsächlich sein Urteil. Was der Mensch am Ölberg und am Kalvarienberg seines Lebens antwortet, das drückt sein innerstes Wesen aus: Dismas oder Gesmas – die Liebe oder den Haß Gottes. Die Worte am Kreuz sind immer die letzten Worte. Deshalb gelten sie ewig.

Um die heilsnotwendige Ergebenheit in den göttlichen Willen wollen wir in unseren Leiden ringen. Um diese Ergebenheit in den göttlichen Willen wollen und müssen wir beten. Wir wollen es tun mit den schönen Worten des aus Stuttgart stammenden Jesuitenpaters Rupert Mayer: „Herr, wie du willst, soll mir gescheh‘n; / Und wie Du willst, so will ich geh‘n, / hilf, Deinen Willen nur versteh‘n!“ // „Herr, wann Du willst, dann ist es Zeit, / und wann Du willst, bin ich bereit, / heut‘ und in alle Ewigkeit. // Herr, was Du willst, das nehm‘ ich hin, / und was Du willst, ist mir Gewinn, / genug, daß ich Dein Eigen bin. // Herr, weil Du’s willst, drum ist es gut / und weil Du’s willst, drum hab ich Mut, / mein Herz in Deinen Händen ruht.“ Amen.

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