Fest des hl. Ap. & Evangelisten Matthäus
Vom Geist der Armut
Geliebte Gottes!
Der hl. Matthäus war nicht nur Apostel, sondern auch einer der vier Evangelisten. Er hat als erstes die Taten und Lehren des menschgewordenen Sohnes Gottes in hebräischer bzw. aramäischer Sprache niedergeschrieben. Und zwar einer alten Überlieferung gemäß schon im neunten Jahr nach der Himmelfahrt des Heilandes, also im Jahre 42 n. Chr. Wer war dieser erste Evangelist?
Der Zöllner
Der hl. Matthäus war ein Mann, der sich in vielerlei Weise – etwa im Hinblick auf Bildung, gesellschaftliche Stellung und Reichtum – bedeutend von den übrigen Aposteln unterschied. Der Bericht über seine Berufung zum Apostel, den wir soeben gehört haben, läßt einige Rückschlüsse auf seine Persönlichkeit zu.
a) im Vergleich zu den übrigen Aposteln
Wahrscheinlich überragte Matthäus die anderen Apostel schon einmal hinsichtlich des Alters. Denn eine Position, wie sie Matthäus als Oberzöllner an der aufgrund ihres hohen Verkehrsaufkommens überaus einträglichen Zollstation an der berühmten „Via Maris“ innehatte, mußte erdauert und errungen werden.
Sicher übertraf Matthäus die anderen Apostel an Bildung. Sein Beruf als Zöllner setzt eine schulische Ausbildung voraus: Er mußte schreiben, lesen und rechnen können; viel rechnen, vor allem rechnen, fast nur rechnen! Auch der handelsüblichen Fremdsprachen dürfte er wohl mächtig gewesen sein. Durch den Umgang mit Händlern aus aller Herren Länder mußte ihm auch ein reicher Schatz an Erfahrung und nüchterner Menschenkenntnis zu eigen sein, damit ihm niemand ein X für ein U vormachen konnte. Er mußte ferner exakt und genau sein bei der Führung von Tabellen und die Tarife aufstellen. Dazu mußte er über ein gutes Gedächtnis verfügen, vor allem über ein gutes Zahlengedächtnis. Er mußte alle möglichen Preise wissen; die Preise von Getreide, von Öl, von den Fischen, die ihm der hl. Petrus und die Zebedäussöhne gebracht haben, genauso die Preise der Perlen, über die der Heiland im Gleichnis sprach.
Während die übrigen Apostel überwiegend einfache Fischer am See Genezareth waren, hatte es Matthäus mit seinem Geschäft nicht nur zu Wohlstand, sondern zu offensichtlichem Reichtum gebracht. Er besaß wenigstens zwei Häuser, wie aus dem heutigen Evangelium hervorgeht: die Zollstation an der Hauptstraße und das Privathaus in Kapharnaum; offenbar eine große Villa, so geräumig, daß „eine große Menge Zöllner und andere Leute mit Jesus und Seinen Jüngern dort zu Tische sitzen konnten.“ – Die Anwesenheit einer großen Menge Zöllner und anderer Leute offenbart uns seine vielen gesellschaftlichen Beziehungen. Was wußte ein hl. Petrus, ein hl. Johannes oder ein hl. Philippus schon von der „besseren Gesellschaft“? Matthäus wußte darum nur zu gut! Er war gut vernetzt und durchaus einflußreich. Denn Geld regiert die Welt – damals wie heute. Das Sprichwort sagt: „Um das Geld tanzen auch die höchsten Herren ihren Reigen.“ Als „Geldbeschaffer“ kam Matthäus regelmäßig an den fürstlichen Hof in Tiberias, um mit seinem Landesherrn, dem Vierfürsten Herodes, dem Mörder des Täufers, Abrechnung zu halten.
b) in den Augen der übrigen Juden
Das alles ist ausgesagt, wenn es heißt, daß Matthäus ein Zöllner war. Ob er den Beruf auf Geheiß seines Vaters oder aus innerer Neigung oder vielleicht bereits schon aus einer habsüchtigen Gier nach Geld und Reichtümern ergriffen hat, das wissen wir nicht. Was wir aber wissen, das ist, daß Matthäus aufgrund seines Berufes zu den verhaßtesten Menschen in der damaligen jüdischen Gesellschaft zählte. Warum?
Wir dürfen uns das Steuerwesen des Altertums nicht so vorstellen wie das heutige. Es gab dort keine staatliche Behörde wie das Finanzamt, keine detaillierte Steuergesetzgebung und auch keine Steuererklärungen. Im römischen Reich geschah die Erhebung von Abgaben zunächst durch die Steuerschätzung eines ganzen Landstriches, einer Provinz. Eine solche Steuerschätzung war beispielsweise der Anlaß, warum sich Maria und Joseph nach Bethlehem begeben mußten. Sie hatten dort ihren ganzen Besitz anzugeben, damit er in die kaiserliche Steuerliste eingetragen werde. Auf diese Weise wurde für eine ganze Provinz die Steuerlast ermittelt. Diese wurde nun nicht vom Staat eingetrieben. Nein, der Kaiser verlangte die gewaltige Summe von den Reichen und Vermögenden des Landes, von den Großgrundbesitzern. Diese mußten die gesamte Steuerlast der Provinz vorstrecken. Dafür erhielten sie im Gegenzug vom römischen Kaiser das Recht, sich das vorgestreckte Geld durch Steuern und Zölle von den einfachen Leuten zurückzuholen. Weil aber diese Adeligen und Großgrundbesitzer sich nicht selbst um derlei Dinge kümmern wollten, untermieteten sie ihr Steuergebiet an Angestellte, Steuereintreiber und Zöllner, die ihrerseits im gleichen Abhängigkeitsverhältnis zum fürstlichen Steuerpächter standen wie diese zum Kaiser. D. h., die Zöllner hatten eine hohe Summe vorzustrecken, die sie sich dann an der Straße in Form des Wegzolles wieder zurückholen durften. Es versteht sich von selbst, daß ein solches Steuersystem für Mißbräuche Tür und Tor öffnete. Zwar bestanden staatlich festgesetzte Tarife. Aber sowohl der fürstliche Steuerpächter als auch die Zöllner haben sich natürlich nicht nur für ihre Vorauszahlungen an den Zahlungspflichtigen schadlos gehalten, sondern wollten auch einen Gewinn für sich erwirtschaften. So verlangten die Fürsten freilich mehr von ihren Zöllnern, als sie selber zuvor dem Kaiser vorstrecken mußten. Und die Zöllner ihrerseits versuchten dann natürlich, den einfachen Leuten mehr abzuknöpfen, als sie selbst an die Landesfürsten abzuführen hatten. Überall im Römischen Reich war die Volksstimmung gegen die Steuereintreiber und Zöllner darum bitterböse. „Zöllner“ hieß so viel wie „Dieb“ und „Betrüger“. Der berühmte römische Rhetor Cicero nannte den Beruf des Zöllners den schlimmsten aller Berufe.
In noch höherem Maße waren die Zöllner bei den Juden verhaßt. Denn es galt in ihren Augen als besondere Schmach für die verhaßte römische Besatzungsmacht, dem auserwählten Volke Gottes Steuern und Zölle abzupressen. Ein Jude saugt den anderen Juden aus, und das auch noch für fremde Besatzer, für Heiden! Das war nicht nur Betrug und Diebstahl, das war ein Verbrechen an der Heimat, an der Religion und damit letztlich an Gott. Deshalb die große Verachtung gegen die Zöllner. Man durfte sie belügen, beschwindeln, bestehlen. Ihre Familien galten als ehrlos. So waren die Zöllner aus der völkischen und religiösen Gemeinschaft Israels ausgestoßen.
Wenigstens ein großes Mißtrauen gegen die Zöllner scheint auch unter den ersten Christen vorhanden gewesen zu sein. Das scheint sich nämlich in einer Besonderheit der übrigen synoptischen Evangelien niedergeschlagen zu haben. Der Zöllner Matthäus trug offenbar einen Doppelnamen: „Levi-Matthäus“. Das war durch den Einfluß des Hellenismus aus dem 2. Jahrhundert vor Chr. auch bei Juden an sich nichts Außergewöhnliches. Man denke nur an den jüdischen Priester und Volkshelden „Judas Makkabäus“. – Was jedoch im Falle des hl. Evangelisten auffällt, ist, daß er sich zwar in seinem eigenen Evangelium klar mit jenem Namen nennt, mit dem er bei den Christen bekannt war: Matthäus – vom Hebräischen „mattai“ –, was so viel bedeutet wie „Geschenk Gottes, Gottesgabe“. Die anderen Synoptiker Markus und Lukas hingegen nannten ihn später ausschließlich „Levi, den Sohn des Alphäus“. Und das geschah nach dem hl. Hieronymus aus folgendem Grunde: „Die anderen Evangelisten wollten aus Verehrung und Hochachtung vor Matthäus ihn nicht bei seinem allgemein bekannten Namen nennen, sondern sagten ‚Levi‘.“ (Migne, PL 26,57). Die anderen Evangelisten gebrauchten also den unter den Christen weniger bekannten Zweitnamen „Levi“, um das apostolische Ansehen und die Autorität des Apostels Matthäus vor dem allgemeinen Vorurteil, das auch die ersten Christen dem Zöllner gegenüber zu hegen schienen, zu schützen. Das Apostelamt des Matthäus sollte nicht in Verruf geraten oder dessen Zeugnis in Frage gestellt werden, indem einer behauptete, er sei ja als ehemaliger Zöllner ohnehin ein Betrüger und Feind Gottes.
Die Bekehrung des „Levi“ zu „Matthäus“
Matthäus selbst nennt sich in seinem eigenen Evangelium mit seinem „Klarnamen“ und bekennt sich auf diese Weise demütig zu seinem Vorleben als Zöllner. Auch dafür nennt der hl. Hieronymus den Grund: „Der Apostel selber nennt sich ‚Matthäus‘ und ‚Zöllner‘. Er will den Lesern dadurch zeigen, daß keiner am Heile verzweifeln soll, wenn er sich zu einem besseren Leben bekehrt. Wurde er doch selbst aus einem Zöllner plötzlich in einen Apostel verwandelt.“ (ebd.).
Genau damit müssen wir uns jetzt eingehender beschäftigen: wie der Zöllner plötzlich in einen Apostel verwandelt wurde. „Jesus sagte zum Zöllner Matthäus: ‚Folge Mir!‘ Und dieser stand auf und folgte Ihm nach.“ (Mt. 9,9). Zwei Worte des Heilandes haben genügt – „Folge Mir!“ – und Matthäus läßt sein ganzes bisheriges Leben – seinen Reichtum, seine Beziehungen, sein ganzes Geld – mit einem Mal zurück, um Jesus nachzufolgen. Ausgerechnet diesem Jesus, der von sich sagte, daß Er nichts habe, „worauf Er Sein Haupt hinlegen kann“.
Zweifelsohne ist diese plötzliche Bekehrung des Zöllners zum Apostel der übernatürlichen Gnadenkraft, die dem Wort Jesu innewohnt, geschuldet und auch der Anziehungskraft, welche seine göttliche Persönlichkeit ausstrahlt. Aber mit dem hl. Johannes Chrysostomus dürfen wir annehmen, daß die schneidende Pflugschaufel der göttlichen Gnade die Seele des Matthäus schon längere Zeit zuvor beackert hat. Ein reicher Mann, der im Überfluß gelebt hatte; schon gar nicht ein Mann vom Alter und dem nüchternen Realismus eines Geschäftsmannes, wie Matthäus einer gewesen ist, handelt so, wenn er nicht den Ruf in ein neues Leben der Armut als eine wahre Erlösung empfunden hätte. Es mußte eine heimliche Folter vorangegangen sein, die ihn auf den Eintritt der Gnade vorbereitet hatte. Der hl. Chrysostomus sagt: „Christus berief Matthäus, als Er wußte, daß derselbe kommen würde. Er berief ihn nicht gleich schon am Anfang, als sein Herz noch schwerer zugänglich war, sondern erst, nachdem Er unzählige Wunder gewirkt und Sein Ruf sich weit verbreitet hatte, und als Er ihn geneigter zum Gehorsam wußte.“ (Migne, PG 57,361).
Die Anhänglichkeit an die irdischen Güter ist eine schwere Last, welche die Seele, die ja selbst geistig und für die übernatürliche Welt Gottes geschaffen ist, ins Diesseitig-Materielle bannt und sie daran hindert, sich zu Gott aufzuschwingen, wie eine Kette den Vogel zurückhält, sich in die Lüfte zu erheben. Vor seiner Bekehrung war er in der Tat eher ein „Levi“, so wie ihn die anderen Synoptiker bezeichnet haben. Der Name „Levi“ bedeutet nämlich so viel wie „der Anhängliche, der Gebundene“. Matthäus war ein an die Reichtümer dieser Welt „Gebundener“, ein „Anhänglicher“, denn sein Herz war angekettet an seinen Besitz und nicht frei. Jetzt trat Jesus in sein Leben und befreite ihn von dieser drückenden Last, von dieser Quelle der Traurigkeit.
Als welch großes „Geschenk Gottes“ der hl. Matthäus diese ihm widerfahrene Gnade der „Erlösung vom Geld“ aufgefaßt haben muß, wird besonders an der jubelnden Freude sichtbar, mit der er die gewonnene innere Freiheit feiert. Der hl. Lukas berichtet: „Levi bereitete Ihm in seinem Hause ein großes Gastmahl. Eine große Menge Zöllner und andere Leute saßen mit ihnen zu Tische.“ (Lk. 5,29). Keiner der anderen Apostel hatte seine Berufung so festlich begangen und seinen Abschied von seinem bisherigen Leben so groß gefeiert. Dieser freigiebige Jubel läßt uns zurückschließen auf die einengende Qual, welche die Zöllnerei dem hl. Matthäus bereitet haben mußte. Ein qualvolles Fegefeuer war es ihm gewesen. Aber die erbarmende Hand des Herrn hatte ihn ergriffen und ihn in das Paradies der armen Nachfolge Christi geführt. Und er, Matthäus, hat sich von dieser göttlichen Hand auch ergreifen und sich führen lassen.
Daß nämlich auch ein gewisses Maß der Mitwirkung mit der angebotenen göttlichen Gnade vom hl. Apostel gefordert war, das zeigt uns das traurige Kontrastbild, welches uns der hl. Matthäus selber in seinem Evangelienbericht aufgezeichnet hat. – Eines Tages trat ein reicher Jüngling an den Herrn heran und fragte, was er denn tun solle, um zum ewigen Leben zu gelangen. Er erhielt die Antwort: „Halte die Gebote.“ „Ich habe sie von Jugend an befolgt“, antwortete der Jüngling. Das sind doch die besten Voraussetzungen für die Nachfolge Christi, möchte man meinen. Da ist ein gottesfürchtiger junger Mann, kein Verbrecher, kein Dieb, kein Betrüger, kein Zöllner! Da fügte der göttliche Heiland hinzu: „Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe alles, was du hast, und gib den Erlös den Armen, und dann komm und folge Mir nach.“ Auch hier fallen wieder die gnadenhaften Worte: „Folge Mir!“ Als aber der Jüngling dieses Wort gehört hatte, ging er traurig von dannen. Weshalb die Traurigkeit? „Weil er“, so sagt der hl. Matthäus, „viele Güter besaß.“ (Mt. 19,16 ff.). Der reiche Jüngling wollte seine Güter lieber bewahren, statt sie aufzugeben, dem Ruf des Herrn zu folgen und als „Menschenfischer“ Seelen zu gewinnen. Die Gnade war ihm angeboten, wie zuvor dem hl. Matthäus, doch der reiche Jüngling wollte im Gegensatz zum Zöllner nicht mitwirken.
Der Geist der Armut
Zu jedem von uns hat Christus gesprochen: „Folge Mir!“ Jeder Katholik ist am Tag seiner Taufe, am Tag seiner Bekehrung, in die Nachfolge Christi gerufen worden. Heißt das nun, daß auch wir, wenn wir das ewige Leben erlangen wollen, alle unsere Güter verkaufen müssen und den Erlös davon den Armen geben müssen? Gewiß nicht! Nicht jeder ist auf den Weg der vollkommenen Armut gerufen. Das sind vor allem nur die zum Ordensstand Berufenen. Die tatsächliche Übung der vollkommenen Armut ist ein evangelischer Rat, keine Verpflichtung. Aber um vollkommen zu sein, muß man wenigstens den Geist dieses Rates besitzen, also den Geist der Losschälung von den irdischen Gütern, selbst wenn man dieselben behält.
Den „Geist der Armut“ forderte der Herr, als Er unmittelbar nachdem sich der reiche Jüngling von Ihm abgewandt hatte sprach: „Wahrlich, Ich sage euch, ein Reicher wird schwerlich in das Himmelreich eingehen. Ja, Ich sage euch abermals: Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr hindurchgeht, als daß ein Reicher in das Himmelreich eingeht.“ (Mt. 19, 23 f.). Und an anderer Stelle sagte der Heiland: „Selig die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich.“ – Wer sind also die „Armen im Geiste“ bzw. was ist der „Geist der Armut“, den jeder von uns besitzen muß?
a) Arme Reiche und reiche Arme
Der hl. Thomas von Aquin sagt im Anschluß an den hl. Augustinus, daß die materiellen Güter die Menschen spalten, während die geistigen Güter die Menschen einen (vgl. S.th. III q. 23, a. 1, ad 3). Das liegt daran, daß es unmöglich ist, daß mehrere Menschen zugleich dasselbe Haus, dasselbe Stück Land oder denselben Ehepartner besitzen können. Nur einer kann dieses Haus bewohnen, dieses Grundstück besitzen, dieses Auto fahren, diese Frau bzw. diesen Mann heiraten. Aus dieser Tatsache erwachsen die unzähligen Interessenskonflikte, welche die Menschen entzweien durch Uneinigkeit, Streit, Klagen, Prozesse, bis hin zum Krieg. – Die geistigen Güter hingegen können sehr wohl mehreren zur gleichen Zeit und zur Gänze gehören: die Wahrheit, die Tugend, der Glaube, ja sogar Gott selbst sind geistige Güter. Mehrere können zur selben Zeit die gleiche Tugend, die gleiche Wahrheitserkenntnis, denselben Gott besitzen, der sich jedem von uns in der hl. Kommunion ganz hingibt. – Während also die Losschälung von den Gütern dieser Welt die Menschen frei macht und den Sinn ihrer Herzen in dem Streben nach Gott eint, werden die Herzen durch die Jagd nach äußeren Gütern und Reichtümern entzweit und von selbstsüchtiger Gier versklavt.
Es hieße jedoch, den Geist der Armut mißverstehen, wollte man ihn auf die Entäußerung von allen irdischen Gütern beschränken. Es gab Reiche, die losgeschält waren von ihrem Besitz, ganz nach dem Wort des hl. Paulus „besitzen sie die Güter dieser Welt, als besäßen sie dieselben nicht.“ (1. Kor. 7,31). Darin besteht das entscheidende Wesensmerkmal der „Armut im Geiste“: Jene, die den „Geist der Armut“ besitzen, besitzen die Güter dieser Welt – ob es nun viele sind oder wenige, ist einerlei – sie besitzen die Güter dieser, als besäßen sie dieselben nicht! Inmitten des materiellen Reichtums ist ihr Herz frei. Es ist frei, weil es nicht an den geschaffenen Gütern hängt, weil ihr Herz nicht von seiner Habe besessen wird. Solche Menschen sind „Arme im Geiste“.
Der Geist der Armut zeigt sich darin, daß Menschen, die diesen Geist besitzen, gerne von dem eigenen mitteilen, jedem das Seine von Herzen gönnen, niemanden beneiden, sich selbst enthalten von unnötigen Ausgaben, sich also auf das zum standesgemäßen Leben Notwendige beschränken und sich selbst in dem zum Leben Notwendigen bescheiden zeigen. Ferner zeigt sich der Geist der Armut bei den Besitzenden auch darin – jawohl –, daß sie gern und freudig von dem, was sie nicht nötig haben, den Bedürftigen mitteilen. Denn: „Einen freudigen Geber hat Gott lieb.“ (2. Kor. 9,7). – Solche losgeschälte Seelen sind ferner nicht ängstlich besorgt um sich selbst oder um ihren Besitz oder um ihre Zukunftsaussichten, sondern sie setzen ihr ganzes Vertrauen auf Gott und stellen alles Seiner weisen Vorsehung anheim, gemäß der Forderung Christi: „Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, und alles Übrige wird euch dazugegeben werden.“ (Mt. 6,33). – Ja, und wenn sie durch Schicksalsschläge all ihren Reichtum verlieren, dann tragen sie die tatsächliche Armut nicht nur in Sanftmut und Geduld, sondern bewahren sich dabei auch eine heilige Heiterkeit und sprechen mit dem Dulder Job: „Gott hat es gegeben. Gott hat es genommen. Gepriesen sei der Name des Herrn.“ (Job 1,21). – Schließlich zeigt sich der „Geist der Armut“ in seiner Vollkommenheit durch die Entblößung auch vom innerlichen Reichtum des Menschen. D. h. in dem Verzicht auf die Behauptung und Durchsetzung der eigenen Urteile und Meinungen, im Verzicht auf Besserwisserei und Kritiksucht, im Verzicht auf die Eigenliebe und auf den Eigensinn. Das sind nämlich jene innerlichen „Reichtümer“, welche unsere Selbstsucht am eifersüchtigsten bewacht und am wenigsten bereit ist, aufzugeben. Nur wer sie aufgibt, ist wahrhaftig innerlich arm geworden. Erst dann ist das Herz leer genug, damit sich ihm Gott ganz schenken kann.
Im Gegensatz zu den „Armen im Geiste“ gibt es wirkliche Arme, welche aber die Reichtümer dieser Welt begehren und vom Geiz beherrscht an dem wenigen hängen, das sie besitzen. Sie mißgönnen den Wohlhabenderen ihre Güter und Möglichkeiten und hadern mit Gott wegen ihres Schicksals. Ihre Armut ist nur eine äußerliche, eine bittere, quälende, zornmütige. Diese „Armut“ hat die Revolutionen, den Sozialismus und den Kommunismus hervorgebracht. Sie äußert sich in einer blinden und zerstörerischen Wut des Vandalismus, der beseelt ist von dem Gedanken: „Wenn ich diese Güter nicht haben kann, dann soll sie auch kein anderer haben.“ Selbst wenn solche Menschen äußerlich arm sind, so ist ihr Herz beseelt von unersättlicher Gier nach materiellen Gütern, nach Gütern, die sie nicht besitzen. Solchen Armen fehlt die Tugend ihres Standes. Oft neigen sie auch sonst zum Stolz und zur Prahlsucht, denn sie definieren sich über ihre Habe und darüber, was sie im Vergleich zu anderen gelten. In Wirklichkeit zählen solche „Arme“ also zu den „Reichen im Geiste“, zu jenen Reichen, die nicht oder wenigstens sehr schwer in das Himmelreich eingehen, weil ihr Herz reich ist an Begierde und Zorn und Selbstsucht.
b) Die Seele der Armut
Dieser unselige „Geist des Reichtums“ ist zurückzuführen auf einen Mangel an übernatürlichem Glauben und vor allem auf einen Mangel an übernatürlicher Hoffnung.
Wenn der Glaube in einer Seele lebendig ist, so gibt er ihr das Verständnis dafür, daß Gott alle Güter der Erde – materielle wie geistige Güter – unendlich weit übertrifft. In diesem Sinne sagt der hl. Papst Gregor d. Gr. in Bezug auf den hl. Benedikt: „Eng und gering erscheinen alle erschaffenen Dinge der Seele, die den Schöpfer [im Licht des Glaubens] schaut.“ (I. Dial. II,35). Der Glaube zeigt uns den vollkommenen Besitz Gottes als jene kostbare Perle, von welcher der Heiland im Evangelium spricht (vgl. Mt. 13,46). Um diese zu erlangen, erkennt die Seele durch das Licht des Glaubens die Notwendigkeit, alles zu verkaufen, sich innerlich von allem frei zu machen, um all ihre Vermögen und Kräfte allein auf die Erlangung des einen Notwendigen zu konzentrieren. Die gläubige Erkenntnis Gottes als das einzig notwendige Gut, für das es sich lohnt, alles hinzugeben, ist die Wurzel des „Geistes der Armut“.
Dieser erleuchtete Glaube entfaltet sich sodann in der Hoffnung. Er bewirkt, daß die Seele nach keinem anderen Gut mehr verlangt und daß der Verlust irgendeines anderen Gutes außer Gott sie nicht betrübt. So rief der hl. Franz von Assisi in gläubiger Hoffnung aus: „Mein Gott und mein alles!“ Und die hl. Theresa von Avila versichert uns, von derselben Hoffnung beseelt: „Wer Gott hat, der hat alles. Gott allein genügt.“ In einem ersten Schritt zeigt sich die Hoffnung darin, daß wie der Völkerapostel so auch die Seele alle Güter so betrachtet „wie Kehricht, um Christus zu gewinnen“. (Phil. 3,8). Deshalb betrübt sie sich nicht, wenn sie dieselben verliert, oder wenn man ihr dieselben vorenthält. Sie entäußert sich, löst sich los, um mehr Freiheit zu haben. Mag Gott auch ihre Hoffnung prüfen; mag Er sich verbergen, mag Er auf sich warten und die Seele in Dürre und Verlassenheit schmachten lassen. Wenn die Seele in alledem treu darin bleibt, nur Gott zu suchen und in Ihm allein ihre Seligkeit zu verlangen, so kann sie sicher sein, daß Gott eine solche Hoffnung nicht enttäuschen, sondern sich ihr nach dem Maß ihres Vertrauens und Verlangens schenken wird.
Ja, zum „Geist der Armut“ gehört nicht nur das alleinige Verlangen nach Gott, es muß – zweitens – auch das Vertrauen, und zwar ein Vertrauen auf die Güte Gottes, hinzukommen. Die Tugend der Hoffnung weiß, daß sie aus eigener Anstrengung nicht in den Besitz Gottes gelangen kann. Gott muß sich ihr schenken. Die Zuversicht, daß sich Gott der Seele schenken wird, beruht auf dem Vertrauen auf die Güte Gottes, das der Heiland in uns mit den Worten zu wecken versucht: „Wenn ein Kind seinen Vater um Brot bittet, wird dieser ihm eine Schlange reichen? Und wenn ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wißt, um wieviel mehr wird euer Vater im Himmel euch die Güter geben, derer ihr bedürft.“ (Mt. 7,9.11). Die Hoffnung auf die Güte Gottes macht uns geneigt, von Gott all das zu erwarten, was zu unserer Heiligung notwendig ist. Seien es die materiellen Gaben – Speise, Kleidung etc. –, seien es die geistigen und übernatürlichen Gaben – dazu gehören übrigens auch die Prüfungen und Opfer. Jedem teilt Gott zu, was ihm zur Erlangung der Seligkeit notwendig ist.
Zusammengefaßt findet die Seele alles, was sie für die Vervollkommnung und Heiligung erwünschen könnte, in Jesus Christus. Denn so belehrt uns der hl. Paulus: „In Ihm sind alle Wunder der Gottheit, alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis.“ (Kol. 2,3). Er ist „unsere Erlösung, unsere Gerechtigkeit, unsere Heiligung“. (1. Kor. 1,30). Ja, wenn wir doch die Gabe Gottes, die uns in Jesus Christus geschenkt worden ist, erkennen würden! Wir würden unser Glück nicht mehr von den vergänglichen Gütern erbetteln, sondern uns ihrer nach Möglichkeit entäußern, um die Aufnahmefähigkeit unserer Seele für die wahren Schätze zu erweitern. Wir würden sorgfältig darüber wachen, unser Herz auch nicht im Geringsten an irgendein Geschöpf zu hängen, das uns von Gott zurückhält.
Wenn unser Herz wirklich frei ist von allen Dingen; wenn wir unser Glück nur in Gott allein suchen und alles – Freud und Leid – als Seine Gaben aus Seiner gütigen Hand entgegennehmen in dem gläubigen Vertrauen, daß all das zur Heiligung unserer Seele notwendig ist, dann kann sich Gottes Freigebigkeit an unserer „Armut im Geiste“ verherrlichen. Er wird uns dann mit Sich selbst erfüllen, wie Er einst zu Abraham sprach: „Ich Selbst will dein übergroßer Lohn sein.“ (Gen. 15,1). Ich, der Ich Gott bin, Ich werde es keinem anderen überlassen, euren Durst zu löschen, den Durst nach Seligkeit!
Der Schatz der Kenntnis Christi
Es ist auffällig, daß damals, als der Heiland mit seinen Aposteln durch Palästina zog, nicht der hl. Matthäus, der gewandte und erfahrene Geschäftsmann, die Kasse führte, sondern Judas Iskarioth. Matthäus durfte sich der gewonnenen Freiheit von der Sorge um das Irdische erfreuen und war gewiß froh, von der Sorge um das Geld in der Kasse verschont zu bleiben. Judas und Matthäus. Beide Apostel hatten mit Geld und der Sorge für das zeitliche Wohl zu tun. Doch wie verschiedene Wege gingen sie! Matthäus verließ das Geld, erlangte im Geiste der Armut die Freiheit des Herzens und ist heute im ewigen Besitz Gottes. Judas verriet den Herrn, um Geld zu gewinnen – dreißig Silberlinge, wie ihm der hl. Matthäus als einziger der Evangelisten genau nachrechnet – und ging ewiglich verloren. Deutlicher als die anderen hebt das Matthäusevangelium hervor, wie dem Judas das Geld zum Verhängnis geworden ist. Hatte der „Zöllner“ es wohl so kommen sehen? Mit der tiefen Sorge eines Mitbruders, der um den Zauber des Geldes wußte, mag er den Hang des Judas Iskarioth zum Geld beobachtet und ihm so manches gute, ernste, mahnende Wort darüber gesagt haben. Im Gegensatz zum hl. Johannes, aus dessen Evangelium hervorgeht, wie leidenschaftlich er das Verhalten des „Verräters“ mißbilligte, berichtet der hl. Matthäus nüchtern und sachlich über Judas. Er mag vielleicht, auf Judas schauend, sein eigenes Schicksal gesehen haben, wenn ihn das Erbarmen des Herrn nicht von der Zollstätte weggerissen hätte. Er hat freilich, anders als Judas, der zunehmend vom „Geist des Habens“ besessen wurde, diese ausgestreckte Hand des Herrn in tiefem Dank ergriffen und wurde „im Geiste arm“. Weil er aber sein Herz von aller Anhänglichkeit an das Materielle befreit und entleert hatte, war darin Platz, alles, was Jesus gesagt und getan hat, tief in sich aufzunehmen und es in reinem Herzen zu bewahren und zu erwägen.
In den Berichten der vier Evangelien tritt der hl. Matthäus außer der Apostelwahl sonst nicht mehr namentlich in Erscheinung. Auch über sein apostolisches Wirken und die genauen Umstände seines Martyriums gibt es wenig verläßliche Zeugnisse. – So unbefriedigend die Nachrichten über die weiteren Schicksale des Apostels sind, so bedeutsam ist das Werk, das er hinterlassen hat. Ein Werk, das ihn zu einem wichtigen, ja nach dem hl. Petrus und dem hl. Johannes vielleicht sogar zu dem wichtigsten unter den zwölf Aposteln gemacht hat: Der hl. Matthäus hat uns – wie wir Eingangs sagten – das erste Evangelium geschenkt. So ist er auch für uns zum „Mattai“, also zum „Geschenk Gottes“, geworden.
Der Heiland hatte ihn vom Schreibtisch seiner Zollstation – weg vom Zählen der Münzen, weg von so mancher Betrügerei und weg von jeder Gelegenheit, derlei Sünden zu wiederholen – in Seine Nachfolge gerufen. Dankbar und freudig ist er an den heiligen Schreibtisch zurückgekehrt und hat uns mit der Genauigkeit eines Zöllners die Worte und Taten niedergeschrieben, die er gesehen und gehört hat. Dabei hat er seine Erfahrungen und Erkenntnisse gleich einem geistigen Schatz von Gold, Perlen und Edelsteinen auf seinem geistigen Zolltisch und auf die Seiten seines Evangeliums ausgegossen, nicht um uns zu betrügen, sondern um uns damit zu bereichern.
Wenn wir es doch, nachdem wir die Kammern unseres Herzens durch den „Geist der Armut“ entleert haben, verstünden, dieselben durch Lesung und Betrachtung des Matthäusevangeliums mit den darin enthaltenen geistigen und göttlichen Schätzen anzufüllen. Dann würde das Wort des hl. Paulus auch von uns gelten: „Ihr seid in Christus so reich geworden, daß ihr an keiner Gnadengabe Mangel habt.“ (1. Kor. 1,7). Amen.