Von der Würde und Bedeutung des „Ave Maria“

Geliebte Gottes!

Die Jahrbücher des Franziskanerordens berichten von P. Gabriel von Ancona. Dieser bekleidete das Amt des Guardians eines Franziskanerklosters in den italienischen Marken. Er war also der Hausoberer einer franziskanischen Gemeinschaft und in derselben lebte auch ein Novize, der Br. Ludwig von Albanien hieß. Diesem wurde vom P. Guardian befohlen, täglich vor dem Mittagessen den Rosenkranz zu beten. Der junge Ordensbruder tat das sowohl im Gehorsam als auch aus frommer Neigung. Eines Tages aber hatte Br. Ludwig so viele Aufgaben zu bewältigen, daß er ganz auf den Rosenkranz vergaß, ehe ihn das Glockenzeichen zum Mittagessen rief. Als er mit der Klostergemeinschaft den Speisesaal betrat, fragte ihn der Guardian, ob er denn den Rosenkranz gebetet habe. „Nein“, antwortete der junge Bruder, „ich habe ihn leider vor lauter Arbeit zu beten vergessen.“ Da wies ihn der Guardian an, sogleich in die Kirche zu gehen und erst den Rosenkranz zu beten, ehe er sich zu Tisch begeben dürfe. Der Novize gehorchte. Nach einer Zeit sandte der Obere einen anderen Bruder dem jüngeren in die Kirche hinterher. Er sollte nachsehen, was der Novize dort mache, und ihm darüber berichten. Der Ältere kam in die Kirche und sah den jungen Bruder dort beten. Doch er war nicht allein, sondern ganz von himmlischem Licht umflossen in Gesellschaft der allerseligsten Jungfrau und zweier Engel. Sooft er ein Ave Maria betete, kam eine schöne Rose aus seinem Mund. Die Engel aber nahmen eine Rose nach der anderen, flochten daraus einen Kranz, woran die Gottesmutter große Freude zeigte. Voller Staunen vergaß der ältere Bruder, zum Guardian zurückzukehren, um ihm zu berichten. Dieser sandte nun einen anderen, dem es aber ebenso erging. Schließlich ging der Guardian selbst nachsehen und kam gerade recht, als der Novize mit dem Rosenkranz fertig wurde. Erst als der Rosenkranz fertig gebetet war, setzten die Engel den Kranz aus Rosen auf das Haupt der Gottesmutter, ehe die Erscheinung entschwand. Einzig ein lieblicher Rosengeruch blieb zurück, den man nach dem Zeugnis der Ordenschronik dort noch viele Jahre an jener Stelle wahrnehmen konnte (vgl. Reineccius; „Chronik der Mindern Brüder“, S. 109).

Auch wenn wir den Rosenkranz beten, sammeln wir mit jedem „Ave“ eine Rose für die Gottesmutter. Das soll uns Anlaß sein, uns heute eingehender mit der Bedeutung des „Ave Maria“ oder des „Englischen Grußes“, wie das „Ave“ auch genannt wird, zu befassen.

Die Urheberschaft

Bevor wir ein frommes Buch zu irgendeinem interessanten Thema zur Hand nehmen, um darin zu lesen, fragen wir für gewöhnlich: „Wer hat es geschrieben?“ Stammt es von einem ungelehrten Autor, von einem unzuverlässigen oder gar ungläubigen Verfasser, dann werden wir es besser wieder weglegen. Stammt es aber von einem gelehrten, allgemein anerkannten, ja vielleicht sogar heiligen Autor, dann werden wir mit Aufmerksamkeit und Ehrfurcht darin lesen, auch wenn uns dabei vielleicht nicht gleich alles klar einleuchten wird.

Von wem stammt das „Ave Maria“? – Es stammt von drei Urhebern: vom hl. Erzengel Gabriel, von der hl. Elisabeth und von der hl. Kirche. Der Engel sprach: „Gegrüßet seist du, voll der Gnade, der Herr ist mit dir, du bist gebenedeit unter den Weibern.“ Die Base Elisabeth fügte die Worte hinzu: „Und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes.“ Schließlich fügte die Kirche zum einen die heiligsten Namen „Maria“ und „Jesus“ hinzu. Der Erzengel sagte ja nicht „Gegrüßet seist du Maria, voll der Gnade“, sondern „Gegrüßet seist du Gnadenvolle“. Und auch der hl. Elisabeth wurde nur die gebenedeite Frucht des Leibes Mariä vom Heiligen Geist geoffenbart, nicht aber der Name Jesus. Deshalb setzte die Kirche die beiden heiligsten Namen ein. Schließlich fügte die Kirche auch noch das abschließende Bittgebet hinzu: „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.“

Der hl. Erzengel handelte dabei keineswegs in eigener Vollmacht. Er verkündete den ersten Teil des „Ave Maria“ im Auftrag Gottes. Mit dem zweiten Teil hat die vom Heiligen Geist erleuchtete hl. Base Elisabeth die allerseligste Jungfrau gepriesen. Das Bittgebet aber hat die vom Heiligen Geist erleuchtete und geleitete hl. Kirche hinzugefügt. Wir können also mit Recht sagen: Das „Ave Maria“ kommt in all seinen Teilen von Gott! Wie das Vaterunser, das uns der Sohn Gottes persönlich gelehrt hat, so enthält auch das „Ave Maria“ wichtige Geheimnisse und Lehren, die von uns beim Beten des Rosenkranzes – neben dem Inhalt der 15 Geheimnisse – öfters erwogen werden sollten, damit sie ihren heilsamen Einfluß auf unsere Seele entfalten können.

Das Lobgebet

Der hl. Thomas von Aquin weist in seiner „Erklärung des Englischen Grußes“ darauf hin, daß es schon von Alters her als eine große Auszeichnung betrachtet wurde, wenn Engel den Menschen erschienen. Auch rechnete man es den Menschen zum höchsten Lob an, wenn sie den Engeln Ehrfurcht bezeigten. So wird Abraham gelobt, weil er die drei Engel an der Eiche von Mamre gastfreundlich aufgenommen hatte und ihnen ehrfürchtig begegnet war. – Was aber bisher gänzlich unerhört war, das war die Tatsache, daß ein Engel – und noch dazu ein Erzengel – einem Menschen Ehrfurcht erwies, wie es der Erzengel Gabriel getan hat, als er der Jungfrau Maria seinen Gruß entbot.

Den Grund dafür, daß in der gesamten Heiligen Schrift nicht die Menschen von den Engeln, sondern umgekehrt die Engel von den Menschen verehrt wurden, führt der Aquinate auf drei Punkte zurück, worin die Engel den Menschen als höhere Wesen überlegen sind, nämlich

  1. hinsichtlich ihrer Würde,
  2. hinsichtlich ihrer Nähe zu Gott und
  3. aufgrund ihres göttlichen Gnadenlichtes.

Hinsichtlich ihrer Würde überragen die Engel den Menschen, weil sie eine rein geistige Natur besitzen und dadurch von Natur aus der Einfachheit Gottes am ähnlichsten sind. Die Natur der Menschen hingegen ist zusammengesetzt aus Leib und Seele. Was aber zusammengesetzt ist, das ist auch teilbar und damit sterblich. Die Seele des Menschen ist an Staub und Asche gebunden. Daher war es angemessen, daß der Mensch als ein vergängliches Geschöpf den rein-geistigen, unvergänglichen Engeln Ehrerbietung erweist.

Ferner stehen die Engel Gott viel näher als die Menschen. Sie sind die Bewohner des Himmelreiches, die Thronassistenz Gottes. Der Mensch dagegen ist Angehöriger eines gefallenen Geschlechtes, ein Erdenkind, oft verhaftet im Irdischen und durch die Sünde für Gott nicht nur ein Fremdling, sondern auch weit, weit von Ihm entfernt. Daher ist es angemessen, daß die Menschen die Engel als Freunde und Hausgenossen Gottes verehren.

Schließlich überragen die Engel den Menschen auch hinsichtlich des Gnadenlichtes. Sie nehmen am göttlichen Lichte in vollstem Maße Anteil. Gott erleuchtet die Engel unmittelbar, durchdringt sie völlig, kann sich ihrer vollkommen bedienen, spricht aus ihnen. Darum, so sagt der engelgleiche Lehrer, erscheinen sie immer von Licht umflossen. – Die Menschen dagegen nehmen an der göttlichen Gnade – wenn überhaupt – nur in sehr beschränktem Maße teil.

Es war daher geziemend, so schließt der hl. Thomas seine Einleitung, daß die Menschen den Engeln Ehrerbietung erwiesen, bis ein mit der menschlichen Natur bekleidetes Wesen gefunden würde, das in dieser dreifachen Hinsicht mit noch größeren Vorzügen ausgestattet wäre, als es selbst die Engel sind.

a) „Gegrüßet seist du“

Und ein solches Wesen war die allerseligste Jungfrau Maria. – Um ihren dreifachen Vorzug vor den Engeln anzudeuten, sprach Gabriel seinen Gruß aus – „Gegrüßet seist du“ – und gab sich als der Niedrigere gegenüber der Höheren zu erkennen, denn in der Ordnung des Kosmos grüßt immer der Niedrigere den Höhergestellten und nicht umgekehrt. Schon ehe Gabriel zu Maria kam, hatten er selbst und andere Engel den Menschen göttliche Botschaften gebracht, nie aber einen Gruß.

Der Gruß ist ja eine Verbeugung vor dem Guten, das man im Anderen wahrnimmt. Je reiner und reicher ein Mensch mit geistigen und übernatürlichen Gütern ausgestattet ist, desto begrüßenswerter wird er. Maria ist die Erste und auch die Einzige, die würdig ist, selbst von einem Engel den Gruß entboten zu bekommen.

Ein frommer Ausleger weist außerdem darauf hin, daß das „Ave“ des Erzengels Gabriel jedoch mehr war als nur ein Gruß. Es war auch eine Wiedergutmachung für die Anrede eines Artgenossen Gabriels, der im Paradies die erste Frau ansprach. Doch nicht um sie zu ehren, sondern um sie und ihr gesamtes Geschlecht aus Neid zu verderben. Durch den Gruß sollte also an Maria durch einen Engel gesühnt werden, was dem weiblichen Geschlecht durch Satan angetan wurde.

Wenn sich nun ein Engelsfürst, der uns aufgrund seiner Würde und Nähe zu Gott überragt und mehr als wir von der Gnade erleuchtet ist, vor Maria demütigt, indem er ihr den Gruß erweist, warum sollten wir Menschen es nicht auch tun? – Wenn Gott, der Herr, Maria selbst durch den Erzengel grüßen läßt, ihr damit höchste Ehre erweist und sich selbst damit als größten Marienverehrer offenbart, warum sollten wir Ihm, unserem Schöpfer und Herrn, darin nicht nachfolgen? Wenn Maria schon so gegrüßt wurde, als sie noch auf Erden lebte und noch bevor sie zur Gottesmutter geworden war, wie könnten wir ihr diesen Gruß versagen, nachdem sie Gottesmutter geworden und als Königin des Himmels über die ganze Schöpfung erhoben ist? Machen wir uns daher den Gruß des Erzengels Gabriel zu eigen. Wiederholen wir ihn oft, wiederholen wir ihn gern, wie es die Katholiken aller Jahrhunderte vor uns getan haben. Es ist der Wille Gottes, daß wir Maria als die Höhere grüßen und ehren.

Doch der hl. Erzengel geht nun ins Detail und nennt klar, worin die unbefleckte Jungfrau Maria selbst die höchsten Engel übertraf: Erstens übertraf sie die Engel in Bezug auf ihre Gnadenfülle. Deshalb sprach Gabriel:

b) „Voll der Gnade“

Der Erzengel gebrauchte bei seinem Gruß nicht den Namen der allerseligsten Jungfrau, sondern er benennt mit dem durchdringenden Blick des Engels den Wesenskern der Unbefleckten. Nicht als „Maria“ redet er sie an, sondern nennt sie „Gnadenvolle“! Nichts charakterisiert das Wesen Mariens besser als diese Anrede. Und zwar in dreifacher Hinsicht. Denn Maria ist voll der Gnade in Bezug auf ihre Seele.

Diese Seele war vom ersten Augenblick ihres Daseins unbefleckt, d. h. vollkommen unbeschädigt und unangetastet durch irgendeinen Makel oder Schatten der Erbsünde. Das göttliche Gnadenleben, das schon vom ersten Augenblick ihrer unbefleckten Empfängnis im Schoß der hl. Mutter Anna ihre Seele durchdrang, konnte sich in ihr ungehindert entfalten und wachsen. Ihr übernatürliches Seelenleben blieb unbeeinträchtigt von jeder Sünde. Ja, sogar von jedem Fehler, von jeder Unvollkommenheit. Ihr gilt die Anrede des Bräutigams aus dem Hohenlied Salomons: „Du bist ganz schön, meine Freundin, und kein Makel ist an dir.“ (Hld. 4,7).

Ihre Gnadenfülle äußerte sich in ihrer vollkommenen Tugendübung. Maria ist ein Vorbild aller Tugenden. Sie ist ein Muster der Demut: „Siehe, ich bin die Magd des Herrn“, sagt sie. Und an anderer Stelle: „Er hat herabgeschaut auf die Niedrigkeit seiner Magd.“ Auch ist Maria das Urbild der Keuschheit, denn sie will „keinen Mann erkennen“.

Doch die Gnadenfülle Mariens ergoß sich aus ihrer Seele nicht nur auf ihre tugendhaften Handlungen, sondern auch auf ihren Leib, der so rein und so heilig gewesen ist, daß er würdig war, den Sohn Gottes zu empfangen. Hugo von St. Viktor merkt dazu an: „Weil die Liebe des Heiligen Geistes ihr Herz ganz durchglühte, so wirkte sie in ihrem Leibe das Wunder der Menschwerdung des Sohnes Gottes.“

Doch wir haben die Gnadenfülle Mariens noch immer nicht vollständig erfaßt. Der hl. Thomas von Aquin weist uns nämlich darauf hin, daß Maria vom Erzengel auch die „Gnadenvolle“ genannt wird, wegen des Überströmens ihrer Gnade auf alle Menschen. – Unsere heiligen Patrone und Schutzengel vermitteln uns ein gewisses Maß an Gnaden. Maria aber hat uns den Erlöser geboren. In ihrem Schoß entspringt die Quelle der Gnade. Unter dem Kreuz hat sie in Unterordnung unter Christus die Gnaden mitverdient. Und nach ihrer glorreichen Himmelfahrt wurden ihr von Christus alle Schätze der Gnade zur Austeilung überlassen. Deshalb wird Maria völlig zu Recht als „Mittlerin aller Gnaden“ angerufen.

Marias Gnadenfülle ist einzigartig. Obwohl diese Fülle der Gnade um nichts Geringeres als das Maß der Unendlichkeit von der Gnadenfülle Christi entfernt bleibt, so überragt Maria doch alle Engel des Himmels zusammengenommen bei weitem, von uns Menschen ganz zu schweigen. Die Engel sind vergleichbar mit den funkelnden Sternen des Nachthimmels. Doch was ist ihr Leuchten im Vergleich zum strahlenden Licht der Sonne? Maria aber ist die Frau „mit der Sonne umkleidet und den Mond zu ihren Füßen“. Zweitens überragte Maria die Engel aber auch hinsichtlich ihrer Nähe zu Gott. Deshalb fuhr der Erzengel Gabriel fort:

c) „Der Herr ist mit dir“

Diese Worte wollen so viel sagen wie: „Ich erweise dir Ehre, weil du Gott näher stehst als ich.“ Und in der Tat! Selbst für den Engel ist und bleibt Gott lediglich der Schöpfer, der Herr, der Vater. In dieser Beziehung zu Gott steht freilich auch Maria. Doch die allerseligste Jungfrau überragt die Engel, weil sie zu Gott in eine viel nähere Beziehung tritt. Heißt es doch von ihr: „Denn das Heilige, das aus dir geboren werden wird, wird Sohn Gottes genannt werden.“ In wenigen Augenblicken wird Maria durch die schöpferische Allmacht Gottes „des Herrn“ von der Jungfrau zur Gottesmutter gewandelt sein, wie die Hostie durch die Worte der Konsekration zum Leibe Christi. So ist der „Herr“ mit Maria in anderer, viel innigerer Weise als mit den Engeln. Denn mit Maria ist Gott als „Sohn“, mit den Engeln als „Herr“.

Ja, durch ihre Mutterschaft ist Maria als Geschöpf in einer Weise in die vertrauteste Nähe der Gottheit emporgehoben worden, daß sie alle Geschöpfe überhaupt überragt, denn es gibt nichts und niemanden, der Gott näher stünde als sie. Sie ist so eng mit Gott verbunden wie die Mutter mit ihrem Kinde. Deshalb wird Maria zu Recht der „Thron Gottes“ und „Sitz der ewigen Weisheit“ genannt. Durch ihre Würde als Gottesmutter steht sie mit dem dreieinigen Gott in einzigartiger Beziehung. Mit Maria ist der Herr verbunden, wie Er mit keinem seiner Geschöpfe verbunden ist. Gottvater erwählte sie zu Seiner liebsten Tochter, Gott Sohn zu Seiner Mutter, Gott Heiliger Geist zu Seiner Braut. Welcher Engel könnte das von sich behaupten?

Die Worte „Der Herr ist mit dir“ sollen von Maria aber auch als eine Ermutigung aufgefaßt sein. Kein Mensch und kein anderes Geschöpf hatte eine höhere und härtere Lebensaufgabe zu meistern als Maria. Darum wurde ihr vom Erzengel Gabriel gleich in der ersten Stunde die Stärkung auf ihrem einsamen Höhenweg versichert: „Der Herr ist mit dir.“ In Maria sollte das felsenfeste Gottvertrauen gegründet sein, das später der hl. Paulus in die Worte fassen sollte: „Alles vermag ich in dem, der mich stärkt.“ Gott selbst, der Allmächtige, der Unüberwindliche, ist die unüberwindliche Stärke Mariens. Denn Er ist mit ihr.

Das bekennt Gabriel in aller Ehrfurcht mit den Worten: „Der Herr ist mit dir.“ „Du stehst Gott näher als wir. Du stehst Ihm von allem am nächsten. Du wirst von Ihm zu deiner allesüberragenden Aufgabe mehr als jedes andere Geschöpf gestärkt.“

Drittens schließlich überragte die reinste Jungfrau Maria die Engel in ihrer Würde als die von Gott auserwählte Gottesmutter. Diesen Vorzug brachte der Erzengel Gabriel zum Ausdruck, indem er sprach:

d) „Du bist gebenedeit unter den Weibern“

Es mag uns verwundern, wie wir aus diesem Wort heraushören wollen, daß Maria die Engel an Würde übertrifft, besagen doch die Worte lediglich ihre hervorragende Stellung unter dem weiblichen Geschlecht. Die Engel aber sind ungeschlechtliche Wesen. Es gibt unter ihnen weder Männer noch Frauen.

Die Lösung wird uns jedoch klar, wenn wir die Worte des Erzengels auf die Schöpfung beziehen. Im Sprachgebrauch des Alten Testamentes wird das Verhältnis der gesamten Schöpfung zu Gott öfters in dem Bild der Brautschaft gezeichnet. Die Schöpfung ist die Braut. Gott ist der Bräutigam. Während Gott, der Erschaffer und Erzeuger aller Dinge, das männliche Element repräsentiert, steht die Schöpfung insgesamt für das empfangende weibliche Geschlecht. Denn die Schöpfung empfängt alles von Gott: ihr Dasein, ihre Ordnung, ihre Schönheit. Zu dieser Schöpfung zählen auch die Engel. Mit ihren drei Ordnungen und neun Chören stehen sie ja an der Spitze der gesamten Schöpfungsordnung. Als Geschöpfe stehen auch die Engel zu Gott in einem empfangenden – und damit gewissermaßen weiblichen – Verhältnis. „Du bist gebenedeit unter den Weibern“ will demnach also so viel besagen: „Weil du aufgrund deiner Gnadenfülle und deiner Nähe als Muttergottes alles Geschaffene überragst, so kommt dir eine ganz einzigartige Würde in der gesamten Schöpfung zu, welche selbst die Würde der englischen Natur auf die untergeordneten Plätze verweist.“

Selbstverständlich sind die Worte des Erzengels jedoch auch im unmittelbar wörtlichen Sinn zu verstehen: Maria ist gebenedeit unter den Weibern. D. h., sie nimmt unter allen Menschen weiblichen Geschlechts eine herausragende Stellung ein. Ihr kommt verdientermaßen das höchste Lob zu. Bewahrheiten sich doch an Maria wie an keiner anderen die Worte des Völkerapostels: „Nicht wer sich selbst empfiehlt, ist bewährt, sondern wen der Herr empfiehlt.“ (2. Kor. 10,18). Welche Gestalten weiblichen Geschlechts werden nun vom Heiligen Geist in der Heiligen Schrift gelobt?

Zunächst Eva, und zwar selbstverständlich vor dem Sündenfall. Auch ihr gilt das Lob Gottes am Ende des sechsten Schöpfungstages: „Und Gott sah alles, was Er gemacht hatte, und es war sehr gut.“ (Gen. 1,31). Warum wurde Eva ferner gelobt? Weil sie die Stammmutter des menschlichen Geschlechtes, die „Mutter der Lebendigen“, war. – Gelobt wird sodann auch Judith, weil sie mit männlichem Mut den Feind ihres Volkes besiegt und ihm den Kopf abgeschlagen hat. – Auch Esther wird gelobt. Warum? Weil sie das Herz eines mächtigen Königs gewonnen, Königin eines großen Reiches geworden und durch ihre Fürsprache das auserwählte Volk vor dem Untergang bewahrt hat.

Maria aber ist gebenedeit unter den Weibern! Sie ist nicht nur „Mutter der Lebendigen“ im Hinblick auf das irdische Leben wie Eva, sondern Mutter derer, die ewig leben! Sie ist Mutter desjenigen, der die Pforten des Himmels für die Bewohner der Erde wieder geöffnet hat. Eva könnte man mit Recht auch die „Mutter der Sünder“ nennen, der Lebendigen also, die aber sterben werden. Die Gottesmutter aber ist die „Mutter der Gläubigen“, die „in Ewigkeit nicht sterben“ (Joh. 11,26), weil sie „Kinder Gottes“ sind. – Maria hat sodann nicht nur einen Feind überwunden, wie Judith, die dem Holofernes das Haupt abschlug. Nein, Maria hat den Feind des gesamten Menschengeschlechtes schlechthin überwunden, indem sie der alten Schlange mit ihrem unbefleckten Fuß den Kopf zertrat. – Maria ist nicht nur Königin eines irdischen Großreiches geworden, wie Esther. Sie ist die Königin des Himmels geworden. Ihre Fürbitte genießt in den Augen des göttlichen Königs solches Ansehen, solches Wohlgefallen und solche Macht, daß die Zahl derer, die durch sie gerettet worden sind, nicht gezählt werden kann. „Du bist gebenedeit unter den Weibern.“ „Deine Gnadenfülle, deine Nähe zu Gott, deine Würde und Macht im Himmelreich sind absolut einzigartig und über alles andere hinausragend.“ So weit geht der Lobspruch des hl. Erzengels. – Das „Ave Maria“ schließt daran den Lobspruch der hl. Elisabeth an:

e) „Und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes“

Die Früchte eines Menschen sind die Werke, die er hervorbringt. – Verdorbene Früchte, wenn der Mensch in ungeordneter Liebe zu sich selbst den Genuß sucht. So streckte Eva ihre Hand nach der Frucht aus, auch weil sie aus Selbstsucht sein wollte wie Gott. So ist jede Sünde gewissermaßen die schlechte Frucht eines Menschen.

Gute Früchte hingegen sind jene Werke, die der Mensch unter Mitwirkung der göttlichen Gnade hervorbringt. Diese Früchte sind süß, denn sie sind aus Liebe zu Gott getan. Diese Früchte sind haltbar, denn sie verderben nicht bis in alle Ewigkeit. Diese Früchte werden von Gott reich belohnt mit dem ewigen Leben.

Die allerseligste Jungfrau aber hat eine Frucht hervorgebracht, die selbst die Werke der größten Heiligen übertrifft. Sie hatte dem Sohn Gottes aus ihrem reinsten Fleisch und Blut das erhabene Meßgewand einer menschlichen Natur gewoben, mit dem Er das größte aller Liebeswerke verrichten konnte, nämlich die Erlösung des Menschengeschlechtes durch Sein Kreuzesopfer, wodurch Gott die höchstmögliche Verherrlichung zuteil wurde und den Engeln die größte Freude bereitet und den Menschen die größte Barmherzigkeit erwiesen wurde.

Durch die Bande des Blutes ist Maria nicht vom Sohne Gottes zu trennen. Sie ist mit Ihm vereint im Leben, vereint im Schmerz. Sie stand an Seiner Seite, als Er sterbend Sein Opfer am Kreuz vollendete. Sie steht am nächsten am himmlischen Thron. „Gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus.“

Eva verlangte in ihrer Frucht u. a. zwei Güter. Erstens: die Gottähnlichkeit. Sie wurde aber durch den Gehorsam, welchen sie der Schlange leistete, Gott nicht ähnlich, sondern so unähnlich, daß sie aus dem Paradies vertrieben wurde. Maria dagegen und alle Christen, welche Jesus, die Frucht ihres Leibes, gefunden haben, werden durch dessen Genuß Gott verähnlicht. Sie werden zu Kindern Gottes und Erben des Himmelreiches. Und zweitens: Eva verlangte in ihrer Frucht nach der Lust des Genusses. Die Frucht erschien ihr gut und begehrenswert: eine Lust und ein Genuß zum Essen. Aber sie fand darin nicht, was sie suchte, sondern erkannte ihre empfindliche Nacktheit, die Bitterkeit des Schmerzes und das dahinsterbende Schwinden ihrer Lebenskräfte bis zum Tod. – An der Frucht der Gottesmutter hingegen finden alle, die sie genießen, geistige Süßigkeit, Sättigung des Geistes, Stärkung des Willens und das ewige Heil. „Wer Mein Fleisch ißt und Mein Blut trinkt, der hat das ewige Leben.“ (Joh. 6).

Der hl. Thomas sagt: „Eva konnte also in ihrer Frucht ebenso wenig finden, was sie suchte, als ein Sünder in seinen Sünden. Darum müssen wir das, was wir begehren, in der Frucht der Jungfrau suchen. Denn diese Frucht ist gesegnet von Gott, weil Er sie so mit jeglicher Gnade erfüllt hat, daß sie, wenn wir sie nur treu verehren, auch uns zuteil wird.“ Das aber geschieht, wenn wir mit der hl. Elisabeth sprechen: „Gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus.“

Das Bittgebet

Nachdem wir in den Worten des hl. Erzengels Gabriel und der hl. Elisabeth das Lob der allerseligsten Jungfrau und Gottesmutter nachgesprochen haben, fügen wir ein Bittgebet an, welches die Kirche hinzugesetzt hat und das durch den Gebrauch vieler Jahrhunderte geheiligt ist.

a) „Heilige Maria“

Das Bittgebet beginnt mit der Anrede „Heilige Maria“. Der Name „Maria“ kann mit der Bedeutung „Meerstern“ übersetzt werden. Das ist ein schöner Vergleich! Der Stern ist hoch über uns am Firmament des Himmels, wir sind auf Erden. Der Stern leuchtet und wir stehen in der finsteren Nacht dieser Weltzeit. Der Fixstern am Himmel ist unbeweglich, deshalb gibt er sichere Orientierung. Die Welt um uns und wir Menschen selbst sind unbeständig und fortwährend in Bewegung. Wie schön paßt der Vergleich zu Maria, die durch den Glanz ihrer Glorie und Herrlichkeit fest gegründet ist am ewigen Thron der Majestät Gottes und uns die oft finsteren Pfade unseres Lebens erleuchtet. Maria ist der Stern und unsere Erde und unser Leben sind dem Meer mit seinen Wegen und Wellen, mit seinen Flauten und Stürmen vergleichbar. Maria zeigt uns dabei den Weg der Demut, des Gehorsams, der Keuschheit, der Geduld. Sie zeigt uns den Weg, der zum Hafen der ewigen Seligkeit führt. Dann fahren wir fort:

b) „Muttergottes, bitte für uns Sünder“

Sie, die über alle Engelchöre erhobene Gottesmutter, soll für uns Sünder bitten. Denn wer bedarf der Fürbitte mehr als die Sünder? Wer ist mehr dazu berufen, für die Sünder zu bitten, als die Sündenlose, die Unbefleckte? Und wessen Bitte fände bei Gott eher Gehör als die Bitte aus dem Herzen Seiner Mutter? Was wird sie uns versagen können, wenn wir sie unter dem Namen anrufen, der ihr die höchste Ehre zuerkennt: „Muttergottes“? Was wird die Mutter des allgütigen und allbarmherzigen Gottes den elenden Kindern Evas versagen, wenn wir zu ihr rufen: „Bitte für uns Sünder.“

c) „Jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.“

Wann soll sie für uns bitten? Jetzt! In jeder Not, in jeder Gefahr, in jeder Versuchung, in jedem Leid. Jetzt, während wir hier auf Erden leben und solange wir hier leben; jetzt, aber besonders „in der Stunde unseres Todes“. D. h. in jener Stunde, wo wir selbst am schwächsten sein werden; in jener Stunde, wo die Hölle ihre letzten Anstrengungen macht; in jener Stunde, die über unsere Ewigkeit entscheidet.

Jedes „Ave Maria“, das wir beten, wirkt doppelt. Einmal „jetzt“ in dem aktuellen Anliegen, in dem wir es beten. Und dann noch einmal „in der Stunde unseres Todes“.

Ja, immer dann soll Maria für uns eintreten! Sie, die Heilige, für die Sünder; die Gnadenvolle, für die, welche der Gnade Gottes entbehren; die Muttergottes für die Kinder Evas; die Mächtigste für die Ohnmächtigen.

„Ave Maria“

Das alles ist ausgesagt, wenn wir nur ein einziges „Ave Maria“ beten! Welch ein großes Lob wird damit der Gottesmutter zuteil! – Wie uns die eingangs erwähnte Begebenheit des Franziskanernovizen Ludwig von Albanien belehrt hat, ist jedes andächtig gebetete „Ave Maria“ gleichsam eine geistige Rose, die wir der Gottesmutter schenken.

Der hl. Dominikus hatte erst dann Erfolg mit der Predigt des Evangeliums und der Bekehrung der Irrgläubigen, als er das „Ave Maria“ zum Rosenkranz geflochten und so seiner Predigttätigkeit den Beistand der Gottesmutter verschafft hatte.

Eines der großen systematischen Werke des hl. Thomas von Aquin trägt den Titel „Summa contra gentes“ – „Summe gegen die Heiden“. Die Handschrift, die der engelgleiche Lehrer selbst niederschrieb, ist noch vorhanden. Daran findet sich etwas Auffälliges. Am Rand und auch sonst stehen oft mitten im Satz die Worte „Ave Maria“. Mitten in seinen Gedanken, in den schwierigen theologischen Fragen, die er erörterte, an den Stellen, wo er selber vielleicht nicht mehr weiter wußte, richtete der große Kirchenlehrer Herz und Geist empor zu Maria und grüßte sie jedes Mal: „Ave Maria“. Und gewiß wird ihn die Gottesmutter dafür mit so mancher Erleuchtung in einer verwickelten Frage der Philosophie oder der Theologie belohnt haben.

Dürfte man also nicht auch erwarten, daß Maria auch unserem Denken und Reden, unserem Tun und Lassen mit ihrer gnadenhaften Hilfe beispringen wird, wenn wir das „Ave Maria“ gerne beten? Dürfen Eltern nicht annehmen, mit ihren Ermahnungen segensvoller auf ihre Kinder einwirken zu können, wenn sie sich mit dem Rosenkranzgebet an Maria wenden? Das Rosenkranzgebet kann Wunder der Gnade bewirken! Jeder, der es andächtig verrichtet, wird gut bleiben und besser werden. Jeder, der es andächtig verrichtet, wird Gutes wirken und in der Liebe wachsen.

Nachdem wir also die Blütenblätter des „Ave Maria“ einzeln entfaltet und den tiefsinnigen Duft seiner Worte in uns aufgenommen haben, wollen wir uns ereifern, in diesem Monat viele solcher Rosen zu sammeln und sie der Gottesmutter täglich in Form eines Kranzes geistiger Rosen zu überreichen. Dann werden wir gewiß auch seine heilbringende Wirkung an uns selbst und an anderen erfahren dürfen. Denn der Rosenkranz ist unendlich! Er beinhaltet das höchste Marienlob. Seinen Ursprung hat er im unendlichen Gott. Unermeßlich ist deshalb seine Erhabenheit, unerschöpflich sein Nutzen. Verrichten wir ihn mit großer Andacht. Setzen wir darauf unser größtes Vertrauen und wir werden mit Gewißheit reichen Segen ernten. Amen.

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